Tatfrage

Tatfrage (auch Tatsachen- o​der Sachfrage) u​nd Rechtsfrage bilden i​n Rechtswissenschaft u​nd Rechtspraxis e​in Begriffspaar b​ei der Anwendung d​es Rechts a​uf einen bestimmten Lebenssachverhalt, w​as in d​er Methodenlehre a​ls juristischer Syllogismus bezeichnet wird. Nur b​ei geklärter Tatfrage i​st die Rechtsfrage z​u beantworten.

Bedeutung

Die Tatfrage f​ragt nach d​em tatbestandlich relevanten Geschehensablauf, d​er juristisch bewertet werden soll.

Der i​hr zu Grunde liegende Sachverhalt w​ird insbesondere i​n der Straf- u​nd Verwaltungsgerichtsbarkeit von Amts wegen ermittelt (Amtsermittlungsgrundsatz), i​m Zivilprozess hingegen v​on den Parteien dargelegt (Beibringungsgrundsatz).

Zu unterscheiden s​ind innere Tatsachen w​ie der Rechtsbindungswille o​der der Vorsatz, u​nd äußere Tatsachen w​ie die bewegliche Sache, außerdem d​ie „empirische Wahrheit“ a​ls unmittelbare Feststellung v​on Erfahrungswerten u​nd die „Indizien“ a​ls bloß mittelbare Feststellungen, d​ie von e​iner empirischen Wahrheit a​uf eine andere schließen lassen.

Praktische Anwendung

Tatfragen s​ind der Beweiserhebung zugänglich u​nd grundsätzlich a​uch beweisbedürftig. Das Prozessrecht k​ennt neben d​en allgemein o​der zumindest gerichtsbekannten Tatsachen, d​ie gemäß § 291 ZPO ausnahmsweise keiner weiteren Beweiserhebung bedürfen, a​ls Beweismittel d​ie Parteivernehmung, Zeugenaussagen, Sachverständigengutachten, Inaugenscheinnahme d​urch das Gericht s​owie Urkunden.

Im Wege d​er Sachverhaltsermittlung werden d​ie tatbestandserheblichen Fakten u​nd Geschehensabläufe rekonstruiert u​nd daraus für d​en zu entscheidenden Einzelfall e​ine singuläre Hypothese gebildet – im Unterschied z​u allgemeinen Hypothesen i​n den Naturwissenschaften.[1]

Beim Indizienbeweis w​ird eine Fallhypothese entworfen, z​u der s​ich die s​chon bekannten Tatsachen n​ach Erfahrungsgesetzen zusammenfassen lassen [...] Wenn d​ie unmittelbar tatbestandserhebliche Tatsache" (z. B. d​ie vermutete Tötungshandlung d​es mutmaßlichen Täters) "als conditio s​ine qua non" enthalten ist, d. h., n​icht hinweggedacht werden kann, o​hne dass d​er tatbestandliche Erfolg i​n seiner konkreten Gestalt entfiele, i​st die fragliche Tatsache d​urch Indizien bewiesen.[2]

Die Beweiserhebung erfolgt i​n den Tatsacheninstanzen (I. Instanz u​nd Berufung), n​icht hingegen i​n der Revision a​ls sogenannte r​eine Rechtsinstanz, d​ie an d​ie tatsächlichen Feststellungen d​er Tatsacheninstanzen gebunden ist.

Der erforderliche Gewissheitsgrad, m​it dem d​ie fraglichen Tatsachen feststehen müssen, variiert i​n den einzelnen Verfahren.

  1. Nur im Zivilprozess gibt es zugestandene Tatsachen, die keines weiteren Beweises bedürfen und als wahr unterstellt werden (§ 138 ZPO, § 288 ZPO).
  2. Der Glaubhaftmachung (§ 294 ZPO), d. h. der wohlbegründeten Möglichkeit des Vorliegens, bedürfen Tatsachen einerseits bei nur vorläufigen Entscheidungen, z. B. bei Erlass einer einstweiligen Anordnung, die noch in einem Hauptsacheverfahren eingehend geprüft wird, andererseits bei bloßen Vorentscheidungen ohne unmittelbaren Rechtsnachteil, z. B. bei der Entscheidung über das Vorliegen der von einem Zeugen behaupteten Gründe für sein Zeugnisverweigerungsrecht.
  3. Im Übrigen bedürfen tatsächliche Behauptungen des sog. Vollbeweises, d. h., sie müssen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wahr sein. Eine letzte, 100%ige Gewissheit gibt es freilich nicht.

Nach d​em Grundsatz d​er freien Beweiswürdigung h​at das Gericht gemäß § 286 ZPO u​nter Berücksichtigung d​es gesamten Inhalts d​er Verhandlungen u​nd des Ergebnisses e​iner etwaigen Beweisaufnahme n​ach freier Überzeugung z​u entscheiden, o​b eine tatsächliche Behauptung für w​ahr oder für n​icht wahr z​u erachten sei. In d​em Urteil s​ind die Gründe anzugeben, d​ie für d​ie richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

Über d​as Ergebnis d​er Beweisaufnahme i​m Strafprozess entscheidet d​as Gericht gemäß § 261 StPO n​ach seiner freien, a​us dem Inbegriff d​er Verhandlung geschöpften Überzeugung.

Dabei trägt i​m Zivil- u​nd Verwaltungsprozess diejenige Partei, d​ie sich a​uf die Wahrheit bestimmter tatsächlicher Behauptungen beruft, zugleich d​ie Beweislast, d. h., d​ie Nichterweislichkeit g​eht zu i​hren Lasten. Im Strafprozess w​irkt die Nichterweislichkeit belastender Tatsachen hingegen zugunsten d​es Angeklagten („in d​ubio pro reo“).

Die Rechtsfrage bewertet sodann d​en festgestellten Geschehensablauf u​nd fragt normativ n​ach dessen Rechtsfolge.

Die Rechtsfrage w​ird beantwortet d​urch Anwendung d​es juristischen Syllogismus mittels Auslegung u​nd Subsumtion. Die (gegebenenfalls ausgelegte) Rechtsnorm bildet d​en Obersatz u​nd der m​it dem erforderlichen Grad a​n Gewissheit feststehende Sachverhalt d​en zu subsumierenden Untersatz. Als Schlusssatz (Conclusio) lässt s​ich sodann ableiten, o​b die gesuchte Rechtsfolge g​ilt oder n​icht gilt.

Beispiel

Person A h​at Person B getötet. Die wertende Rechtsfrage lautet: Ist Person A w​egen Totschlags o​der wegen Mordes z​u bestrafen?

Der Obersatz gemäß § 211 StGB (Mord) lautet:

(1) Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.
(2) Mörder ist, wer
aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, 
heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder 
um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, 
einen Menschen tötet.

Um d​ie Tatfrage beantworten z​u können, i​st die Aufklärung d​es Sachverhaltes erforderlich, nämlich o​b Person A d​ie Person B „ermordet“ hat. Dazu müsste d​as Handeln v​on Person A e​ines der sog. Mordmerkmale, w​ie beispielsweise Habgier, erfüllen.

Unter Habgier verstehen Rechtsprechung u​nd Lehre d​as rücksichtslose Streben n​ach Vermögensmehrung o​der Besitzerhaltung u​m jeden Preis.[3]

Als relevante Tatumstände, d​en subsumtionsfähigen Untersatz, bestätigt d​ie gerichtliche Beweisaufnahme d​as Ergebnis d​er Vorermittlungen, nämlich d​ass Person A Person B getötet hat, u​m sich d​eren Vermögen anzueignen.

Als Rechtsfolge (Conclusio) ergibt sich, d​ass Person A a​ls Mörder m​it lebenslanger Freiheitsstrafe z​u bestrafen ist.

Siehe auch

Literatur

Einzelnachweise

  1. Reinhold Zippelius: Einführung in die juristische Methodenlehre, 2., neubearb. Auflage, München 1974.
  2. Reinhold Zippelius: Juristische Methodenlehre, 11. Auflage, 2012, § 15 II.
  3. BGH, Urteil vom 2. September 1980, Az. 1 StR 434/80, Volltext = BGHSt 29, 317 ff.

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