Orthostatische Dysregulation
Die orthostatische Dysregulation (griechisch Orthostase = aufrechter Stand) ist gemäß ICD-10-Klassifikation eine Störung des Kreislaufsystems und gilt als eine Form der Hypotonie.[1]
Klassifikation nach ICD-10 | |
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I95.1 | Orthostatische Hypotonie Orthostatische Dysregulation |
ICD-10 online (WHO-Version 2019) |
Weitere Namen sind: orthostatische Hypotonie (beim Menschen ein sich beim Aufstehen aus der sitzenden oder liegenden Position einstellender ungewöhnlich niedriger Blutdruck) und Orthostase-Syndrom.[1][2]
Bei der orthostatischen Dysregulation liegt eine Fehlfunktion der Orthostase-Reaktion vor. Diese Orthostase-Reaktion sorgt bei Gesunden dafür, dass das Herz-Kreislaufsystem auch in aufrechter Stellung einwandfrei arbeitet. Durch die Fehlfunktion treten in aufrechter Stellung Symptome wie Schwindel, Herzrasen, Störung der Sehfunktion, Übelkeit, Schwäche und Benommenheit auf, die zum Hinsetzen oder -legen zwingen, worunter die Beschwerden rasch nachlassen. Bei manchen Erkrankten tritt eine kreislaufbedingte Synkope (kurzandauernde Bewusstlosigkeit) auf.[2][3]
Der Ruheblutdruck im Liegen oder Sitzen kann unabhängig von der orthostatischen Dysregulation erniedrigt, normal oder erhöht sein.[2]
Symptome der orthostatischen Dysregulation
Die Symptome der orthostatischen Dysregulation treten nach plötzlichem Lagewechsel auf, insbesondere vom Liegen zum Stehen. Bei längerem Stehen verstärken sich die Symptome.[2][3]
Folgende Symptome können u. a. bei der orthostatischen Dysregulation auftreten:
- allgemeine Symptome: Innere Unruhe, Schweißausbruch, Blässe, Kältegefühl, Akrozyanose, Übelkeit
- kardiale Symptome: Beklemmungsgefühl, Herzrasen, Palpitation
- neurologische Symptome: Benommenheits- und Leeregefühl im Kopf, Kopfschmerzen, Schwindel, Ohrensausen, Stand- und Gangunsicherheit, verschwommenes Sehen, Augenflimmern, Tunnelblick.[2][3]
Die Symptome zwingen den Erkrankten zum Hinsetzen oder -legen, worunter die Beschwerden meistens rasch nachlassen. Bei manchen Erkrankten treten Synkope (kurzandauernde Bewusstlosigkeit) auf. Diese Synkope können zu schweren Stürzen oder Unfällen führen.[2][3]
Diagnose der orthostatischen Dysregulation
Bereits aus einer sorgfältigen Anamnese ergeben sich deutliche Hinweise auf die Erkrankung. Ein Schellong-Test oder eine Kipptischuntersuchung sichern die Diagnose. Bei Neigung zu Synkopen sollte zusätzlich ein Langzeit-EKG erfolgen.[2][3]
Formen der orthostatischen Dysregulation
In der für Ärzte verbindlichen ICD-10-Klassifikation wird zwischen den unterschiedlichen Formen der orthostatischen Dysregulation nicht differenziert. Die Unterscheidung der unterschiedlichen Formen ist deshalb nicht notwendig und nur im Einzelfall sinnvoll.[1]
Orthostatische Hypotonie
Die Formen der orthostatischen Dysregulation, die nach dem Aufrichten mit einem Blutdruckabfall einhergehen, werden üblicherweise als orthostatische Hypotonie bezeichnet.
Epidemiologie der orthostatischen Hypotonie
Die orthostatische Hypotonie tritt überwiegend im höheren Lebensalter auf. Bei circa 25 % der über 65-Jährigen manifestiert sich eine orthostatische Hypotonie.[2]
Pathophysiologie der orthostatischen Hypotonie
Die orthostatische Hypotonie ist definiert als deutlicher Blutdruckabfall innerhalb von drei Minuten nach dem Lagewechsel vom Liegen zum Stehen. Der systolische Blutdruck fällt um mehr als 20 mmHg oder auf einen Wert unter 90 mmHg absolut. Der diastolische Blutdruck fällt um mehr als 10 mmHg. Zusätzlich treten die Symptome der orthostatischen Dysregulation auf.[2]
Formen der orthostatischen Hypotonie
- Asympathikotone orthostatische Hypotonie
Bei der asympathikotonen orthostatischen Hypotonie, auch hypoadrenergene orthostatische Hypotension, sinkt der systolische Blutdruck nach dem Lagewechsel um mehr als 20 mmHg und der diastolische Blutdruck um mehr als 10 mmHg. Die Herzfrequenz bleibt gleich oder ist erniedrigt.[2][3]
Ursache ist eine Schädigung des autonomen Nervensystems, die zu einer unzureichenden oder fehlenden Aktivierung des sympathischen Nervensystems führt. Daraus resultiert der Verlust der Vasokonstriktion und des Anstiegs der Herzfrequenz.[2][3]
Die asympathikotone orthostatische Hypotonie hat häufig einen chronisch-progredienten, therapeutisch schwer korrigierbaren Verlauf.[2][3] - Sympatikotone orthostatische Hypotonie
Bei der sympatikotonen orthostatischen Hypotonie kommt es nach dem Aufrichten zu einem systolischen und diastolischen Blutdruckabfall um mehr als 20 mmHg und einer Steigerung der Herzfrequenz um mehr als 16 Schläge pro Minute.[2]
Ursache ist meist eine zentrale Hypovolämie. Der Körper versucht, das fehlende Blutvolumen durch eine Erhöhung der Herzfrequenz, also durch eine sehr starke Aktivierung des sympathischen Nervensystems auszugleichen.[2] - Vasovagale Dysfunktion
Die vasovagalen Dysfunktion, (von lateinisch vas = Gefäß und Nervus vagus), wird auch als neurokardiale Dysfunktion oder neural vermittelte orthostatische Dysfunktion bezeichnet. Diese ist gekennzeichnet durch einen neurokardial reflexartig verursachten Blutdruckabfall mit verlangsamten Herzschlag und dadurch bedingter Minderung der Hirndurchblutung mit Bewusstlosigkeit nach längerem Stehen.[2][3]
Posturales Tachykardiesyndrom (POTS)
Das posturale Tachykardiesyndrom (POTS) ((lat.) posture = die Körperhaltung betreffend) wird auch als posturales orthostatisches Tachykardiesyndrom oder orthostatische Intoleranz bezeichnet.[3]
Das posturale Tachykardiesyndrom ist eine besondere Form der orthostatischen Dysregulation. Beim posturalen Tachykardiesyndrom gibt es im Gegensatz zu den anderen Formen der orthostatischen Dysregulation beim Wechsel in die aufrechte Stellung keinen Blutdruckabfall. Die Blutdruckstabilisierung im Stehen wird beim posturalen Tachykardiesyndrom stärker durch eine kardiale Aktivierung als durch eine Verengung der Blutgefäße in den Beinen geleistet.[3]
Epidemiologie des posturalen Tachykardiesyndroms
Im Gegensatz zu den anderen Formen der orthostatischen Dysregulation erkranken am posturalen Tachykardiesyndrom überwiegend jüngere Frauen. Die meisten Erkrankten sind zwischen 15 und 50 Jahre alt, 80 % sind Frauen. Die Prävalenz des posturalen Tachykardiesyndroms wird auf circa 0,2 Prozent geschätzt, das entspricht etwa 160.000 Erkrankten in Deutschland.[3]
Pathophysiologie des posturalen Tachykardiesyndroms
Das posturale Tachykardiesyndrom ist definiert als Anstieg der Herzschlagfrequenz um mindestens 30 Schläge/min innerhalb von 10 Minuten nach dem Aufrichten oder auf mindestens 120 Schläge/min absolut. Typischerweise steigt die Herzfrequenz im Stehen kontinuierlich an. Der mittlere Blutdruck verändert sich kaum, es gibt keinen pathologischen Blutdruckabfall, d. h. der systolische Blutdruck sinkt um nicht mehr als 20 mm Hg, der diastolische um nicht mehr als 10 mm Hg. Im Verhältnis zur normalen Orthostase-Reaktion kann der systolische Blutdruck etwas stärker sinken, der diastolische etwas stärker steigen. Bei längerem Stehen treten zunehmend die Symptome der orthostatischen Dysregulation auf.[3]
Ursachen des posturalen Tachykardiesyndroms
Bei etwa 50 % der Erkrankten lag vor Ausbruch der Symptomatik eine virale Infektion vor. Eine gewisse Komorbidität besteht mit einem Mitralklappenprolaps.[3][4]
Das posturale Tachykardiesyndrom ist keine psychische Erkrankung. Die Symptome können aber Angst auslösen. Angst und Panik wiederum können per Hyperventilation die Symptome des posturalen Tachykardiesyndroms verstärken.[3][4]
Ursache des posturalen Tachykardiesyndroms ist eine Störung des autonomen Nervensystems. Bei einem Teil der Erkrankten konnte ein Verlust von Nervenendigungen des sympathischen Nervensystems am Herzen (autonome kardiale Denervierung) nachgewiesen werden. Auch wurden erhöhte Noradrenalinwerte bei Noradrenalin-Transportdefekt oder das Auftreten von Acetylcholin-Rezeptor-Antikörpern bei einem Teil der Erkrankten nachgewiesen.[3][4][5]
Beim posturalen Tachykardiesyndrom ist die periphere Vasokonstriktion insuffizient. Eine Störung des autonomen Nervensystems ist eine systemische Störung, die eine Vielzahl von unterschiedlichen Dysfunktionen auslöst. Diese Dysfunktionen sind ursächlich miteinander verbunden und beeinflussen sich wechselseitig. Das posturale Tachykardiesyndrom hat deshalb mehrere Ursachen:
- Eine gestörte Noradrenalinwiederaufnahme führt zu einer Funktionsstörung des sympathischen Nervensystems der unteren Extremitäten.
- Durch eine gestörte Wasser- und Natriumretention durch die Nieren entsteht eine Hypovolämie. Durch das Versacken des Blutes in den unteren Extremitäten beim Stehen (venöses Pooling) erreicht das verringerte zentrale Blutvolumen kritische Werte, die eine massive Baroreflexaktivierung mit entsprechender Tachykardie auslösen.
- Durch eine Veränderung der Druckverhältnisse in den Blutgefäßen der unteren Extremitäten ist die kapilläre Filtration verändert. Dadurch entweicht beim Stehen mehr Flüssigkeit in das umliegende Gewebe, was wiederum die bereits bestehende Hypovolämie weiter verstärkt.
- Im Vergleich mit Gesunden ist bei Menschen mit einer posturalen Tachykardie im Stehen die Durchblutung des Gehirns stark vermindert. Das führt reflexartig zu einer vertieften und schnelleren Atmung (Hyperventilation), die wiederum Ursache für eine Hypokapnie ist.[3]
Prognose des posturalen Tachykardiesyndroms
80 % von 40 Erkrankten gaben mindestens 18 Monate nach der initialen Untersuchung eine deutliche Besserung der orthostatischen Beschwerden an.[3]
Differenzialdiagnose
Nicht selten wird das posturale orthostatische Tachykardiesyndrom mit der Inadäquaten Sinustachykardie verwechselt, wobei die Symptome nahezu identisch sind. Gelegentlich sind Patienten auch an beiden Syndromen gleichzeitig erkrankt.
Siehe auch
Literatur
- Lois Jovanovic, Genell J. Subak-Sharpe: Hormone. Das medizinische Handbuch für Frauen (Originalausgabe: Hormones. The Woman’s Answerbook. Atheneum, New York 1987). Aus dem Amerikanischen von Margaret Auer. Kabel, Hamburg 1989, ISBN 3-8225-0100-X, S. 317 f., 382.
Weblinks
- POTS und andere Dysautonomien e.V. Deutscher Selbsthilfeverein für Betroffene von POTS
- POTS: Posturale Tachykardie auf YouTube, abgerufen am 4. Dezember 2019.
Einzelnachweise
- ICD-10-2016 (Memento des Originals vom 8. August 2016 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. Abgerufen am 19. August 2016
- Orthostatische Hypotonie. Medizin-Wissen-Online; abgerufen am 19. August 2016.
- Rolf R. Diehl: Posturales Tachykardiesyndrom. (PDF) In: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 100, Heft 43, Oktober 2003; abgerufen am 19. August 2016.
- Posturale Tachykardie durch Angststörung? medical-tribune.ch; abgerufen am 20. August 2016.
- Robert-Wartenberg-Preis der DGN. Deutsche Gesellschaft für Neurologie; abgerufen am 19. August 2016.