Ottla Kafka
Ottilie „Ottla“ Kafka, verheiratet Ottilie Davidová (geboren 29. Oktober 1892 in Prag; gestorben 1943 im KZ Auschwitz-Birkenau) war die jüngste Schwester von Franz Kafka. Sie stand ihm von seinen Verwandten am nächsten und unterstützte ihn in schwierigen Zeiten.
Leben
Nach ihrer Schulausbildung u. a. in einer landwirtschaftlichen Schule, die Franz Kafka entscheidend mitinitiiert hatte, lebte und arbeitete sie im westböhmischen Zürau (heute Siřem, Gemeinde Blšany) auf einem landwirtschaftlichen Gut ihres Schwagers Karl Hermann. Hier lebte mit ihr von September 1917 bis April 1918 auch der bereits an Lungentuberkulose erkrankte Franz Kafka und verfasste Die Zürauer Aphorismen.
Im Juli 1920 heiratete Ottla gegen den Willen ihres Vaters den tschechischen Katholiken Josef David, einen Kollegen Franz Kafkas in der Arbeiter-Unfallversicherung. David war Jurist und übernahm die Geschäftsführung des Verbandes der tschechischen Privatversicherungen.[1] 1921 und 1923 wurden die Töchter Věra und Helene geboren, deren Entwicklung Franz Kafka bis zu seinem Tod im Juni 1924 verfolgte.
Die Ehe von Ottla Kafka verlief nicht glücklich. Nach der Schilderung ihrer Tochter Věra Saudková hätte der Vater gerne ein gutbürgerliches Leben geführt, wohingegen die Mutter sich einen Haushalt wünschte, in dem sozial Benachteiligte immer einen Teller Suppe bekommen konnten. Da Ottla mit einem Nichtjuden verheiratet war, war sie im Gegensatz zu ihren beiden Schwestern, die im Oktober 1941 zunächst nach Lodz (Litzmannstadt) deportiert wurden, vorläufig geschützt.[1]
Die Last, ihren Schwestern, Freunden und nahen Verwandten beim Packen geholfen, mit ihnen die Nacht vor dem Abtransport durchwacht und sie zu der Sammelstelle begleitet zu haben, um danach wieder in das eigene Heim zurückzukehren, wo scheinbar alles seinen normalen Gang nahm, wurde ihr unerträglich. Auch die Lage ihres Mannes war nicht einfach. Da er laut der NS-Rassenideologie als «jüdisch versippt» galt, musste er mit dem Verlust seiner Stellte rechnen. Zudem drohte ihm die Internierung im «Lager für arische Ehemänner jüdischer Frauen» in Bystřice u Benešova (Bistritz bei Beneschau).[1]
Im Februar 1940 reichte Josef David die Scheidung ein und im August 1942 kam es zur Scheidung zulasten von Ottilie. Die Töchter erfuhren von der Scheidung nichts, was heute zu der Vermutung Anlass gibt, dass diese möglicherweise einvernehmlich erfolgte. Mit Vollzug des Scheidungsaktes verlor Ottla ihren Schutz gegen die Judenverfolgung.[2]
Wie viele andere Jüdinnen und Juden aus Prag wurde Ottla bald darauf ins KZ Theresienstadt deportiert, wo sie als Fürsorgerin in einem Säuglingsheim arbeitete. Mit Hilfe eines tschechischen Gendarmen konnte sie Briefe zu ihren Töchtern schmuggeln. In diesen Briefen äußerte sie sich immer wieder hoffnungsvoll über eine bevorstehende Austauschaktion von Kindern aus dem Ghetto von Bialystok, die sie würde begleiten dürfen.[1]
Ein solcher humanitärer Transport, schrieb sie, sei in die Schweiz oder nach Schweden geplant. Ihre Töchter, denen als Halbjüdinnen der Zugang nach Theresienstadt verboten war, waren zu Karel Projsa, einem Freund aus der kommunistischen Jugendorganisation und frühen Kafka-Bewunderer, gezogen und überlebten den Krieg. Im Oktober 1943 begleitete Ottla Kafka zusammen mit 52 weiteren Pflegerinnen und Pflegern als freiwillige Hilfskraft eine Gruppe von Kindern nach Auschwitz, wo sie kurze Zeit später ermordet wurde.[1]
Auch Ottlas Schwestern Elli Kafka und Valli Kafka sowie weitere Verwandte wurden Opfer des Holocaust. Am Familiengrab auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in Prag erinnert eine Gedenktafel an die drei Schwestern.
Briefwechsel mit Franz Kafka
Der Briefwechsel zwischen Ottla und ihrem Bruder ist erhalten und wurde 1974 erstmals herausgegeben (von Hartmut Binder und Klaus Wagenbach).
Im Januar 2011 wurde bekannt, dass dieser Briefwechsel als Ganzes im April in einem Berliner Auktionshaus versteigert werden sollte.[3] Daraufhin hoffte das Deutsche Literaturarchiv Marbach im Februar 2011, mit Unterstützung von privater Seite den Briefwechsel erwerben zu können.[4] Schließlich erwarben das Deutsche Literaturarchiv Marbach und die Bodleian Library in Oxford den Briefwechsel gemeinsam im April 2011. Sie dankten den Erben Ottlas für ihre Bereitschaft, die Briefe vor der Auktion zu verkaufen, und ferner dem großzügigen, auf eigenen Wunsch anonym bleibenden Förderer, dessen selbstloses Engagement die Spendenaktion in Gang brachte.[5]
Literatur
- Franz Kafka: Briefe an Ottla und die Familie. Herausgegeben von Hartmut Binder und Klaus Wagenbach, 1989, ISBN 3-596-25016-1.
- Deutsches Literaturarchiv Marbach (Hrsg.): Briefe an Ottla. Von Franz Kafka und anderen (Exponatverzeichnis mit allen Briefen).
- Alena Wagnerová: Die Familie Kafka aus Prag. Fischer, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-596-14355-1.
Weblinks
Einzelnachweise
- Alena Wagnerová: «Franz gibt es uns» - Eine Begegnung in Prag mit Věra Saudková, der letzten Nichte Kafkas. In: Neue Zürcher Zeitung. Nr. 24. Zürich 30. Januar 2012, S. 35.
- In der Scheidungsakte erklärte David, der „rassische Unterschied“ zwischen ihm und seiner Frau habe zu schweren Differenzen geführt; sie sei fanatische Vegetarierin und habe ihn gezwungen, vegetarisch zu essen; sie beschimpfe ihn wüst in Anwesenheit der Kinder; verschwende Geld und schleppe manchmal bis zu sieben schmutzige Hunde nach Hause. Zitiert nach: Anna Hájková: Die Jahre der Verbitterung: Süddeutsche Zeitung vom 24. November 2015 S. 14.
- Hubert Spiegel: Die Frau, bei der Kafka ein anderer war, faz.net, 24. Januar 2011.
- FAZ vom 3. Februar 2011: Alle für Ottla
- Exponatverzeichnis Briefe an Ottla. Von Franz Kafka und anderen., Hrsg. vom Deutschen Literaturarchiv Marbach aus Anlass der Ausstellung vom 1. Juli bis 10. September 2011 im Literaturmuseum der Moderne, Marbach am Neckar, S. 159.