Onychophagie
Als Onychophagie bezeichnet man das Kauen oder Auf(fr)essen der Fingernägel, Krallen oder Klauen bei Menschen oder Tieren. Andere Begriffe dafür sind Fingernagelkauen, Nagelkauen, Nägelkauen, Nägelbeißen.[1]
Klassifikation nach ICD-10 | |
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F98.8 | Sonstige näher bezeichnete Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend |
F98.81 | Onychophagie[1] |
S69 | Sonstige und nicht näher bezeichnete Verletzungen des Handgelenkes und der Hand |
F63.8 | Andere abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle |
ICD-10 online (WHO-Version 2019) |
Beim Menschen fallen die schwereren Formen unter den Begriff „Selbstbeschädigung“, wobei die leichteren, auf Nervosität beruhenden Formen nicht unbedingt zu den Selbstverletzungen gezählt werden. Als Ursachen gelten Stress, Nervosität, Verhaltensstörungen oder nägelkauende Vorbilder. In geschädigten Bereichen ist beim Menschen die Ausbreitung von vulgären Warzen begünstigt. Häufig ist es mit einem Bekauen der umgebenden Haut (Perionychophagie) verbunden.[2][3] Vorhandene Folgen der Onychophagie wie chronische Nagelbettentzündungen oder Nagelwuchsstörungen bedürfen bei Mensch und Tier einer angepassten, meist lokalen Therapie.
Exzessives Nägelkauen gilt als Zwangspektrumstörung und kann diagnostisch als Impulskontrollstörung eingeordnet werden.
Onychophagie bei Menschen
Das Fingernagelkauen kann im Rahmen einer Zwangsspektrumstörung oder selten bei paranoiden Psychosen auftreten.[2][1] Man findet es auch bei unruhigen, leicht erregbaren und überängstlichen Kindern; dann vor allem in Stress- oder Konfliktsituationen.
Onychophagie kann unter anderem in Verbindung mit Verhaltensstörungen wie beispielsweise ADHS stehen. Geistiger Leerlauf löst bei Hyperaktiven eine innere Unruhe, Unlust und Anspannung aus, die es abzuwenden gilt. Demnach kann das Fingernägelkauen für hyperaktive Menschen eine Bedürfnisbefriedigung in psychischen Ruhephasen oder bei Langeweile darstellen.[4][5]
Wie alle Verhaltensweisen kann auch Onychophagie im Rahmen des Modelllernens erlernt und im Umkehrschluss auch wieder verlernt werden. Insbesondere Kinder können dem Fingernägelkauen verfallen, wenn sich in ihrer persönlichen Umwelt Menschen befinden, die Fingernägel kauen und diese für das Kind ein Vorbild (z. B. nahe Verwandtschaft) darstellen.
Körperliche Auswirkungen
Die wohl weitverbreitetsten Folgen der Onychophagie sind enorm verkürzte Fingernägel. Diese selbstzugeführte Verstümmelung wird durch das Knabbern an den Nägeln hervorgerufen. Betroffene reduzieren den natürlichen Nagelwuchs so lange, bis eine permanente Deformierung des Nagels eingetreten ist. Dabei wird nicht selten das Nagelbett und die umliegende Haut in Mitleidenschaft gezogen. Die dadurch entstanden Verletzungen können die Bildung von Pilzen und Warzen, Entzündungen und bakterielle Krankheiten begünstigen. Neben der Zerstörung des Fingernagels können ebenso durch das Schlucken der Knabberreste Magenschmerzen und Verdauungsprobleme auftreten. Darüber hinaus kam es bei Einzelfällen zu einer Fehlstellung der Zähne sowie Zahnfleischentzündungen.[6]
Psychische Auswirkungen
Viele Betroffene sind sich ihrer Problematik durchaus bewusst und schämen sich dafür. Dieses Schamgefühl kann soweit reichen, dass sie ihre Fingernägel kontinuierlich verstecken wollen und dadurch einer großen psychischen Belastung ausgesetzt sind. Einhergehend mit sozialem Rückzug kann es zu schweren Depressionen führen.
Therapie bei Menschen
Allgemein steht die Aufklärung des Patienten im Vordergrund. Ergänzend können in manchen Fällen Psychotherapie oder aber auch lokale Maßnahmen wie das Auftragen von Nagellack oder anderen übel schmeckenden Substanzen sowie das Tragen von Handschuhen und künstlichen Fingernägeln hilfreich sein. Für den Erfolg entscheidend ist, dass die Maßnahme freiwillig und in Absprache mit dem Patienten erfolgt.[1] Auch Selbsthilfemaßnahmen wie die Entkopplungsmethode[7] zeigen nach einer kontrollierten Studie Erfolge.[8]
Onychophagie bei Tieren
Beim Hund werden chronische Angststörungen für diese Verhaltensstörung verantwortlich gemacht.[9]
Bei Schafen ist Onychophagie dagegen keine Selbstbeschädigung, sondern eine Form des Kannibalismus. Hier kann es durch Artgenossen zum An- und Abfressen von Klauen, Ohren (Otophagie) und Schwänzen (Caudophagie) von bis zu einer Woche alten Jungtieren kommen.
Beim Hund und bei Schafen wird neben Verhaltensstörungen (z. B. durch ganzjährige Stallhaltung) ergänzend eine Mangelfütterung diskutiert.[9][10]
Therapie bei Tieren
Bei Schafen ist es üblich, aggressive Tiere von den Jungtieren zu trennen und durch Onychophagie stark geschädigte Tiere einzuschläfern.[10]
Weblinks
kostenlose Selbsthilfekonzepte des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf
Einzelnachweise
- P. Altmeyer: Therapielexikon Dermatologie und Allergologie: Therapie kompakt von A–Z. Springer, 2005, ISBN 3-540-23781-X, S. 649. (online)
- H. Zaun u. a.: Krankhafte Veränderungen des Nagels. Spitta Verlag, 2004, ISBN 3-934211-69-0, S. 21. (online)
- M. H. Beers u. a: Das MSD Manual der Diagnostik und Therapie. Elsevier, Urban & Fischer Verlag, 2007, ISBN 978-3-437-21761-6, S. 1217. (online)
- Helmut Remschmidt (2011): Kinder- und Jugendpsychiatrie: Eine praktische Einführung. 6. Auflage. Thieme, Stuttgart, S. 177.
- Zum Thema: Verhaltensauffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter (V. Faust). psychosoziale-gesundheit.net, 13. Februar 2013, abgerufen am 13. Februar 2013.
- Melissa T. Lee, Davis N. Mpavaenda, Naomi A. Fineberg: Habit Reversal Therapy in Obsessive Compulsive Related Disorders: A Systematic Review of the Evidence and CONSORT Evaluation of Randomized Controlled Trials. In: Frontiers in Behavioral Neuroscience. Band 13, 24. April 2019, ISSN 1662-5153, S. 79, doi:10.3389/fnbeh.2019.00079.
- Steffen Moritz: Selbsthilfe für Trichotillomanie und Nägelkauen (Entkopplungsmethode). UKE Hamburg, 9. Dezember 2019, abgerufen am 9. Dezember 2019.
- Steffen Moritz, Andras Treszl, Michael Rufer: A Randomized Controlled Trial of a Novel Self-Help Technique for Impulse Control Disorders: A Study on Nail-Biting. In: Behavior Modification. Band 35, Nr. 5, September 2011, ISSN 0145-4455, S. 468–485, doi:10.1177/0145445511409395.
- S. Schroll u. a.: Verhaltensmedizin beim Hund: Leitsymptome, Diagnostik, Therapie und Prävention. Kleintier konkret Praxisbuch, Thieme Verlag, 2007, ISBN 978-3-8304-1065-2, S. 59 + 297. (online)
- H. Behrens u. a.: Lehrbuch der Schafkrankheiten. Georg Thieme Verlag, 2001, ISBN 3-8263-3186-9, S. 441. (online)