Regulatory capture
Regulatory capture (deutsch etwa: Vereinnahmung einer Regulierungsbehörde) ist eine Form politischer Korruption, die auftritt, wenn Regulierungsbehörden oder politische Entscheidungsträger zweckentfremdet werden, um den kommerziellen, ideologischen, oder politischen Ziele einer kleinen Interessensgruppe (Lobby) Vorschub zu leisten bzw. diese gegenüber dem Allgemeinwohl zu priorisieren.[1][2] Regulatory capture stellt eine Form von Staatsversagen dar. Betroffene Behörden werden auch als „vereinnahmte Behörden“ (engl. captured) bezeichnet.
Theorie
In der Ökonomischen Theorie der Politik passiert Vereinnahmung einer Regulierungsbehörde, weil von Gruppen oder Individuen mit hohem Interesse in einen vorteilhaftem Ausgang bestimmter regulierender Entscheidungen und Richtlinien ein größerer Einsatz von Ressourcen und Energien zu erwarten ist, um selbige im eigenen Sinne zu beeinflussen. Die breite Masse, in der jeder Bürger ein wesentlich kleineres individuelles Interesse in den Ausgang hat, wird diese großteils ignorieren.[3] In der Vereinnahmung einer Regulierungsbehörde bezeichnet man das Ausnutzen dieser Unausgeglichenheit durch gezielten Einsatz von Ressourcen als erfolgreiche „Vereinnahmung“ des Personals oder der Kommissionsmitglieder innerhalb der Regulierungsbehörde, so dass die gewünschten Bestimmungen der Interessensgruppe implementiert wurden.
Die Theorie der Vereinnahmung einer Regulierungsbehörde ist der Hauptfokus eines Bereichs der neuen politischen Ökonomie und wird bezeichnet als die Regulation des Marktes; Ökonomen mit Spezialisierung stehen Konzepten der staatlichen regulierenden Intervention im Sinne des Allgemeinwohls kritisch gegenüber. Häufig zitierte Artikel umfassen Bernstein (1955), Huntington (1952), Laffont & Tirole (1991) und Levine & Forrence (1990). Die Theorie der Vereinnahmung einer Regulierungsbehörde wurde mit dem Alfred-Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften honoriert, der an einen der Hauptentwickler, George Stigler,[4] überreicht.[5]
Die Vereinnahmung einer Regulierungsbehörde ist ein Risiko, das in der Natur der Sache liegt.[6] Das legt nahe, eine regulationsbeauftragte Behörde so gut als möglich von äußeren Einflüssen zu schützen. Alternativ ist die Daseinsberechtigung von manchen autorisierten Behörden zu hinterfragen, wenn diesen zu hohe Gefahr droht, im Sinne der Interessensvertretungen zu agieren anstatt derer, die sie beauftragt waren, zu beschützen. Eine vereinnahmte Regulierungsbehörde ist oft schlechter als keine, da in sie Autoritäten ausgelagert sind, die normalerweise dem Staat vorbehalten sind. Jedoch kann erhöhte Transparenz einer Behörde eine Vereinnahmung vorbeugen. Jüngste Indizien deuten darauf hin, dass selbst in ausgereiften Demokratien mit hoch ausgeprägter Transparenz und Pressefreiheit, ausgedehnte und komplexe Regulierungsumfelder mit höherer Korruption (u. a. auch Vereinnahmung von Regulierungsbehörden) in Verbindung gebracht werden.[7]
Verbindung zum Föderalismus
Es gibt ausreichend akademische Literatur, welche nahelegt, dass kleinere Regierungseinheiten einfacher für kleine, konzentrierte Industriezweige zu vereinnahmen sind als große. Zum Beispiel kann es passieren, dass die Gesetzgeber innerhalb einer Gruppe von Staaten oder Provinzen mit großer Holzwirtschaft von den ansässigen Holzverarbeitungsbetrieben vereinnahmt werden. Diese Staaten oder Provinzen werden dann zum Sprachrohr einer Industrie, oft bis zur Unterbindung von nationalen Gesetzgebungen, die eigentlich von der Mehrheit der Bevölkerung bevorzugt werden würden. Moore und Giovinazzo (2012) nennen dieses Phänomen „Verzerrungsdifferenz“.[8]
Auf der anderen Seite ist das gegenteilige Szenario bei größeren Industrien möglich. Sehr große und einflussreiche Branchen (z. B. Energie, der Banksektor etc.) können nationale Regierungen vereinnahmen und dann ihre Macht ausnützen um Gesetzgebungen von Staaten und Provinzen zu blockieren, welche im Sinne der Wähler wären.
Wirtschaftliche Begründungen
Die Idee der Vereinnahmung einer Regulierungsbehörde hat klare wirtschaftliche Beweggründe im Sinne, dass von Regulierungen betroffene Interessensgruppen am meisten finanziell beeinflusst werden und somit eher dazu geneigt sind, auf diese Kontrollorgane einzuwirken als einzelne Konsumenten,[3] von denen jeder nur kleine unterschiedliche Anreize hätte, Aufsichtsbehörden zu beeinflussen. Wenn Aufsichtsbehörden dann Expertengruppen bilden, um Regelungen zu begutachten, werden diese überproportional mit gegenwärtigen oder früheren Vertretern der Industrie, oder zumindest Individuen mit Kontakten in selbige, besetzt.
Manche Wirtschafter, wie Jon Hanson und seine Co-Autoren, argumentieren, dass das Phänomen weit über politische Behörden und Organisationen hinausgeht. Firmen sind immer dazu bewogen, alle Machtapparate im eigenen Umfeld zu kontrollieren, inklusive Medienunternehmen, die akademische Welt und Pop-Kultur, dementsprechend werden sie versuchen so viele wie möglich an sich zu reißen. Dieses Phänomen wird von Hanson als „Deep Capture“ (= „ganzheitlich orientierte Vereinnahmung“) bezeichnet.[9]
Beispiele
Welthandelsorganisation
Der Akademiker Thomas Alured Faunce hat erörtert, dass die Welthandelsorganisation mit „Non Violation Nullification of Benefit“ (NVNOB)-Claims – das Recht, bei einem ausgebliebenen Handelsvorteil durch lokale Einwirkung eines Staates dieses vor der WTO einzuklagen –, speziell bei Einsatz in bilateralen Handelsvereinbarungen, intensives Lobbying der Industrie fördert, was zu erfolgreicher Vereinnahmung großer Bereiche der Behörden führen kann.[10]
Einzelnachweise
- E. Dal Bo: Regulatory Capture: A Review. In: Oxford Review of Economic Policy. Band 22, Nr. 2, 1. Juni 2006, ISSN 0266-903X, S. 203–225, doi:10.1093/oxrep/grj013 (oup.com [abgerufen am 17. Januar 2021]).
- Will Kenton: Regulatory Capture. In: investopedia.com. 23. Oktober 2019, abgerufen am 17. Januar 2021 (englisch).
- Timothy B. Lee, "Entangling the Web" The New York Times (August 3, 2006). Abgerufen am 1. April 2011.
- Regulatory Capture 101, The Wall Street Journal vom 6. Oktober 2014; abgerufen am 25. August 2015.
- Edmund Amann (Ed.), Regulating Development: Evidence from Africa and Latin America Google Books. Edward Elgar Publishing (2006), p. 14. ISBN 978-1-84542-499-2. Abgerufen am 14. April 2011.
- Gary Adams, Sharon Hayes, Stuart Weierter and John Boyd, "Regulatory Capture: Managing the Risk" (Memento vom 20. Juli 2011 im Internet Archive) ICE Australia, International Conferences and Events (PDF) (October 24, 2007). Abgerufen am 14. April 2011.
- Alexander Hamilton (2013), Small is beautiful, at least in high-income democracies: the distribution of policy-making responsibility, electoral accountability, and incentives for rent extraction , World Bank.
- Archivierte Kopie (Memento vom 26. Mai 2013 im Internet Archive)
- Jon D. Hanson und David G. Yosifon, The Situation: An Introduction to the Situational Character, Critical Realism, Power Economics, and Deep Capture Abstract at Social Science Research Network. University of Pennsylvania Law Review, Vol. 152, p. 129 (2003-2004); Santa Clara University Legal Studies Research Paper No. 06-17; Harvard Public Law Working Paper No. 08-32. Abgerufen am 12. April 2011.
- Thomas A. Faunce, Warwick Neville and Anton Wasson, "Non Violation Nullification of Benefit Claims: Opportunities and Dilemmas in a Rule-Based WTO Dispute Settlement System" (PDF) Peace Palace Library. In M. Bray (Ed.), Ten Years of WTO Dispute Settlement: Australian Perspectives. Office of Trade Negotiations of the Department of Foreign Affairs and Trade. Commonwealth of Australia. Abgerufen am 17. April 2011.