Tsunamisteintafel
Tsunamisteintafeln (jap. 大津浪記念碑, Ōtsunami kinenhi) sind die als „Tsunamisteine“ bekannten, oft tafelartig bearbeiteten und beschrifteten Stelen in küstennahen Gebieten Japans, die das Ausmaß der Überflutung durch vorangegangene Tsunami-Katastrophen anzeigen.[1][2]
Geschichte und Funktion
Einige der über die japanische Küste verteilten Tsunamisteintafeln weisen ein Alter von 600 Jahren oder älter auf.[3][4][1] In Nordjapan stehen hunderte dieser Steine.[3][4]
Die beschrifteten Steine dienen nicht nur der Erinnerung an die verlorenen Menschenleben, sondern mahnen auch zukünftige Generationen dazu, höheres Terrain aufzusuchen. Man kann die Tsunamisteine als in die Landschaft eingebettete Tsunamigefährdungs- oder Überflutungskarte auffassen, die als Werkzeug der Erinnerung für Informationen dienen, die sonst in Vergessenheit geraten würden. Ähnlich Hochwassermarken am Strand zeichnen sie eine dynamische Geschichte auf.[1]
Untersuchungen zufolge besitzen die Tsunami-Steintafeln, die an den Meiji-Sanriku-Tsunami (1896) erinnern, eine starke Bedeutung im Rahmen religiöser Gedenkfeiern. Viele dieser Denkmäler wurden vor dem sechsten, zwölften und zweiunddreißigsten Jahrestag der Katastrophe errichtet, für die die Abhaltung eines buddhistischen Jahrestages vorgesehen war.[2]
Die Tsunami-Steintafeln, die an den Shōwa-Sanriku-Tsunami (1933) erinnern, wurden im Gegensatz dazu größtenteils unmittelbar nach der Katastrophe – innerhalb von drei Jahren – errichtet. Die japanische Tageszeitung Asahi Shimbun hatte zu Spenden aufgerufen und die Erlöse an die drei Präfekturen Aomori, Iwate und Miyagi für die Herstellung von Tsunami-Steintafeln mit der Forderung weitergegeben, dass die Steintafeln mit Inschriften versehen werden, die die Bewohner im Falle eines Tsunamis in ihrem Gebiet zur zügigen Flucht veranlassen. Als Ursache dieser Maßnahme wird angesehen, dass Seismologen zu diesem Zeitpunkt bereits den erzieherischen Wert der Tsunami-Steintafeln für den Katastrophenschutz erkannt hatten. Zudem wird vermutet, dass das genau 10 Jahre vor dem Shōwa-Sanriku-Tsunami stattgefundene Große Kantō-Erdbeben, das 1923 die Hauptstadt Tokio verwüstet hatte, das Bewusstsein der Öffentlichkeit für die Notwendigkeit der Katastrophenvorsorge geschärft hatte.[2]
Der Volkskundler Shuichi Kawashima (川島秀一), der lange das Gebiet der Pazifikküste der Tōhoku-Region studiert hat, teilte die Denkmäler in ihrer Funktion in zwei Gruppen ein:[2]
- Tsunami-Steintafeln, die „die Seelen zur Ruhe bringen“. Die meisten Tsunami-Steintafeln dieser Art sind nach dem Meiji-Sanriku-Tsunami als Mittelpunkt für religiöse Gedenkfeiern für die Opfer der (vergangenen) Tsunamikatastrophe erstellt worden.[2]
- Tsunami-Steintafeln als „Gebete für die Sicherheit“. Die meisten Tsunami-Steintafeln dieser Art waren nach dem Shōwa-Sanriku-Tsunami als Mahnung an die Menschen erstellt worden, um für den Fall sich (künftig) ereignender Tsunamis die Sicherheit zu gewährleisten.[2]
Die Steintafeln zum Ruhen der Seelen sollen somit Menschen dienen, die von vergangenen Tsunamis getötet wurden, während die Steintafeln des Gebets für die Sicherheit eine Botschaft an zukünftige Bewohner überliefern. Allerdings fördern auch die Tsunami-Steintafeln für die Toten durch die rekursiv stattfindenden Gedenkfeiern an diesen Stätten die Weitergabe des Wissens um die anhaltende Gefahr der Tsunamikatastrophen, die sich in der Vergangenheit vor Ort wiederholt haben, an künftige Generationen.[2]
Die beiden Arten von Tsunami-Steintafeln spiegeln wider, dass sich ihre Funktion im Laufe der Geschichte in der pazifischen Küstenregion Tōhokus gewandelt hat. Der Zweck oder die erwartete Wirkung dieser Steintafeln ist aus den Inschriften erkennbar. Diese Inschriften haben sich von religiösen Sutras zu detaillierten Berichten über die Katastrophe und schließlich zu einfachen Botschaften mit Anweisungen gewandelt. Dieser Wandel hängt möglicherweise mit der Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Gefahren von Naturgewalten wie Erdbeben und Tsunamis zusammen.[2]
Die Tsunami-Steintafeln sind wie andere Tsunami-Mahnmale in vielen Gebieten entlang der Sanriku-Küste zu finden, von denen manche vom Tōhoku-Tsunami (2011) zerstört wurden wie in Minamisanriku.[8] Das Dorf Aneyoshi in Miyako wurde hingegen dafür bekannt, dass der Tsunami von 2011 kurz vor dem Tsunamisteinmahnmal stoppte.[4][9][10][6][7] Die Regierung der Präfektur Iwate hatte die Aufstellung von Tsunami-Steintafeln auf den Höhenlagen der Überflutungen durch den Shōwa-Sanriku-Tsunami von 1933 angewiesen. Trotz der gezielten Aufstellung der Tsunami-Steintafeln war das Wissen in der Bevölkerung über die Existenz der Steintafeln und den Inhalt ihrer Botschaft schrittweise über die Zeit in Vergessenheit geraten, mit einigen Ausnahmen wie der Tsunami-Steintafel in Aneyoshi. Auf der Tsunami-Steintafel in Aneyoshi steht eine dem damaligen Stand der Seismologie geschuldete Inschrift, laut der es glückliches und sicheres Leben auf höherem Terrain gebe. Sie fordert auf, sich an den verheerenden Tsunami zu erinnern und niemals ein Haus unterhalb der Tsunami-Steintafel zu bauen. Sie erinnert daran, dass sowohl der Meiji-Sanriku-Tsunami als auch der Shōwa-Sanriku-Tsunami bis zur Höhenposition der Tsunami-Steintafel herangereicht und das Dorf – in dem es nur zwei Überlebende gegeben habe – vollständig zerstört hätten. Nach der Errichtung der Steintafel nach dem Shōwa-Sanriku-Tsunami hatten die Einwohner niemals ein Haus unterhalb der Höhe erbaut, worauf es im Dorf beim Tōhoku-Tsunami 2011 keine Toten oder Verletzten gegeben hatte.[2]
Die National General Association for Stone Shops (Zenyuseki) hat damit begonnen, über 500 Steindenkmäler zu errichten, die den alten Steintafeln ähneln und mit Aufschriften von Katastrophen und Erziehungsbotschaften für zukünftige Generationen versehen sind.[2]
Einzelnachweise
- Catherine Seavitt Nordenson, Guy Nordenson, Julia Chapman: Mapping Coastal Futures. In: Structures of Coastal Resilience. Island Press, Washington u. a. 2018, Chapter 4, S. 123–166, doi:10.1596/978-1-4648-0153-2 (Werk online zugreifbar auf Google Books).
- Isao Hayashi: Materializing Memories of Disasters: Individual Experiences in Conflict Concerning Disaster Remains in the Affected Regions of the Great East Japan Earthquake and Tsunami. In: Bulletin of the National Museum of Ethnology [国立民族学博物館研究報告]. Band 41, Nr. 4, 30. März 2017, S. 337–391, doi:10.15021/00008472.
- Mahnung der Vorfahren: Wegsteine in Nordjapan warnten vor Tsunamis. 12. April 2011, abgerufen am 15. Mai 2011.
- Tsunami Warnings, Written in Stone (Memento vom 20. Mai 2018 auf WebCite), nytimes.com, 20. April 2011, von Martin Fackler.
- White Paper - Disaster Management in Japan 2015 (PDF, ca. 222 S.), http://www.bousai.go.jp/ (Cabinet Office, Japan / 内閣府), Disaster Management in Japan, 2015, hier: Seite 68.
- Director General for Disaster management, Cabinet Office, Government of Japan: Index, http://www.bousai.go.jp/ (Cabinet Office Japan / 内閣府), Disaster Management in Japan: 日本の災害対策 Disaster Management in Japan - Mar. 2015 (PDF, 49 S.), Cabinet Office Japan (内閣府), März 2015, hier: Seite 41, Abb. "岩手県宮古市姉吉地区の石碑写真提供:宮古市教育委員会 - Tsunami warning stone tablet in Aneyoshi, Miyako city, Miyagi Prefecture", Zugriff über Internetseite: "White paper on Disaster Management".
- 平成27年版 防災白書, Cabinet Office, Government of Japan (内閣府), 防災情報のページ. Text: 平成27年版 防災白書 【本文 目次】, hier: 平成27年版 防災白書|第1部 第1章 第1節 1-5 災害教訓の伝承, 平成27年版 防災白書|大津波記念碑(岩手県宮古市重茂姉吉地区). Abbildungen: 平成27年版 防災白書 【図表 目次】.
- Anawat Suppasri, Nobuo Shuto, Fumihiko Imamura, Shunichi Koshimura, Erick Mas, Ahmet Cevdet Yalciner: Lessons Learned from the 2011 Great East Japan Tsunami: Performance of Tsunami Countermeasures, Coastal Buildings, and Tsunami Evacuation in Japan. In: Pure and Applied Geophysics. Band 170, Nr. 6-8, 2013, S. 993–1018, doi:10.1007/s00024-012-0511-7. (Online veröffentlicht am 7. Juli 2012).
- Maki Norio: Long-Term Recovery from the 2011 Great East Japan Earthquake and Tsunami Disaster. In: V. Santiago-Fandiño, Y.A. Kontar, Y. Kaneda (Hrsg.): Post-Tsunami Hazard - Reconstruction and Restoration (= Advances in Natural and Technological Hazards Research (NTHR, volume 44)). Springer, 2015, ISBN 978-3-319-10201-6, ISSN 1878-9897, Kap. 1, S. 1–13, doi:10.1007/978-3-319-10202-3. (Online veröffentlicht am 23. September 2014).
- Masaru Arakida, Mikio Ishiwatari: Evacuation. In: Federica Ranghieri, Mikio Ishiwatari (Hrsg.): Learning from Megadisasters - Lessons from the Great East Japan Earthquake. World Bank Publications, Washington, DC 2014, ISBN 978-1-4648-0153-2, Chapter 11, S. 99–108, doi:10.1596/978-1-4648-0153-2 (Werk online zugreifbar auf Google Books [abgerufen am 3. April 2018])., Lizenz: Creative Commons Attribution CC BY 3.0 IGO.