Tribalismus
Tribalismus (Stammestum, englisch tribalism) bezeichnet eine Sichtweise der (gesamten) Gesellschaft als eine Menge kleinerer Gemeinschaften, der Stämme. Die traditionelle Definition besagt, dass sich Stämme durch eine ethnisch homogene Bevölkerung, eine einheitliche Kultur, ein gemeinsam bewohntes Land, aber vor allem durch klare Abgrenzung ihrer Identität gegenüber anderen Stämmen definieren (Ethnogenese). Aus diesen Gründen werden Stämme bei der Bildung von Nationalstaaten vielfach als hinderlich erachtet.
Die Begriffe Tribalismus und Stamm sind durch die Kolonialzeit als Charakterisierung „primitiver“ Gesellschaften vorbelastet und werden heutzutage in der Ethnologie nicht mehr verwendet. Allerdings ist diese klassische Definition in einigen Punkten mindestens zweifelhaft.
Entscheidend für den Tribalismus ist das dahinter stehende Weltbild und die gesellschaftliche Struktur der Stammesgesellschaften. Nach Vine Deloria ist Tribalismus eine Art Gefühlszustand des „nicht alleine gelassen seins“, bei dem sich das Individuum sicher und aufgehoben fühlt. Nach Ferdinand Tönnies zeichnet sich eine Gruppe im Sinne einer Gemeinschaft im Gegensatz zur Gesellschaft durch Vertrautheit, gemeinsame Interessen und Ziele, Wertvorstellungen und Rituale aus. Tribalismus ist also als eine Form des Lebens in Gemeinschaften zu betrachten.
Entwicklung und Organisation
Tribalismus ist eine sehr flexible Organisationsform, die durch dynamische Prozesse und Anpassungsfähigkeit gekennzeichnet ist. Dadurch hilft sie dem Menschen zu überleben, was er als Individuum alleine nicht kann. Stammesgesellschaften sind egalitäre Gesellschaften, bei denen die Mitglieder zeitlich begrenzte Aufgaben übernehmen. Die Basis tribaler Gesellschaften sind verschiedene Gruppen, deren Mitglieder untereinander eng verbunden sind (bei den Lakota das tiospaye, was so viel wie „die zusammen leben“ bedeutet). Mehrere dieser „Großfamilien“ bilden eine locker organisierte Gemeinschaft, die im Englischen als band bezeichnet werden. Diese Banden wiederum bilden gemeinsam den Stamm oder das Volk. Diese Gemeinschaften sind nicht ausschließlich über Blutsbande verbunden, sondern adoptieren auch neue Mitglieder.
Der Tribalismus verzichtet weitgehend auf Herrschaftsstrukturen und übergeordnete Organisationen. Tribalismus ist eher als ein komplexes Netzwerk zwischen den verschiedenen Gruppen und ihren Individuen anzusehen, bei denen alle anfallenden Aufgaben jeweils denen zugeteilt werden, die nach allgemeiner Ansicht dafür am geeignetsten sind. Es gibt daher auch keine Schichten, Klassen oder Berufsstände. Kennzeichnend für den Tribalismus sind gemeinsame Wertvorstellungen und das Gemeineigentum. Alle für die Existenz des Volkes notwendigen Güter (traditionell Land, Wasser, Wild etc.) sind Gemeineigentum, alles andere ist Privateigentum. Karl Marx bezeichnete dies als Urkommunismus.
Nun ist ein Stammesmitglied aber nicht automatisch der perfekte Mensch. Um einen Ausgleich zum auch hier vorhandenen Egoismus zu schaffen, existiert ein komplexes Regelwerk von Moralvorstellungen und Regeln, die ein Zusammenleben möglich machen. Streitigkeiten werden auf der untersten Ebene geregelt, nur bei größeren Konflikten werden Versammlungen einberufen. Das Individuum ist dabei sehr frei in seinen Entscheidungen, es sei denn, es schadet mit seinen Handlungen der Gemeinschaft. Der durchaus vorherrschende Altruismus ist dabei als eine Art allgemeine Sozialversicherung zu sehen, um sich in schlechten Zeiten auf die anderen verlassen zu können. Auch die Sitten des Schenkens und der Gastfreundschaft sind also nicht ganz uneigennützig. Ebenso ist das soziale Ansehen häufig an Leistungen für die Gemeinschaft gekoppelt.
Müssen Entscheidungen getroffen werden, die die Gemeinschaft berühren, geschieht dies auf Basis eines zu findenden Konsens. Mehrheitsentscheidungen, die einen Teil der Gruppe benachteiligen, werden wegen der Möglichkeit der Spaltung der Gruppe möglichst vermieden. Auf der anderen Seite sind beispielsweise aus der Geschichte der Indianerkriege Fälle bekannt, bei denen sich alte Gruppen auflösten und neue bildeten. Diese dynamische Eigenschaft macht es sehr problematisch, eine soziale Struktur als tribalistisch (oder eben nicht) einzuordnen.
Tribalismus heute
Tribalismus und auch Ethnozentrismus sind ursprüngliche Bindeglieder der Gesellschaft, also Zugehörigkeitsmerkmale zu einer Gruppe, wobei der Tribalismus im Gegensatz zum Ethnozentrismus offen ist, also integrativ wirkt. Die grundsätzlich tribalistische Neigung des Menschen findet sich in modernen Gesellschaften in Form von Clubs, Fans, Vereinen etc. und auch Gesellschaften und kommerziellen Unternehmungen.
Außer in Europa existieren in allen Kontinenten noch tribale Gesellschaften. So sind beispielsweise in den USA indianische Stämme als eigenständige Nationen anerkannt, die lediglich dem Bundesrecht unterliegen.
Das Konzept des „Neotribalismus“ ist unter Anhängern der Goatrancebewegung populär und lässt sich auch auf andere moderne Subkulturen übertragen.
Afrika
So bezeichneten Weiße etwa in Anlehnung an die historisierende Bezeichnung "germanische Stämme" Organisationsformen in Afrika pauschal als "Stämme". Damit wurden Gesellschaften in Afrika, wenn überhaupt, als höchstens mit einer früheren Epoche europäischer Geschichte vergleichbar gemacht.
Zudem negierten sie die Diversität von Gesellschaften in Afrika. Die Ogoni, die heute ca. 800.000 Menschen zählen, haben wenig mit der islamisch geprägten Hausa-Gesellschaft gemeinsam, die bis zur Gründung von Nigeria monarchisch geprägt war und heute (über Landesgrenzen hinweg) mehr als 50 Millionen Menschen umfasst.
Außerdem wird durch das Operieren mit dem Begriff "Stamm" so getan, als ließen sich klare geographische und kulturelle Grenzen zwischen einzelnen afrikanischen Gesellschaften ziehen. Schließlich wird durch den Begriff eine wertende Gegenüberstellung zwischen "natürlich" wachsenden "Stämmen" und dem auf einem politischen Vertrag basierenden "Staat" als höherer Stufe der menschlichen Evolution impliziert. Dabei wird negiert, dass sich auch nicht-staatlich organisierte Gesellschaften auf komplexe politische Strukturen gründen.
Die von den europäischen Kolonialmächten ohne Rücksicht auf ethnische Einheiten gezogenen Grenzen und die in unterschiedlichem Maße „modernisierte“ Geisteshaltung innerhalb der einzelnen Völker und Gesellschaften sind die Hauptursachen des Tribalismus, der den Zusammenhalt einheitlicher Staatsnationen erschwert.
Tribalismus ist nicht mit dem Verharren auf Traditionen zu verwechseln.
Neuer Tribalismus
Anthropologen wie Richard Schutze oder Marshall Sahlins haben Studien veröffentlicht, die das Stammesleben als ein einfaches und sicheres Leben beschreiben.
Die Philosophen John Zerzan und vor allem Daniel Quinn führten zum „neuen Tribalismus“ und der „neuen tribalistischen Revolution“. Die neuen Tribalisten verwenden das Wort Tribalismus im Sinne des tribalen Lebens: Eine offene, egalitäre und kooperative Gemeinschaft, die sich von der kommunistischen Utopie in erster Linie durch ihre signifikant kleinere Größe der Lebensgemeinschaften unterscheidet. Neue Tribalisten betrachten ihr „Utopia“ als den natürlichen Lebenszustand des Menschen, der seit Jahrzehntausenden bewährt ist. Auch scheuen Neue Tribalisten vor dem Wort Utopia zurück: Der Tribalismus ist für sie nicht die ideale Lebensform, aber die beste erreichbare.
In Deutschland wird der neue Tribalismus auch als Kommunitarismus bezeichnet. Siehe auch die relativ neue Gemeinschaftsforschung.
Politischer Tribalismus
Im angelsächsischen Sprachraum werden gegenwärtige politische oder allgemein gesellschaftliche Differenzen und Spaltungen als Tribalismus beschrieben, so von Autoren wie Andrew Sullivan und Ezra Klein. Die „Stämme“, z. B. die „Ostküstenelite“ und das „Rust Belt-Proletariat“ grenzen sich als Milieu und Lager voneinander ab und gelangen nicht zu (nationalen) Kompromissen.
Siehe auch
Literatur
- Mamadou Adama Sow: Ethnozentrismus als Katalysator bestehender Konflikte in Afrika südlich der Sahara, am Beispiel der Unruhen in Côte d'Ivoire (PDF, 57 Seiten, 523 KB) auf: European University Center for Peace Studies (EPU), Stadtschleining 2005.
Weblinks
- Gemeinschaftsforschung der Uni Münster