On the Corner
On the Corner ist ein Studioalbum des Jazzmusikers Miles Davis, das im Juni und Juli 1972 aufgenommen und später im selben Jahr bei Columbia Records veröffentlicht wurde. Das experimentelle Album wurde von den etablierten Jazzkritikern zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung verrissen und war eines von Davis’ schlechtverkauftesten Werken.[1] Im Laufe der Zeit wurde die Kritik milder, da es später als Vorreiter des Hip-Hop, Ambient, Drum and Bass und elektronischer Tanzmusik angesehen wurde.[2] Laut Die Zeit gilt es sogar als „visionäres Meisterwerk.“[3]
Hintergrund
Davis behauptete, dass On the Corner ein Versuch war, das junge schwarze Publikum, das größtenteils das Interesse am Jazz verloren hatte, zurückzugewinnen.[4] Zwar gibt es einen erkennbaren Rock- und Funkeinfluss in den Klangfarben der eingesetzten Instrumente, in musikalischer Hinsicht verwandte der Produzent Teo Macero Collage-Techniken, die an das Konzept der Musique concrète angelehnt waren[5].
Andere Kritiker vermeinten Hinweise auf das Konzept der Minimal Music zu finden:[6] Alle Stücke des Albums hatten Schlagzeug- und Bass-Grooves als Ausgangspunkt[7] und waren mit melodischen Schnipseln aus stundenlangen Studiosessions bestückt.[8] „Auf der Basis einfacher, sich endlos wiederholender funkiger Bassmuster sollte eine abstrakte Klanglandschaft entstehen, eine Polyphonie disparater Partikel unterschiedlicher Herkunft, die unabhängig voneinander herumschwirren, sich für Momente zusammenballen, ineinander verschlingen und dann wieder auseinanderdriften, die angeknipst und wieder ausgeschaltet werden.“[3] Als musikalische Einflüsse nannte Davis den zeitgenössischen Komponisten Karlheinz Stockhausen, der acht Jahre später mit dem Trompeter im Aufnahmestudio war,[9] und den Arrangeur und Cellisten Paul Buckmaster,[10] der vorbereitende Arrangements schrieb, die aber auf dem Album dann doch nicht verwendet wurden.[3] Einige der verwendeten Grooves entstammen jedoch seinen Stücken.[8] Buckmaster und Davis nahmen auch das Lied „Ife“ in einer Session zur gleichen Zeit auf. Das Lied erschien nicht auf On the Corner, wurde aber 1974 auf dem Album Big Fun veröffentlicht.[1]
Am 2. Oktober 2007 veröffentlichte Columbia Records weiteres Material der On the Corner-Sessions auf der 6 CDs umfassenden Kompilation The Complete On the Corner Sessions, wobei sich die Aufnahmen über den Zeitraum vom Juni 1972 bis zum Mai 1975 erstrecken.[11]
Titelliste
Alle Kompositionen stammen von Miles Davis
- Seite 1
- 1. On the Corner / New York Girl / Thinkin’ One Thing and Doin’ Another / Vote for Miles – 20:02
- 2. Black Satin – 5:20
- Seite 2
- 3. One and One – 6:09
- 4. Helen Butte / Mr. Freedom X – 23:18
Track 1 wurde am 1. Juni 1972, Track 2 am 7. Juli 1972 und die Tracks 3 und 4 am 6. Juni 1972 eingespielt.
Rezeption
Innerhalb weniger Wochen nach seiner Veröffentlichung wurde On the Corner das wohl kontroverseste Album in der Geschichte des Jazz, Kritiker beschimpften es als sich wiederholender Mist und eine Beleidigung der Intelligenz der Menschen.[12] Stan Getz sprach gar von einem Klangbild, das dem Treffen einer Elefantenherde auf dem Friedhof gleiche.[6] Die einzige positive Rezension stand damals nicht in einer Jazz-Zeitschrift, sondern im Rock-Magazin Rolling Stone.[3]
Jahrzehnte später vergab hingegen Thom Jurek bei Allmusic fünf Sterne und schrieb:
“It may sound weird even today, but On the Corner is the most street record ever recorded by a jazz musician. And it still kicks.”
„Es mag selbst heute noch seltsam klingen, aber On the Corner ist das straßenmäßigste Album, das jemals von einem Jazzmusiker aufgenommen wurde. Und es ist immer noch geil.“
Die Kritiker Richard Cook und Brian Morton verliehen dem Album im Penguin Guide to Jazz lediglich 2½ Sterne (von vier) und erwähnten, die Kritiker hätten es gehasst, und damit zumeist recht gehabt; „On the Corner ist ziemlich ungemilderter, dahintuckernder Funk, und man muss ganz schön nach den experimentellen Feinheiten suchen, die sonst in Miles’ kompromisslosen Aufnahmen liegen. Während sonst die Elektronik einen düsteren Underground-Sound erzeugt, wie beim apokalyptischen Konzert in Osaka – dokumentiert auf Agharta und Pangaea, ist der Klang hier dünn und unfokussiert.“[14]
Der Davis-Biograph Peter Wießmüller bemerkte, die „vorsichtige Annäherung an die federnden Soul-Rhythmen à la James Brown oder Marvin Gaye“ zeige sich in dieser Entwicklungsphase bei On the Corner und In Concert (September 1972) nicht nur in der knalligen Covergestaltung mit den Cartoons schwarzer tanzender Hipper mit Parolen mit Vote Miles, Soul oder Free Me; Miles zeige „auch ein völliges Desinteresse an melodischen Strukturen. Jeder solistische Glanz wurde zugunsten eines kollektiven Klangkörpers verbannt. Selbst Miles’ Trompete, deren Sound mit Wah-Wah bis zur völligen Unkenntlichkeit verfremdet ist, und David Liebmans Sopranstimme ordnen sich mit phrasenhaften Kürzeln in den kollektiven Perkussionssound ein.“ Wießmüller resümiert zustimmend: „Jeder spielt nur noch genau zum goldrichtigen Augenblick, was sich zu einem straff organisierten, federnden Energiepotential anhäuft.“[15]
„Miles’ Musik entwickelte und veränderte sich von 1968 bis 1975 so schnell, dass die Firma Columbia mit der Produktion von Schallplatten kaum nachkam. Exzessiven Gebrauch von Loops, Delays und wah-wah-Effekten macht das Album ‚On the Corner‘ (1972). Es wirkte verstörend – nicht nur auf Jazzkritiker –, sondern auf das Publikum und Musiker gleichermaßen. ‚Eine Beleidigung für den Intellekt der Hörer‘, befand der Miles-Biograph Bill Cole. Und Stan Getz schimpfte: ‚Es klang wie eine Versammlung auf dem Elefantenfriedhof ... Diese Musik ist wertlos. Sie bedeutet nichts; es gibt keine Form, keinen Inhalt, und sie swingt fast überhaupt nicht.‘ ‚On the Corner‘ brachte eine weitere Umwertung aller Jazzwerte. Vieles, was in Miles’ Musik bis dahin (trotz aller Neuerung) so wichtig war – Improvisation und Melodik – trat in den Hintergrund. Grooves und Texturen wurden noch wichtiger. Viele DJs der Remixszene weisen darauf hin: ‚On the Corner‘ und die vielen anderen Platten des elektrischen Miles haben vorweggenommen, was im zeitgenössischen Turntablism mit seinen Loops, Samples und Grooves heute gang und gäbe ist. Und auch kreative Spieler der Ambient Music – Brian Eno etwa – und der Trance Musik betonen, wie prägend Miles’ Grooves und Texturen dieser Zeit waren.“
Pitchfork Media wählte On the Corner auf Platz 30 der 100 besten Alben der 1970er Jahre.[16]
Einzelnachweise
- Nate Chinen: Miles Davis – The Complete On the Corner Sessions. In: jazztimes.com. Abgerufen am 28. Dezember 2014.
- Joachim-Ernst Berendt / Günther Huesmann: Das Jazzbuch – Von New Orleans bis ins 21. Jahrhundert, 7. Auflage, Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 2007, S. 161.
- Christian Rentsch Das ist doch kein Jazz! Die Zeit, 17. März 2008.
- Dave Segal: A Fusion Supreme – Seattle Musicians Wax Ecstatic About Miles Davis’s On the Corner. In: thestranger.com. Abgerufen am 28. Dezember 2014.
- Jeremy Allen Smith: Sound, mediation, and meaning in Miles Davis's "A Tribute to Jack Johnson". 12. Juni 2009, abgerufen am 30. Dezember 2014.
- Jörg Konrad: Miles Davis. Die Geschichte seiner Musik. Bärenreiter Verlag, 2008, ISBN 978-3-7618-1818-3, S. 136.
- Dies verdeutlicht die erste Aufnahmesitzung mit Badal Roy, zu der es keine gemeinsame Vorbereitung gab. Davis sagte zu Roy einfach: „Du fängst an“, und der begann mit dem Groove, den er am häufigsten spielte – TaKaNaTaKaNaTin – kurz darauf stimmte Herbie Hancock ein, gefolgt von den anderen Musikern. Vgl. Haseeb Iqbal: ‘There is no fear’: how a cold-war tour inspired Pakistan’s progressive jazz scene. In: The Guardian. 12. Juli 2021, abgerufen am 20. Januar 2022.
- S. Victor Aaron Miles Davis pushed free-form fusion to the very limit with On the Corner (SomethingElse! (2015))
- Vgl. Barry Bergstein Miles Davis and Karlheinz Stockhausen: A Reciprocal Relationship The Musical Quarterly Vol. 76, No. 4 (Winter, 1992), S. 502.
- Michael Veal Miles Davis, The Complet On the Corner Sessions Jazz Perspectives Vol. 3, No. 3, 2009, S. 265–273 (Memento vom 30. Dezember 2014 im Internet Archive)
- The Complete On The Corner Sessions auf discogs.com
- Paul Tingen: The most hated album in jazz. In: The Guardian. 26. Oktober 2007, abgerufen am 28. Dezember 2014.
- Thom Jurek: On the Corner. In: allmusic.com. Abgerufen am 27. Dezember 2014.
- Richard Cook, Brian Morton: The Penguin Guide to Jazz on CD. 6. Auflage. Penguin, London 2002, ISBN 0-14-051521-6, S. 382.
- Peter Wießmüller: Miles Davis. Oreos, (Collection Jazz), Schaftlach um 1985, S. 170 f.
- The 100 Best Albums of the 1970s auf pitchfork.com (abgerufen am 13. Juni 2018)