Nils-Johannes Kratzer
Nils-Johannes Kratzer (* 1973) ist ein deutscher Fachanwalt für Arbeitsrecht und Strafverteidiger. Bekanntheit erlangte er durch zahlreiche Gerichtsprozesse, die er in eigener Sache wegen behaupteter Verstöße gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) führt. Im Vordergrund stehen dabei Entschädigungsklagen zu Bewerbungsverfahren, in denen Kratzer sich benachteiligt sieht. Spiegel Online bezeichnete ihn deshalb als bekanntesten „AGG-Hopper“ der Republik.[1] Kratzer bestreitet, die Entschädigungsprozesse als Einnahmequellen zu führen. Vielmehr bewerbe er sich ernsthaft auf die ausgeschriebenen Stellen und werde tatsächlich diskriminiert. Zudem bewege ihn ein „rechtspolitisches Interesse“.[2] So erklärte er gegenüber Spiegel Online, dass er nicht in einem Land leben wolle, in dem man mit 50 keine Stelle mehr finde.[3]
Leben
Kratzer legte 2001 seine zweite juristische Staatsprüfung in München ab. Von 2003 bis 2005 war er als selbständiger Rechtsanwalt tätig. In den Jahren 2006 und 2007 arbeitete er als leitender Angestellter bei einem Versicherungsunternehmen. 2008 studierte Kratzer in Südafrika und erwarb dort den Master of Laws.
Prozess gegen die R+V Versicherung
2009 kehrte Kratzer nach Deutschland zurück und bewarb sich dort intensiv bei verschiedenen Unternehmen, unter anderem bei der R+V Versicherung in Wiesbaden. Die R+V Versicherung hatte mehrere Trainee-Stellen ausgeschrieben; in der Stellenausschreibung sprach sie bewusst Hochschulabsolventen an. Kratzer erhielt auf seine Bewerbung eine Absage. Er machte daraufhin bei der R+V einen Entschädigungsanspruch in Höhe von 14.000 € wegen angeblicher Altersdiskriminierung geltend. Als Kratzer erfuhr, dass die Trainee-Stellen ausnahmslos mit weiblichen Bewerbern besetzt worden waren, forderte er zusätzlich weitere 3.500 € wegen Diskriminierung aufgrund des Geschlechts.[4]
Die R+V wies Kratzers Forderungen zurück. Dies führte zu einem mehrjährigen Rechtsstreit über mehrere Instanzen. Das Arbeitsgericht Wiesbaden und das Landesarbeitsgericht Hessen wiesen Kratzers Klage zunächst ab. Kratzer legte Revision ein. Im Jahr 2017 hob das Bundesarbeitsgericht (BAG) die Entscheidungen der Instanzgerichte auf und verwies die Rechtssache zurück an das Landesarbeitsgericht Hessen. 2018 gab das Landesarbeitsgericht Kratzers Klage teilweise statt und verurteilte die R+V zur Zahlung einer Entschädigung von 14.000 € zuzüglich Zinsen in Höhe von gut 6.000 €.[5] Das Urteil ist rechtskräftig.[6]
Weitere Gerichtsverfahren
Parallel zum Verfahren gegen die R+V prozessierte Kratzer 2009 auch gegen die Charité. Die Klinik hatte ebenfalls Trainee-Stellen ausgeschrieben und Kratzer bei der Stellenbesetzung nicht berücksichtigt. Das Arbeitsgericht Berlin und das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg wiesen Kratzers Entschädigungsklage ab, das Bundesarbeitsgericht hob diese Urteile auf. Im Gegensatz zu den Vorinstanzen erkannte das BAG Indizien, die eine unzulässige Benachteiligung Kratzers wegen dessen Alters vermuten ließen.[7]
2010 verklagte Kratzer die Münchener Diskothek Café am Hochhaus. Dort war er vom Türsteher zurückgewiesen worden, weil – angeblich nur vorübergehend – an diesem Abend keine weiteren männlichen Gäste erwünscht waren. Kratzer sah sich deshalb wegen seines Geschlechts diskriminiert.[8] Der Prozess endete mit einem Vergleich.[9] In diesem Vergleich verpflichtete sich das Cafe am Hochhaus, künftig keine Gäste mehr wegen ihres Geschlechts zu benachteiligen sowie zu einer einmaligen Zahlung an eine gemeinnützige Einrichtung.
Im Jahr 2014 scheiterte Kratzer mit einer Klage vor dem Arbeitsgericht Hamburg. Sein Mandant hatte sich bei einer Sprachschule beworben, die ausgeschriebene Stelle jedoch nicht erhalten. Rechtsanwalt Kratzer drang mit der Argumentation, sein Mandant sei wegen seiner „ethnischen Zugehörigkeit“ als Bayer benachteiligt worden, nicht durch. Die Klage wurde abgewiesen.[10]
In einem Verfahren vor dem Landesarbeitsgericht Nürnberg bemühte er sich um eine Grundsatzentscheidung über die Frage, inwieweit die Bayern oder die Franken eine Ethnie im Sinne des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes sind.[11]
2018 entschied das Bundesarbeitsgericht letztinstanzlich über eine Klage, die Kratzer 2012 gegen einen Träger diakonischer Arbeit erhoben hatte. Kratzer hatte eine Entschädigung verlangt, da ihn der diakonische Träger im Bewerbungsverfahren aus Gründen der Religion und des Alters diskriminiert habe. Das BAG gab der Klage aus Gründen des Rechtsmissbrauchs nicht statt. Kratzer habe sich nicht beworben, um die ausgeschriebene Stelle zu erhalten. Vielmehr sei es ihm mit der Bewerbung ausschließlich darum gegangen, den formalen Status eines Bewerbers zu erlangen und anschließend eine Entschädigung geltend zu machen.[12]
Das Begehren Kratzers, mit 1.000 EUR dafür entschädigt zu werden, dass er wegen seines Alters nicht zu einem Münchener Partyevent eingelassen wurde, lehnte der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 5. Mai 2021 ab, weil ein Massengeschäft im Sinne des § 19 Abs. 1 AGG nicht vorliege.[13][14][15]
Strafverfahren
2015 klagte die Staatsanwaltschaft München Kratzer wegen gewerbsmäßigen Betrugs an. Der Vorwurf lautete, Kratzer habe in mehr als 100 Fällen fingierte Bewerbungen eingereicht, um die potenziellen Arbeitgeber anschließend wegen angeblicher Diskriminierung zur Zahlung von Entschädigungen zu veranlassen. Insgesamt habe er so 80.000 € erhalten. Das Landgericht München I lehnte es ab, ein Strafverfahren zu eröffnen. Die Staatsanwaltschaft legte gegen diese Entscheidung Beschwerde ein.[16] Das Oberlandesgericht München gab der Beschwerde teilweise statt und ließ die Anklage bezüglich 35 Einzelvorwürfen zu.[17] Die Hauptverhandlung begann am 27. November 2018 vor der 12. Strafkammer des Landgerichts München I.[18] Mit einem Urteil wurde zunächst nicht vor dem Herbst 2019 gerechnet.[19] Nach insgesamt 63 Hauptverhandlungstagen erging schließlich am 6. Juli 2020 das erstinstanzliche Urteil, wonach Kratzer zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten zur Bewährung verurteilt wurde[20]. Das Urteil ist nicht rechtskräftig; Kratzer hat Revision beim Bundesgerichtshof eingelegt.[21]
Literatur
- Dietmar Hipp: Dumm und plump. In: Der Spiegel. Nr. 5, 28. Januar 2013, S. 45 (spiegel.de [PDF; 67 kB; abgerufen am 4. April 2019]).
- Elke Spanner, Petra Störmann: Gefährliche Bewerber. In: Die Zeit. Nr. 15, 5. April 2019, S. 12.
Einzelnachweise
- Elke Spanner: Umstrittener Bewerber-Anwalt – Erst die Absage, dann der Prozess. Spiegel Online, 13. November 2015, abgerufen am 16. November 2018.
- Dietmar Hipp: Dumm und plump. Der Spiegel, 28. Januar 2013, abgerufen am 16. November 2018.
- Elke Spanner: Umstrittener Bewerberanwalt - Erst die Absage, dann der Prozess. Spiegel online, 13. November 2015, abgerufen am 9. April 2019.
- Europäischer Gerichtshof: Urteil in der Rechtssache C‑423/15 vom 28. Juli 2016. Abgerufen am 16. November 2018.
- Tanja Podolski: LAG Hessen verurteilt R+V Versicherung: 14.000 Euro Entschädigung für mutmaßlichen AGG-Hopper. Legal Tribune Online, 13. November 2018, abgerufen am 16. November 2018.
- Christian Rolfs: AGG – Urteil in Sachen Nils Kratzer ./. R+V-Versicherung rechtskräftig. beck-blog, 27. Dezember 2018, abgerufen am 9. Januar 2019.
- Bundesarbeitsgericht: Urteil vom 24. Januar 2013, 8 AZR 429/11. Abgerufen am 16. November 2018.
- Sarah List, Peter T. Schmidt: Vor Bar abgewiesen – Anwalt klagt. Merkur.de, 3. März 2010, abgerufen am 16. November 2018.
- Karl Gaulhofer: Die Würde des Mannes ist antastbar – für Türsteher. Die Presse, 19. Oktober 2013, abgerufen am 16. November 2018.
- Joachim Jahn: Missbrauch des AGG – Diskriminiert, weil ich Bayer bin! FAZ, 5. Juni 2013, abgerufen am 16. November 2018.
- Tanja Podolski: „Ich hätte auch ganz gerne mal Geld verdient“. Legal Tribune Online, 9. April 2019, abgerufen am 9. April 2019.
- Bundesarbeitsgericht: Urteil vom 25. Oktober 2018, 8 AZR 562/16. Abgerufen am 19. April 2019.
- Bundesgerichtshof: BGH, U. v. 5.5.2021 - VII ZR 78/20. 5. Mai 2021, abgerufen am 29. Juni 2021.
- Pressemitteilung Nr. 091/2021: Bundesgerichtshof zu einem Entschädigungsanspruch wegen Versagung des Zutritts zu einer Musikveranstaltung. In: Bundesgerichtshof.de. 5. Mai 2021, abgerufen am 5. Mai 2021.
- Matthias Flasskamp: Mit 44 zu alt für eine Party – Münchner scheitert vor BGH. br.de, 5. Mai 2021 .
- Christian Rath: Kein Prozess gegen AGG-Hopper – Scheinbewerbungen auf diskriminierende Anzeigen kein Betrug. taz, 18. Dezember 2015, abgerufen am 16. November 2018.
- Christian Rath: Scheinbewerbung als Rechtsmissbrauch – Nur wer sich ernsthaft auf eine Stelle bewirbt, darf sich auf Antidiskriminierungsrecht berufen. taz, 29. Juli 2016, abgerufen am 17. November 2018.
- Münchner Anwalt kassiert mit AGG-Hopping kräftig ab, wird aber strafverfolgt. Haufe.de, 18. November 2018, abgerufen am 10. Dezember 2018.
- Elke Spanner, Petra Störmann: Gefährliche Bewerber. In: Die Zeit. Nr. 15, 5. April 2019, S. 12.
- Landgericht München I, Urteil vom 6. Juli 2020, Az. 12 KLs 231 Js 139171/12.
- Tanja Podolski: LG München I verurteilt Münchner Anwalt – Bewährungsstrafe für „AGG-Hopper“. Legal Tribune Online, 17. Juli 2020, abgerufen am 18. Juli 2020.