Navigation mit Hilfe von Vögeln
Irgendwann kamen Seeleute das erste Mal auf den Gedanken, Vögel mit an Bord zu nehmen, die sich beim Auffliegen in Richtung Land bewegen.
Ein hochfliegender Vogel verfügt über einen bedeutend weiteren Gesichtskreis als der Steuermann auf einem Schiff. Beträgt der Radius des Gesichtsfeldes bei einer Augenhöhe von einem Meter über der Wasseroberfläche nur knapp vier Kilometer, so vergrößert er sich bei 300 Meter Höhe schon auf 66 Kilometer. Das gilt aber nur für Land in Meereshöhe. Bei Erhebungen auf dem Festland erhöht sich dieser Wert dementsprechend.
Bibel und orientalische Sagen
Bereits im altorientalischen Sintflutbericht des Atraḫasis-Epos (1800 v. Chr.) wird die aufeinanderfolgende Aussendung dreier Vögel geschildert, einer Taube und einer Schwalbe, die jeweils zurückkehren, und schließlich die eines Raben, welcher nicht zurückkommt und so das Ende der Flut signalisiert.
In der biblischen Sintfluterzählung (1. Buch Mose 8,6) sendet Noah nach vierzig Tagen einen Raben aus, „der flog immer hin und her, bis die Wasser vertrockneten auf Erden“. Danach dreimal im Abstand von jeweils sieben Tagen eine Taube, deren erste und zweite zurückkehren, letztere mit einem Ölzweig als Zeichen für den Rückgang der Flut. Das schließliche Fernbleiben der dritten Taube wird als Zeichen für das Ende der Flut gesehen.
Im arabischen Sprachraum wird diese biblische Geschichte wie folgt erzählt: Der ausgesandte Rabe kam krank zurück, er hatte zu viel von den Leichen gefressen. Noah war darüber wütend und beschimpfte den Vogel. Als Strafe solle sein Schrei klingen, als erbreche er sich ständig – und das bis ans Ende der Welt. Enttäuscht vom Rabengeschlecht sandte Noah nun als Nächstes eine Taube aus. Sie führte ihre Aufgabe gewissenhafter aus – Tauben ernähren sich nicht von Aas.
Wikinger und Iren
Um das Jahr 870 entdeckten Wikinger Island. Der Entdecker Flóki Vilgerðarson (auch Rabenflóki genannt) nutzte drei Raben zur Navigation, um die weit im Atlantik liegende Insel zu finden. Nach dem Landnámabók war er ein bedeutender Wikinger er fuhr aus, um Gardarshólm zu suchen und stach dort in See wo es Flókavardi (Ryvarden) heißt, an der Grenze zwischen Hordaland und Rogaland. Er segelte zuerst zu den Shetlands. Flóki nahm drei Raben mit sich auf See, und als er den ersten aufließ, flog der zum Steven zurück, der zweite flog in die Luft auf und dann zum Schiff zurück, der dritte aber strich vom Steven in die Richtung ab, in der sie später das Land fanden.
In den keltischen Sagen spielt der Bruder des Meeresgottes Manannan mac Lir, Bran, eine bedeutende Rolle. Da Bran Rabe bedeutet und auch in den Sagen die Verbindung zur See gegeben ist, könnte hier der Brauch, Raben als wegweisende Vögel zu benutzen, gefunden werden.
Indien
Der „Seekompass“ der alten Inder war eine Taube. In der Digha-Nikaya, in der Kevatta Sutta, heißt es: Einstmals, o Mönch, nahmen die seefahrenden Kaufleute einen landerspähenden Vogel mit und schifften dann in das große Meer hinaus. Sobald das Schiff kein Land mehr zur Rechten hatte, ließen sie den landspähenden Vogel abfliegen. Er aber flog gegen Osten und gegen Süden, er flog gegen Westen und gegen Norden, er flog aufwärts, er flog nach allen Richtungen. Wenn er endlich Land erblickte, dann eilte er dorthin. Wenn er dagegen nirgends Land erspähten konnte, dann flog er zu seinem Schiffe zurück.[1]
Polynesien
Bemerkenswerte Anwendungsbeispiele der Vogelnavigation sind von polynesischen Seefahrern bekannt. Diese Seeleute überquerten die Wasserwüste des Stillen Ozeans in Doppelkanus und vertrauten auf ihre Fähigkeit, die Zeichen der Natur zu verstehen. Die Kenntnis des Sternenhimmels, der Strömung, der Windrichtung, des Geruchs der Luft (des nahen Landes), der Wolkenformen und der Zugrichtungen der Vögel halfen ihnen den Kurs zu bestimmen. So konnten sie anhand des Vogelfluges erkennen, in welcher Richtung das nächste Land liegen kann. Die Polynesier brachten es sogar zu einer Dressur der Vögel, ähnlich, wie wir es von den Tauben kennen. Diese dressierten Vögel sollen ihnen den Weg nach Hause gezeigt haben.
Entdeckung Amerikas
Vögel spielten auch bei der Entdeckung Amerikas eine Rolle. Entgegen den Erfahrungen der Wikinger, Inder und Polynesier hatte Christoph Kolumbus zwar keine Raben an Bord, benutzte aber die zufälligen Sichtungen von Vögeln. In seinem Logbuch ist am 8. Oktober 1492 verzeichnet: man sah viele Landvögel, und sie fingen einen von denen, die nach Südwesten flohen, es waren Tölpel, Enten und ein Pelikan. 11. Oktober: Sie sahen Sturmschwalben und eine frische grüne Binse, die nahe am Schiff vorübertrieb.
Selbst noch in der Zeit der großen europäischen Entdeckungen gab es Beispiele für eine Vogelnavigation: Pedro Fernández de Quirós (1555–1614) gab seinen Seefahrtskollegen folgende Ratschläge: Wenn man Scharen von Seevögeln begegnet, z. B. Tölpeln und Sturmvögeln, sollte man die Richtung beobachten, in welche sie fliegen und woher sie am Morgen kommen. Wenn sie sich zeitig sammeln und spät zurückkehren, fliegen sie eine große Strecke. Wenn sie sich überhaupt nicht sammeln, in der Nacht lärmen und zur Dämmerung noch nicht zu sehen sind, dann ist entweder das Land sehr nahe, oder die Vögel haben auf dem Meer geschlafen. Dabei ist zu beachten, dass diese Vögel fast immer Inselchen oder Felsenklippen aufsuchen, weil sie dann näher an den Fischgründen sind. Für den Seemann lautet die Schlussfolgerung, wachsam sein, denn eine geringe Wassertiefe, bedingt durch Sandbänke oder Korallenriffe, ist damit auch angezeigt. Wenn die Vögel, die man beobachtet, beispielsweise Enten, Wildgans, Möwe, Seeschwalben oder Flamingos sind, so ist nicht soviel Wachsamkeit nötig, weil diese Tiere auch weitab vom Land anzutreffen sind. Wenn die genannten Vögel gemeinsam fliegen, dann lässt sich allerdings auf nahes Land schließen. Diese Erfahrungswerte wurden noch bis 1921 an den Seefahrtschulen vermittelt.
Einzelnachweise
- Karl Eugen Neumann: Buddhistische Anthologie. Texte aus dem Pāli-Kanon. Leiden 1892, S. 99