Philip V. Bohlman
Philip Vilas Bohlman (* 8. August 1952) ist ein amerikanischer Musikethnologe an der University of Chicago[1] und ein Spezialist für Studien in jüdischer Musikkultur und Überlieferung.
Leben
Außer an seiner Heimatuniversität, der University of Chicago, seit 1987 (dort ist er z. B. auch tätig am “Center for Jewish Studies”[2]), hat Philip Bohlman an verschiedenen Universitäten gelehrt, u. a. als Honorarprofessor an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, an der University of California, Berkeley, an den Universitäten in Freiburg i. Br., Wien, Innsbruck und Kassel (Kunsthochschule Kassel)[3] und an der Yale University in New Haven. Seine Doktorarbeit schrieb er 1984 an der University of Illinois. Bohlmans Feldforschungen in Indien und Deutschland[4], mit einem Schwerpunkt bei muslimischen Bevölkerungsgruppen, vor allem aber mit dem Fokus auf jüdische Musik, sowohl traditionelle Liedüberlieferung als auch moderne Musik, sind mehrfach von der Alexander von Humboldt-Stiftung gefördert worden. Künstlerisch selbst ausübend ist er Direktor der “The New Budapest Orpheum Society”[5] an der University of Chicago, darin unterstützt von seiner Ehefrau, der Pianistin und Musikpädagogin Christine Wilkie Bohlman. Phil Bohlman ist seit 2011 Mitglied der American Academy of Arts and Sciences und seit 2007 korrespondierendes Mitglied der British Academy. Er ist Träger verschiedener Auszeichnungen, u. a. der American Academy in Berlin 2003; von 2005 bis 2007 war er Präsident der internationalen “Society for Ethnomusicology”. Bohlman bekam im Oktober 2019 die Ehrendoktorwürde (Ehrendoktor) an der “Romanian National University of Music” (Nationale Musikuniversität Bukarest); er ist seit 2019 Mitherausgeber der Zeitschrift “Acta Musicologica” der International Musicological Society (Bärenreiter, Kassel).
Veröffentlichungen (Auswahl)
- The Land Where Two Streams Flow: Music in the German-Jewish Community of Israel. University of Illinois Press, Urbana and Chicago, IL 1989, ISBN 0-252-01596-7.
- Central European Folk Music: An Annotated Bibliography of Sources in German (= Garland Library of Music Ethnology 3). Garland, New York N.Y. and London, 1996, ISBN 0-8153-0304-1.
- herausgegeben zusammen mit Otto Holzapfel: The Folk Songs of Ashkenaz (= Recent Researches in the Oral Traditions of Music'. 6). A-R Editions, Middleton, WI 2001, ISBN 978-0-89579-474-1 (jiddische Lieder der Aschkenasim, Texte und Melodien, kommenmtiert)
- herausgegeben zusammen mit Otto Holzapfel: Land without Nightingales: Music in the Making of German-America (= Max Kade Institute for German-American Studies). University of Wisconsin Press, Madison, WI, 2002, ISBN 0-924119-04-7[6].
- Jüdische Volksmusik: eine mitteleuropäische Geistesgeschichte. Böhlau, Wien u. a. 2005, ISBN 3-205-77119-2[7].
- Song Loves the Masses: Herder on Music and Nationalism. University of California Press, Oakland, CA. 2017, ISBN 978-0-520-23494-9[8].
- Wie sängen wir Seinen Gesang auf dem Boden der Fremde! Jüdische Musik des Aschkenas zwischen Tradition und Moderne. Lit Verlag, Berlin, 2019, ISBN 978-3-643-13574-2 (Zusammenfassung früherer Veröffentlichungen von 1989 bis 2013, überarbeitet und ergänzt durch neue Forschungen; umfangreiches Quellenverzeichnis zur musikalischen Überlieferung der Aschkenasim).
Der Band bietet eine Zusammenfassung zahlreicher früherer Veröffentlichungen und Artikel von 1989 bis 2013 (vgl. die Liste S. 361 f.). Diese sind überarbeitet und ergänzt durch neue Forschungen; es ist eine tiefgehende Darstellung und ein umfangreiches Quellenverzeichnis zur musikalischen Überlieferung der Aschkenasim. Mehrfach geht Bohlman [B.] auf die Volksballade von der „Schönen Jüdin“ ein (Es war eine schöne Jüdin, ein wunderschönes Weib, die hatte eine Tochter, zum Tod war sie bereit. […]), indem er frühere Forschungen aufgreift und überarbeitet, vgl. S. 12 ff., S. 63 – 65, S. 154 f., S. 230. Einerseits ist dieses Lied auch aus jüdischer Perspektive gesungen worden, andererseits ist der Hintergrund deutlich antisemitisch. Aus der Sicht der deutschsprachigen Überlieferung ist das Ertrinken im See wie auch der praktisch identische Dialog mit der Mutter eine Anleihe an die bzw. eine Parallele zur Volksballade von den „Königskindern“. Wenn aber der unveränderte Text in jüdischer Überlieferung gesungen wird, werden Assoziationen an fließendes Wasser usw. wach, die der deutschsprachigen „Königskinder“-Volksballade (Es waren zwei Königskinder, die hatten einander so lieb...) grundsätzlich fremd und in der „Schönen Jüdin“ vielleicht auch nicht beabsichtigt sind, aber für die jüdische Überlieferung wesentlich sein können. Das ist ein wichtiger Aspekt der Interpretation der Gesamtüberlieferung. Die „Schöne Jüdin“ dokumentiert die wichtigste und kulturell vielfältige Grenze zwischen Juden- und Christentum. – Sehr eindrücklich beschreibt B. die Tatsache, wie die Dokumentation jüdischer Musik (jüdische Musik) und die jüdische musikalische Überlieferung selbst sich nach dem 19. Jahrhundert entwickelt und verändert haben, ja sogar in den 1930er Jahren in völlig modernisierter Form einem Höhepunkt zustreben, bevor dieses bunte und vielfältige, kulturell ungemein lebendige und entwicklungsstarke Universum von den Nazis ermordet wird. Etwa anhand vor J. Jacobsen und E. Jospe, Hrsg.: Hawa naschira! Auf lasst uns singen. Leipzig 1935, illustriert B., dass hier der letzte Sammelband jüdischer Volkslieder am Vorabend der Schoah (Holocaust) vorliegt, der gleichzeitig in sich eine umfassende Leistung darstellt (S. 16 f.). – Immer wieder betont B., dass jüdisches musikalisches Leben nicht von seiner theologischen Perspektive getrennt werden darf, ja damit eine „ontologische“ Einheit darstellt (S. 39), deren Analyse aus nichtjüdischer Perspektive Schwierigkeiten bieten muss. Umso dankbarer ist man für diese umfassende Anleitung, die sämtliche Aspekte des Komplexes erfasst – weit über Volkslied und Volksballade hinaus: auch z. B. synagogale Musik, „jüdische Volksmusik“ nach ca. 1880 (S. 79 u. ö.), jüdische Jugendbewegung (S. 45), jüdische Popularmusik, welche die moderne Rolle der Frau berücksichtigt (S. 73 u. ö.), Kompositionen im Ghetto (S. 323 ff.) und im Konzentrationslager (S. 41 u. ö.), die moderne Nachkriegsentwicklung der Musik der Klesmer (Klezmer)[9], das „Revival der Klesmermusik“ (S. 99 f., S. 277 ff. u.ö.) und so weiter. Aber Volksliedaspekte spielen durchgehend eine wesentliche Rolle, z. B. die Feldforschung von Ginsburg und Marek und ihre Sammlung, St. Petersburg 1901 (S. 82 u. ö.); sie dokumentiert zwar, aber sie ‚musealisiert‘ ungewollt ebenso (S. 86). - B. übernimmt für seinen Buchtitel die Metapher des Religionsphilosophen Franz Rosenzweig von 1926: das „Zweistromland“, aber Bohlmans ‚zwei Ströme‘ sind darüber hinaus umfassende Verständnisgrundlage und durchgehendes Gliederungsprinzip mit u. a. folgenden Fragestellungen: deutsch - jüdisch, jüdisch - deutsch, ‚verstädterte‘ Wiener Juden und galizische Ostjuden (Ostjuden und Westjuden) (S. 232 u. ö. – dafür stehen z. B. das Coupletlied Es gibt ein’ klein’ Ort in der Nähe von Wien... Weidlingau oder die verschiedenen Bearbeitungen der Komposition „Nach Großwardein (Oradea)…“, S. 21 f., S. 49 f., S. 202, S. 219 f. u. ö.), Vergangenheit - Gegenwart, traditionsgebundene religiöse Bindung und liberales reformiertes Judentum, Finden jüdischer Musik und Erfinden (im Sinne von Ernst Klusen: Volkslied. Fund und Erfindung, Köln 1969, oder von Eric Hobsbawm, der von ‚Geschichtsstiftung‘ spricht; 1983 (Erfundene Tradition)) und so weiter. Bei der letzten Frage verweist B. etwa auf Emil Breslauers Buchtitel Sind originale Synagogen- und Volks-Melodien bei den Juden geschichtlich nachweisbar? von 1898 (S. 111 – 114). Diese Frage wurde von Israel Adler 1991 wieder aufgegriffen. Auch Idelsohn (Abraham Zvi Idelsohn) meinte (1932), dass „von den Stürmen der Zeiten weggefegte Melodien“ sich „in einem Winkel erhalten haben, in der deutschen Synagoge“ (vgl. S. 116 mit folgenden Melodiebeispielen). Letztlich ist das Wirken der beiden jüdischen Reformkantoren Louis Lewandowski in Berlin und Salomon Sulzer in Wien (S. 120, S. 264 f. u. ö.) ebenso ein Zeichen ‚zweier Ströme‘, die uns jetzt beide weitgehend fremd sind. ‚Jüdisches Leben‘ in Deutschland nach 1945 ist ein zaghafter Neuanfang, dem die eigenen Wurzeln vielfach ebenso fremd sind. Philip Bohlman kann der Erinnerung in hervorragender Weise nachhelfen. Zum Beispiel dem österreichischen Burgenland ist (auch aufgrund eigener Feldforschung) ein ganzes Kapitel gewidmet (S. 139 – 160), besonders den ‚Sieben Gemeinden‘ (Siebengemeinden (Burgenland)) Deutschkreutz, Eisenstadt, Frauenkirchen, Kittsee, Kobersdorf (noch mit einer Synagoge Kobersdorf), Lackenbach und Mattersburg (S. 143 u. ö.). „Musik im Widerstand“ wird auch anhand eines eher harmlos erscheinenden Kinderliedes von 1934 thematisiert (S. 161 ff.). Eine Form des Widerstandes und in diesen Jahren eine erstaunliche Erfolgsgeschichte ist das Wirken z. B. des Schocken-Verlags in Berlin in den 1930er Jahren (S. 167, S. 190 u. ö.). Gleiches gilt für den Jüdischen Kulturbund (Kulturbund Deutscher Juden), 1933 – 1938 (S. 170 ff.), und diese Perspektive wechselt über nach Jerusalem mit dem Versuch der Schaffung eines „Weltzentrums für jüdische Musik“ 1936 (S. 181 u. ö.). – Ein ausführliches Quellenverzeichnis (S. 367 ff.) schließt den Band ab.
Einzelnachweise
- "Ludwig Rosenberger Distinguished Service Professor für jüdische Geschichte im Department of Music"
- mit u. a. der Ludwig-Rosenberger-Bibliothek für Judaica (The Ludwig Rosenberger Collection of Judaica) steht zudem in der Universitätsbibliothek von Chicago eine bedeutende Sammlung zur Verfügung
- Franz-Rosenzweig-Gastprofessur 2014
- vgl. dazu auch Otto Holzapfel: Liedverzeichnis: Die ältere deutschsprachige populäre Liedüberlieferung (Online-Fassung auf der Homepage Volksmusikarchiv des Bezirks Oberbayern; im PDF-Format; laufende Updates)
- in der Tradition des jüdischen Kabaretts um 1900 und in den 1920er und 1930er Jahren; eine Initiative Musik und politische Lieder aufzuführen und damit hebräische, jüdische und deutschsprachige Quellen zu neuem Leben zu erwecken; mehrere CDs (u. a. “Jewish Cabaret in Exile”, 2009 bei Cedille Records); Aufführungen u. a. in Synagogen in Chicago, in Clubs in Berlin und Wien und bei vielen jüdischen Vereinigungen
- Tagungsbeiträge über Feldforschungen und Beobachtungen bei Deutsch-Amerikanern (Deutschamerikaner)
- kommentierte Sammlung von z. T. schwer zugänglichen Quellen aus u. a. Felix Rosenberg, Leo Herzberg-Fränkel, S. M. Ginsburg – P. S. Marek, Aron Friedmann und Heinrich Berl
- mit u. a. der Übersetzung wichtiger Herder-Texte ins Englische
- Bohlman schreibt Klesmer bewusst mit s.