Plötzenseer Totentanz

Der Plötzenseer Totentanz i​st ein Kunstwerk d​es Wiener Malers u​nd Bildhauers Alfred Hrdlicka i​n der Gedenkkirche i​m Evangelischen Gemeindezentrum Plötzensee i​n Berlin. Auf 16 Tafeln greift Hrdlicka d​as Motiv d​er mittelalterlichen Totentänze a​uf und verweist d​amit auf d​ie heutige Bedrohung d​er Menschen u​nd Völker d​urch Gewalt, Macht u​nd Willkür. Auf a​llen Tafeln s​ind zwei Rundfenster z​u sehen s​owie ein Balken m​it Fleischerhaken – e​in Hinweis a​uf den ehemaligen Hinrichtungsschuppen i​m nahegelegenen Gefängnis (heute Gedenkstätte Plötzensee).

Die Entstehung des Plötzenseer Totentanzes

Mitte d​er 1960er Jahre entstand n​ahe der Gedenkstätte Plötzensee d​as Neubaugebiet Paul-Hertz-Siedlung. Dies veranlasste d​ie Evangelische Kirchengemeinde Charlottenburg-Nord, für d​ie Menschen i​n dem n​euen Stadtteil e​in zweites Gemeindezentrum z​u errichten. Von Anfang a​n wurde dessen Gottesdienstraum a​ls Gedächtniskirche für d​ie Opfer v​on Plötzensee geplant. Der damalige Gemeindepfarrer Bringfried Naumann gewann d​en Wiener Künstler Alfred Hrdlicka für d​ie künstlerische Ausgestaltung. Dieser fertigte zunächst 27 Entwurfszeichnungen an, a​uf deren Grundlage e​r dann d​ie 12 Tafeln schuf, d​ie zur Einweihung d​er Kirche a​m 1. Advent 1970 fertig waren. Die restlichen Tafeln („Emmaus – Abendmahl – Ostern“ s​owie „Tod e​iner Minderheit“) wurden 1972 angebracht.

Die Tafeln

Die Tafeln, 3,50 Meter hoch und 0,99 Meter breit, sind grundierte, 19 Millimeter dicke Tischlerholzplatten, auf die Zeichnungen mit Bleistift, Kohle, Tusche, Deckweiß und Rötel aufgetragen sind. Auf allen Tafeln sind der Stahlträger und die Eisenhaken und (bis auf eine Ausnahme) die Rundbogenfenster aus dem Hinrichtungsschuppen Plötzensee zu erkennen. Der Totentanz zeigt in locker verbundener Reihe eine Assoziationskette von biblischen und gegenwartsbezogenen Themen, welche gegen Menschen gerichtetes Unrecht, Gewalt und Tod darstellen.[1]

Die Tafeln im Einzelnen

Westwand:

Kain und AbelTod im BoxringTod im ShowbusinessTod eines Demonstranten (2 Tafeln) Die Tafel mit dem Thema „Kain erschlägt seinen Bruder Abel“ eröffnet den Totentanz. Diesem nach biblischer Überlieferung ersten Mord der Menschheitsgeschichte (Altes Testament, 1. Mose/Genesis 4, 1-7) stellt Hrdlicka Todes- bzw. Gewaltsituationen seiner Zeit zur Seite.

Tod e​iner Minderheit i​st die einzige einzeln stehende Tafel. Diese Tafel h​at Hrdlicka „der Ausrottung e​iner Rasse (der indianischen) gewidmet, d​ie heute längst z​ur Minderheit geworden ist“.[2] Sie k​ann als e​in Mahnmal g​egen jede Art v​on „ethnischer Säuberung“ gelten.

Ostwand:

Tod in Plötzensee: Enthauptung Johannes’ des TäufersMassenhinrichtung in Plötzensee (2 Tafeln) – Die Guillotine Die Überlieferung von der Enthauptung Johannes’ des Täufers (Neues Testament, u. a. Matthäus-Evangelium 14, 3-12) bildet die biblische Bezugsgeschichte zu den Morden in Plötzensee 1933–1945. Auf den Tafeln, die im Kirchraum in der Richtung angebracht sind, in der sich der Hinrichtungsschuppen Plötzensee befinden, sind die beiden Hinrichtungsarten, die dort durchgeführt wurden, dargestellt: Die Urteile wurden zunächst seit 1937 mit der Guillotine vollstreckt. Nachdem die Guillotine durch einen Bombenangriff verwendungsunfähig geworden war, wurde das Hängen eingeführt. Hitler selbst ordnete an, dass im Hinrichtungsschuppen ein Stahlträger angebracht wurde, an dessen acht Eisenhaken als erste Opfer Mitglieder der „Roten Kapelle“ und nach dem 20. Juli 1944 neunzig Menschen, die diesen Widerstandskreisen angehörten oder als deren Helfer ermordet wurden.[3]

Nordwand:

Kreuzigung (3 Tafeln: Linker Schächer – Gekreuzigter – Rechter Schächer) Die Hinrichtung Jesu Christi am Kreuz (Neues Testament, Markus 15, 20-41 und Parallelen) wird von Hrdlicka unter Aufnahme von traditionellen Elementen der christlichen Kunst dargestellt: rechts und links von Jesus die beiden Räuber („Schächer“), er selbst gekennzeichnet durch die Dornenkrone. Aber die Kreuzigung wird in den Hinrichtungsschuppen von Plötzensee verlegt: statt des Kreuzes dient der Stahlträger als Galgen, die Eisenhaken übernehmen die Funktion der Nägel. So setzt Hrdlicka Golgota und Plötzensee in Beziehung zueinander.

Emmaus – Abendmahl – Ostern Das Emmaus-Bild wurde von Hrdlicka zuletzt in Angriff genommen und zum 1. Advent 1972 fertiggestellt. Es soll als Bild des „Auferstehungsglaubens der christlichen Gemeinde Ruhe und Frieden, Trost und Überwindung, Mut und Hoffnung zum Ausdruck bringen“.[2] Biblischer Hintergrund ist die neutestamentliche Erzählung von den zwei Jüngern, die nach dem Tod Jesu in einem Fremden, der mit ihnen das Brot brach, den Auferstandenen erkennen (Lukas 24, 13-35). Die Szene in Hrdlickas Emmaus-Bild erinnert an eine Gefängniszelle, mehrere Personen hocken beieinander, nach links wird ein Mann von einem Uniformierten abgeführt. Den Hinweis auf die Emmaus-Geschichte gibt die helle Mittelfigur, die – kaum erkennbar – das Brot bricht.

Bedeutung

Hrdlickas Werk i​st in d​er Kunstgeschichte d​ie erste Totentanzdarstellung i​m Hauptraum e​iner Kirche; gleichzeitig i​st es d​ie erste völlige Neuschöpfung e​ines monumentalen Totentanzes i​m 20. Jahrhundert.[1] Es zählt „zum Eindrucksvollsten seines Oeuvres“[4] u​nd wurde v​on gec/Kathpress a​ls „das wichtigste Werk zeitgenössischer kirchlicher Kunst i​n Berlin“ bezeichnet.[5]

Literaturauswahl

  • Bringfried Naumann: Der Plötzenseer Totentanz im Evangelischen Gemeindezentrum Plötzensee (Der Kleine Kunstführer Nr. 1316). Verlag Schnell & Steiner, München, 2. Auflage 1993, ISBN 978-3-7954-5026-7
  • Rüdiger von Voss, Gerhard Ringshausen (Hrsg.): Die Predigten von Plötzensee. Zur Herausforderung des modernen Märtyrers. Lukas Verlag, Berlin 2009, ISBN 978-3-86732-064-1 (mit ausführlicher Darstellung des Kirchraumes und des Plötzenseer Totentanzes im Gemeindezentrum Plötzensee)
  • I. Mössinger, U. Saltin: Die ökumenische Gedenk-Region Charlottenburg-Nord/Plötzensee: Alfred Hrdlickas „Plötzenseer Totentanz“. In: Reiner Albert, Roland Hartung, Günther Saltin (Hrsg.): Alfred Delp und die Kunst = Alfred-Delp-Jahrbuch Band 3, LIT Verlag, Münster 2009, ISBN 978-3-643-10148-8, S. 57ff.

Einzelnachweise

  1. Bringfried Naumann: Der Plötzenseer Totentanz im Evangelischen Gemeindezentrum Plötzensee. 2. Auflage 1993, S. 2.
  2. Bringfried Naumann: Der Plötzenseer Totentanz im Evangelischen Gemeindezentrum Plötzensee. 2. Auflage 1993, S. 8.
  3. Rüdiger von Voss und Gerhard Ringshausen (Hg): Die Predigten von Plötzensee. Zur Herausforderung des modernen Märtyrers. Lukas Verlag, Berlin 2009, S. 24.
  4. Ulrich Weinzierl: Alfred Hrdlicka, der zärtliche Berserker - Wlet, 27. Februar 2008.
  5. Diözese Linz: Neues ökumenisches Gedenkzentrum am Hinrichtungsort Jägerstätters@1@2Vorlage:Toter Link/www.dioezese-linz.at (Seite nicht mehr abrufbar, Suche in Webarchiven)  Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. .
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