Träges Wissen
Träges Wissen ist ein Begriff aus der Kognitions- und der Lernpsychologie. Er bezeichnet theoretisch vorhandenes Wissen, das in der Praxis jedoch nicht angewendet werden kann. Träges Wissen ist zwar abstrakt verstanden worden, kann jedoch nicht auf neue Situationen übertragen und nicht konstruktiv (z. B. zu einer Problemlösung) eingesetzt werden. Es besteht eine Kluft zwischen Wissen und Handeln.[1] Ein bekanntes Beispiel ist die mangelnde Fähigkeit, Vokabular einer Fremdsprache, das für die Abfrage im Unterricht erlernt wurde, in der konkreten Kommunikationssituation abzurufen.
Erstmals beschrieben wurde träges Wissen (engl. inert knowledge) 1929 durch Alfred North Whitehead[2]:
„[T]heoretical ideas should always find important applications within the pupil’s curriculum. This is not an easy doctrine to apply, but a very hard one. It contains within itself the problem of keeping knowledge alive, of preventing it from becoming inert, which is the central problem of all education“
Erklärungsvarianten
Zu diesem Phänomen bietet Renkl drei Erklärungsvarianten[3]
- Metaprozesserklärung: Das Wissen ist zwar verfügbar, wird jedoch nicht angewendet, weil die Metakognition (Wissen über das eigene Wissen und über die eigenen Denkprozesse) nicht ausreichend funktioniert.
- Strukturdefiziterklärung: Das vorhandene Wissen ist nicht strukturiert genug und daher nicht abrufbar genug, um angewendet werden zu können (siehe auch Wissensrepräsentation).
- Situiertheitserklärung: Wissen sei grundsätzlich "situiert" (kontextgebunden), was schon deshalb die Übertragung auf neue Situationen schwierig mache.
Viele Indizien legen eine vierte Erklärung nahe: Aus Gründen der Zeitersparnis und der Messgenauigkeit wird oft Wissen, nicht Kompetenz geprüft. Dies begünstigt das "Pauken" von Wissen, das man zudem gerne nach der Prüfung wieder vergisst, quasi um Platz für das nächste Prüfungswissen zu schaffen. Dafür wurde der etwas unschöne, aber bildstarke Begriff des Bulimie-Lernens[4] geprägt.
Ursachen für träges Wissen
Als eine Hauptursache für Träges Wissen, dessen Auftreten als bekanntes Unterrichtsproblem gilt, wird die sogenannte Nürnberger-Trichter-Methode ausgemacht, deren zentrale Annahmen u. a. sind:
- Lernstoff ist grundsätzlich vermittelbar.
- Der Lehrende weiß, was die Schüler wissen müssen.
- Wissen lässt sich mit Hilfe von Sprache vermitteln.
- Die Lernenden haben die Aufgabe, sich das Wissen durch Abspeicherung im Gedächtnis anzueignen.
- Dabei wird der Lernprozess umso erfolgreicher, je mehr Lernstoff vermittelt wird.[5]
Vermeidung trägen Wissens
Auf Grund neuerer Erkenntnisse u. a. der kognitiven Neurowissenschaft sowie der Kognitionspsychologie nimmt man inzwischen an, dass erfolgreiches Lernen anders erfolgen sollte, wenn das Verstehen von Wissen das Ziel ist, und nicht nur das Wissen einer Information allein: „Verstehen heißt, sich eine Interpretation aufzubauen, die in Situationen funktioniert.“[5] Dies stellte die Grundannahme der Nürnberger-Trichter-Methode, Wissen ließe sich durch Sprache direkt vom Lehrer zum Schüler vermitteln, in Frage. Das neue Paradigma lautet, dass Wissen nicht vermittelbar sei. Stattdessen ist es die Aufgabe des Lehrers, dem Schüler dabei zu helfen, selbst Wissen zu konstruieren[5] und zugleich die rezeptive Haltung zu überwinden, die ebenfalls als ursächlich für das Entstehen trägen Wissens angesehen wird.[1] Dies gelingt durch die Gestaltung situierter Lernumgebungen z. B. in Form von Simulationen und Planspielen. Dadurch werden die zu vermittelnden Inhalte mit bestimmten alltäglichen Situationen verknüpft, um so ein anwendungsnahes Wissen zu vermitteln, das sich dann von der Theorie in die Praxis umsetzen lässt:[6]
„Wissen, welches durch learning by doing auf diese Weise vermittelt wird, bleibt somit kein träges Wissen, sondern kann aktiv umgesetzt und an wechselnde Anforderungen angepasst werden.“
Aktuelle Forschung zu trägem Wissen wird v. a. von Heinz Mandl an der Ludwig-Maximilians-Universität München durchgeführt.
Literatur
- Hans Gruber, Heinz Mandl, Alexander Renkl: Was lernen wir in Schule und Hochschule: Träges Wissen? (Forschungsbericht Nr. 101). München: Ludwig-Maximilians-Universität, Lehrstuhl für Empirische Pädagogik und Pädagogische Psychologie, 1999, ISSN 1614-6336
- A. Krapp, B. Weidenmann: Pädagogische Psychologie (Kap. 13, S. 602–646). Beltz, Weinheim 2001, ISBN 3621274731
- Gabi Reinmann, Heinz Mandl (Hrsg.): Psychologie des Wissensmanagements. Perspektiven, Theorien und Methoden. Hogrefe, Göttingen 2004, ISBN 978-3-8017-1815-2
Quellen
- Werner Brandl: Lernen als „konstruktiver“ Prozess: Trugbild oder Wirklichkeit?, in: schulmagazin 5 bis 10, Heft 5/1997 (Aktualisierte Fassung (Memento des Originals vom 18. Februar 2007 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. )
- Alfred North Whitehead: The Aims of Education and Other Essays. New York: The Free Press, 1929.
- Nach: Renkl, Alexander: Träges Wissen: Die "unerklärliche" Kluft zwischen Wissen und Handeln (Forschungsbericht Nr. 41). München: Ludwig-Maximilians-Universität, Lehrstuhl für Empirische Pädagogik und Pädagogische Psychologie, 1994, ISSN 1614-6336:
- Alexandra Aregger: «Ich mache mit Bildung, was andere mit Möbeln machen», Interview mit Christoph Schmitt. Nau, 19. Dezember 2017, abgerufen am 24. Februar 2018.
- Frank Thissen: Das Lernen neu erfinden - konstruktivistische Grundlagen einer Multimedia-Didaktik, in: Uwe Beck / Winfried Sommer (Hrsg.): LEARNTEC 97. Europäischer Kongreß für Bildungstechnologie und betriebliche Bildung. Tagungsband, Karlsruhe 1997, S. 69–79
- Jörg Zumbach: Goal-Based Scenarios, in: Ute Scheffer & Friedrich W. Hesse (Hrsg.): E-Learning: die Revolution des Lernens gewinnbringend einsetzen Stuttgart: Klett-Cotta, 2002. S. 67–82, ISBN 3-608-94332-3