Nationales Zentrum für Forensische Medizin (Abu Kabir)
Das Nationale Zentrum für Forensische Medizin (Abu Kabir) hebräisch המרכז הלאומי לרפואה משפטית (NCFM = National Center of Forensic Medicine) in Abu Kabir, Israel, ist die einzige Einrichtung in Israel, der es erlaubt ist, Leichen zu obduzieren. Es ist dem Gesundheitsministerium unterstellt und verbunden mit der Sackler-Fakultät der Universität Tel Aviv. Es ist vom israelischen Wissenschaftsrat als Institut für Rechtsmedizin anerkannt.[1]
Name
Das Nationale Zentrum für Forensische Medizin Abu Kabir wurde auf dem Gelände der verlassenen und zerstörten Ortschaft Abu Kabir südlich von Tel Aviv errichtet.
Die Ortschaft Abu Kabir wurde 1832 von den Ägyptern unter Ibrahim Pascha gegründet. Während des Palästinakrieges 1948 wurden die dort lebenden Araber verjagt. In der Folge wurden Teile der Ortschaft Abu Kabir in Giv'at Herzl umbenannt und andere Teile in Tabitha. Diese neuen Namen konnten sich aber nicht durchsetzen und die Ortschaft wird weiterhin auch von der jüdischen Bevölkerung mit Abu Kabir bezeichnet.
Das Nationale Zentrum für Forensische Medizin wurde nach Leopold Greenberg (1885–1964) benannt und erhielt deshalb den Namen Leopold-Greenberg-Institut.[2] Aber auch dieser Name wurde nicht in den allgemeinen Sprachgebrauch übernommen.
Kennzeichnend für diese Namenssituation ist, dass das Zentrum auf der offiziellen israelischen Regierungsseite National Center of Forensic Medicine (Abu Kabir) genannt wird.[1]
Geschichte
Das Nationale Zentrum für Forensische Medizin wurde 1954 von Heinrich Karplus gegründet.[3] Heinrich Karplus (geboren am 26. Oktober 1905 in Wien, gestorben 1988) war Sohn von Johann Paul Karplus und Valerie von Lieben. Valerie von Lieben war die Tochter von Anna von Lieben aus der Familie der von Todescos.[4] Karplus leitete das Zentrum von 1954 bis 1974.[5] 1955 wurde es offiziell eröffnet.
Von 1967 (Sechstagekrieg) bis 1994 (Interimsabkommen über das Westjordanland und den Gazastreifen) wurden auch Leichen von Palästinensern in diesem Zentrum obduziert. Nach 1994 richteten die Palästinenser auf Drängen von Jassir Arafat eigene Institute für Rechtsmedizin ein.
Nachfolger von Karplus als Direktor des Nationalen Zentrums für Forensische Medizin wurde Bezalel Bloch. Er musste 1985 wegen Bestechung zurücktreten, weil er Geld für eine Stellungnahme genommen hatte.
Von 1988 bis 2004 war Jehuda Hess Direktor des Nationalen Zentrums für Forensische Medizin. Danach blieb Hess bis zu seiner Entlassung 2012 leitender Forensiker des Zentrums. Die Führung des Zentrums lag in dieser Zeit beim Gesundheitsministerium und beim Assaf Harofeh Hospital.
2013 wurde Chen Kugel Direktor des Nationalen Zentrums für Forensische Medizin.[6]
Aufgaben und Ziele
Aufgaben des Zentrums sind:
- Untersuchung der Todesursache und Todesart (Behandlung von Fragen wie: wer das Opfer ist, wo und wann der Tod eingetreten ist, welche Arten von Trauma und Schäden das Opfer erlitten hat, Todesart und Todesursache).
- Unterstützung bei der Untersuchung schwerer Straftaten wie Mord durch DNA-Analyse und Auffinden eines Zusammenhangs zwischen Tatortbefunden und der Leiche und den an dem Vorfall Beteiligten.
- Identifizierung von Körpern und nicht identifizierten Personen.
- Hilfe bei der Suche nach vermissten Personen.
- Untersuchung von Körpern an dem Ort, an dem sie gefunden werden.
- Überwachung und Kontrolle der Exhumierung von Körpern (nach Erlass eines Gerichtsbeschlusses).
- Einbalsamierung von Körpern vor ihrem Transport zur Bestattung nach Übersee.
- Klinische Untersuchung, Beurteilung von Schäden und Verletzungen von Opfern sexueller und körperlicher Übergriffe.
- Untersuchung von Verdächtigen sexueller oder körperlicher Gewalt auf Anzeichen eines Traumas.
- Überwachung klinischer Untersuchungen an Opfern sexueller Übergriffe oder Missbrauchsopfern in Krankenhäusern in ganz Israel.
- Beurteilung des biologischen Alters verstorbener oder lebender Personen.
- Abstammungsgutachten nach den Bestimmungen eines Gerichtsbeschlusses.
- Abgabe einer Stellungnahme auf der Grundlage medizinischer Dokumente zum Tod oder zu Schäden durch eine Verletzung bei lebenden Personen.
- Unterstützung bei Fragen der öffentlichen Gesundheit wie unerwünschten biologischen Ereignissen oder Infektionskrankheiten.
- Zeugenaussage vor Gericht.
- Bereitstellung von Beratung und Anleitung für Mitarbeiter und verschiedene Stellen des Gesundheitssystems, der Sicherheitseinrichtungen und der Hochschuleinrichtungen.
- Lehre der forensischen Medizin an medizinischen Fakultäten und in Rechtsabteilungen.
- Anleitung zur forensischen Medizin an die israelische Polizei und an Stellen im Justizministerium.
- Ausbildung von Kinderärzten und Gynäkologen zur Identifizierung von Opfern sexueller und körperlicher Gewalt.
- Ausbildung von Personen, die sich auf forensische Medizin spezialisiert haben.
- Forschung in der forensischen Medizin.[1]
Ziele des Nationalen Zentrums für Forensische Medizin sind
- Verbesserung der Qualität der forensischen Medizin und fortlaufende Aktivitäten zur Bereitstellung forensischer medizinischer Maßnahmen.
- Verbesserung der Bereitschaft des Zentrums für Ausnahmezustände, Massenunfälle und nicht konventionelle Vorfälle.
- Entwicklung und Pflege des Humankapitals im Nationalen Zentrum für Forensische Medizin.
- Förderung von Technologien und Infrastruktur im Nationalen Zentrum für Forensische Medizin.
- Abschluss des nationalen Projekts „Rest in Dignity“.
- Förderung der Bereiche Hygiene, Sicherheit und Umweltschutz in den Aktivitäten des Nationalen Zentrums für Forensische Medizin.
- Entwicklung der akademischen Forschung in der forensischen Medizin.
- Förderung der Verbindungen zur Bevölkerung, zu Ministerien, zur israelischen Polizei, zu den Israelische Verteidigungsstreitkräfte (IDF) und zu anderen.[1]
Probleme
Neben der allgemeinmenschlichen Problematik, wie viel Respekt den sterblichen Überresten von Menschen entgegengebracht werden sollte und in welcher Form dies geschehen sollte, gibt es religiöse Schwierigkeiten. In verschiedenen Religionen, darunter die jüdische, christliche und islamische Religion, gibt es Konzepte der leiblichen Auferstehung der Toten beim Jüngsten Gericht. Diese Konzepte, nimmt man sie wörtlich, legen eine möglichst unversehrte und vollständige Beerdigung der Toten nahe. Sie können zu Widerspruch gegen Obduktionen, Organentnahmen, Verwendung der Leichen zu Studienzwecken, Feuerbestattung führen. Diesen Schwierigkeiten wird Rechnung getragen, in dem für eine Obduktion, für Organspenden und für sonstige Weiterverwendung der Leiche im Allgemeinen die Einwilligung des Verstorbenen oder seiner Angehörigen notwendig ist. Auch in Israel gibt es solche gesetzlichen Regelungen.[7][8][3]
In Israel und den umgebenden palästinensischen Gebieten gab es bereits seit der Ersten Intifada 1987 Gerüchte und Berichte, dass am Nationalen Zentrum für Forensische Medizin Leichen, insbesondere von Palästinensern aber auch von Juden, willkürlich und ohne Genehmigung der Angehörigen obduziert und ihre Organe für verschiedenste Zwecke entnommen wurden. Nach dem 2. Osloabkommen 1994 endete diese Praxis gegenüber palästinensischen Leichen, da diese nun in palästinensischen Instituten untersucht wurden.[3]
Diese Missstände am Nationalen Zentrum für Forensische Medizin wurden von verschiedenen Mitarbeitern des Zentrums kritisiert. Hauptkritiker war Chen Kugel, der von 1991 bis 2005 Mitarbeiter des Zentrums war. Er erreichte, dass Hess 2004 als Direktor abgesetzt wurde. Allerdings blieb Hess als Chefforensiker weiter im Amt, so dass keine wesentlichen Änderungen eintraten. Kugel schied 2005 aus dem Zentrum aus und kehrte erst 2013 an das Zentrum zurück nachdem Hess 2012 entlassen und 2013 in den Ruhestand gegangen war.[9][6]
2012 gelangten Berichte an die Öffentlichkeit, dass jahrelang tausende Gläser mit Leichteilen im Zentrum aufbewahrt wurden. Diese Gläser waren zwar beschriftet, aber bei vielen von ihnen war im Laufe der Zeit die Beschriftung verblichen, so dass eine individuelle Zuordnung nicht mehr möglich war. Diese Leichenteile wurden dann gemeinsam in ein Massengrab geschüttet, was zu vielen Protesten von betroffenen Familien führte.[3][10][6]
Literatur
- Suhad Daher-Nashif: Historical and Present-Day Practices of Forensic Medicine in Palestine: Body, Society, and Science, Jerusalem Quarterly 70, 2017, online als pdf
- Nancy Scheper-Hughes, Donald Boström: The Body of the Enemy in the brown journal of world affairs, Frühling/Sommer 2013 • Band xix online als pdf
- Nancy Scheper-Hughes: Organ Trafficking During Times of War and Political Conflict in International Affairs Forum, Herbst 2016 Artikel als pdf und gesamte Zeitschrift als pdf
Weblinks
Einzelnachweise
- National Center of Forensic Medicine (Abu Kabir) bei health.gov.il. Abgerufen am 4. März 2021.
- Greenberg, Leopold bei encyclopedia.com. abgerufen am 4. März 2021.
- Suhad Daher-Nashif: Historical and Present-Day Practices of Forensic Medicine in Palestine: Body, Society, and Science, Jerusalem Quarterly 70, 2017, online als pdf bei oldwebsite.palestine-studies.org. Abgerufen am 4. März 2021.
- Heinrich Karplus bei hohenemsgenealogie.at. Abgerufen am 4. März 2021.
- Karplus, Heinrich bei encyclopedia.com. Abgerufen am 4. März 2021.
- Chief Pathologist Tapped to Replace Disgraced Hiss bei haaretz.com. Abgerufen am 4. März 2021.
- In Israel gibt es Bonuspunkte für Organspender bei rp-online.de. Abgerufen am 4. März 2021.
- Eine schwere Entscheidung bei juedische-allgemeine.de. Abgerufen am 4. März 2021.
- Chen Kugel bei prabook.com. abgerufen am 4. März 2021.
- Forensic Institute buried body parts in mass grave, 2012 bei ynetnews.com. Abgerufen am 4. März 2021.