Mehrebenenanalyse
Mehrebenenanalysen (englisch Multilevel Modeling)[1], auch als Hierarchisch Lineare Modellierung (englisch Hierarchical Linear Modeling)[2] bekannt, sind eine Gruppe multivariater statistischer Verfahren zur Analyse hierarchisch strukturierter Daten (englisch nested data), die vor allem in der empirischen Sozialforschung Anwendung finden.
Im Gegensatz zu Modellen mit nur einer Ebene, werden die Daten auf mehreren Ebenen gesampelt. Mehrebenenanalysen sind deutlich flexibler als beispielsweise Anwendungen des allgemeinen linearen Modells wie Varianzanalyse und Lineare Regression, dadurch allerdings auch methodisch deutlich anspruchsvoller. Die Schätzung der Parameter erfolgt mittels Maximum-Likelihood-Methode, eine rechnerische Bestimmung ist nicht möglich. Für den Einsatz eines Mehrebenenmodells gibt es klassischerweise 2 Gründe:
1. Es liegen gruppierte (geclusterte) Daten vor (siehe Abschnitt Ebenen). 2. Es liegen Daten im Längsschnitt vor (siehe Abschnitt Messwiederholungen).
Verwandte Begriffe sind das Paneldatenmodell mit festen Effekten (englisch fixed effects model) und das Paneldatenmodell mit zufälligen Effekten (englisch random effects model), Gemischtes Modell,[3] Varianzkomponentenmodell,[4] oder Latent Curve Analysis.[5][6][7]
Inzwischen haben alle größeren Statistik-Software-Pakete Mehrebenenmodelle implementiert, so heißt die Prozedur z. B. in IBM SPSS Statistics MIXED, in SAS PROC MIXED.
Ebenen
Viele Daten, v. a. in den Sozial- und Naturwissenschaften, sind hierarchisch strukturiert, d. h. man kann sie Gruppen oder Clustern zuordnen, z. B. Kinder zu Familien, Schüler zu Schulklassen, Personen zu Wohnorten, Patienten zu Kliniken etc. Auch viele Experimente in den Sozialwissenschaften führen zu einer Gruppenbildung, z. B. Teilnehmer an Studienzentren (bei einer multizentrischen Studie).[8]
Beispiele für hierarchische Daten sind z. B. die Gruppierung von Schülern in Klassen und Schulen (3-Ebenen-Modell: Ebene 1: individueller Schüler; Ebene 2: Schulklasse; Ebene 3: Schule) oder die Zuordnung von Individuen zu Familien (2-Ebenen-Modell: Ebene 1: Kind; Ebene 2: Familie).
Kann ein untersuchtes Individuum einer Gruppe zugeordnet werden, ist von einem wechselseitigen Einflussprozess zwischen Individuum und Gruppe auszugehen. Daher kann die Vernachlässigung von Gruppierungseffekten zur Fehlinterpretation von empirischen Ergebnissen führen.[7]
Messwiederholungen
Wird beim selben Individuum dieselbe Messung wiederholt durchgeführt, kann die Zuordnung der Ebenen folgendermaßen erfolgen:
- Ebene 1: einzelne Messung beim Individuum i
- Ebene 2: Individuum i
Verfahren wie z. B. Varianzanalysen für Messwiederholungen erfordern eine spezielle Datenstruktur, z. B. dieselbe Anzahl Messzeitpunkte für alle Individuen oder Vollständigkeit der Daten für ein Individuum über alle Messzeitpunkte. Bei Anwendung von Mehrebenenmodellen kann die Anzahl der Messzeitpunkte variieren, was die Methode weniger anfällig bezüglich einzelner fehlender Daten macht.
Zu dem flexiblen Umgang mit fehlenden Daten haben Mehrebenenmodelle den Vorteil, dass sie im Gegensatz zu traditionellen Regressionen das Subjekt korrekt mit dessen Messwiederholungen assoziieren. Weiterhin wird ermöglicht, zwischen zeitlich stabilen und instabilen Prädiktoren zu unterscheiden und die intra- und interindividuellen Varianzanteile der Versuchspersonen besser zu schätzen.[8][2][6]
Anwendung
Mehrebenenmodelle werden unter anderem in der sozialwissenschaftlichen Modellbildung und Simulation eingesetzt, insbesondere, um Kontexteffekte zu modellieren. In der Psychotherapieforschung werden Mehrebenenmodelle beispielsweise im Rahmen des sog. Patient Profiling eingesetzt, um anhand von Kontextfaktoren zu Therapiebeginn (z. B. Eigenschaften des Patienten, Therapieart) Hinweise auf den zu erwartenden Therapieverlauf beim jeweiligen Patienten zu erhalten.[9]
Literatur
- Anthony S. Bryk & Stephan W. Raudenbush: Hierarchical Linear Models. Applications And Data Analysis Methods. Sage Publications, 1992.
- Ditton, Hartmut: Mehrebenenanalyse. Grundlagen und Anwendungen des Hierarchisch Linearen Modells. Juventa Verlag Weinheim und München, 1998.
- Engel, Uwe: Einführung in die Mehrebenenanalyse. Grundlagen, Auswertungsverfahren und praktische Beispiele. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 1998, ISBN 978-3531221823.
- Harvey Goldstein: Multilevel Statistical Models. Chichester: Wiley, 4. Aufl., 2011, ISBN 978-0-470-74865-7.
- Hox, J.J.: Multilevel analysis. Techniques and applications. Mahwah: Lawrence Erlbaum, 2002.
- Langer, Wolfgang: Mehrebenenanalyse. Eine Einführung für Forschung und Praxis. Wiesbaden: VS-Verlag, 2. Aufl., 2009, ISBN 978-3-531-15685-9.
- Jan de Leeuw und Erik Meijer: Handbook of Multilevel Analysis. Springer, 2008, ISBN 978-0-387-73183-4.
- Long, J. D.: Longitudinal Data Analysis for the Behavioral Sciences Using R. Thousands Oaks: Sage, 2012.
Einzelnachweise
- Harvey Goldstein: Multilevel Models in Educational and Social Research. London, Griffin, 1987.
- Anthony S. Bryk, Stephen W. Raudenbush: Application of Hierarchical Linear Models to Assessing Change. Psychological Bulletin, 1987, 101, S. 147–158.
- P. Diggle, K. Liang, S. Zeger: Analysis of Longitudinal Data. New York: Oxford Univ. Press, 1994.
- S.R. Searle, G. Casella, C.E. McCulloch: Variance components. New York: Wiley, 1992.
- W. Meredith, J. Tisak: Latent curve analysis. Psychometrika 55, 1990, S. 107–22.
- Stephen W. Raudenbush: Comparing Personal Trajectories and Drawing Causal Inferences from Longitudinal Data. Annual Review of Psychology, 2001, 52, S. 501–525.
- Ferdinand Keller: Analyse von Längsschnittdaten: Auswertungsmöglichkeiten mit hierarchischen linearen Modellen. Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie, 2003, 32 (1), S. 51–61.
- Harvey Goldstein: Multilevel Statistical Models. First Internet Edition, 1999. http://www.ats.ucla.edu (abgerufen am 14. Mai 2012)
- Wolfgang Lutz, Zoran Martinovich, Kenneth I. Howard: Patient Profiling: An Application of Random Coefficient Regression Models to Depicting the Response of a Patient to Outpatient Psychotherapy. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 1999, 67 (4), S. 571–77.