Loser’s Point
Der Loser’s Point (Verlierer-Punkt, toter Punkt) ist der geometrische Mittelpunkt eines Bildes (im Unterschied zum optischen oder visuellen Mittelpunkt, der etwas oberhalb der Mitte liegt). Meist befindet sich dort eine Person – im Allgemeinen der „Loser“ –, es kann aber auch ein Gegenstand sein. Ursprünglich stammt der Begriff aus der Filmbranche. Der US-amerikanische Kameramann Joseph V. Mascelli (1917–1981) erwähnt den Begriff 1965 als erster in seinem Buch The Five C´s of Cinematography.[1]
Beschreibung
Der „Loser“ befindet sich genau in der Bildmitte, einsam, unausweichlich und verloren. Eine leicht aufsichtige Ansicht kann den Effekt verstärken. „Die Bildmitte ist fürs Auge der tote Punkt; was sich dort befindet, wirkt unbeweglich, wie für immer auf eine Stelle fixiert.“[2] Rückt der Gegenstand aus der Mitte heraus, wirkt er sofort dynamischer und natürlicher. Wegen der fixierten Unbeweglichkeit kann der Loser’s Point trotz seines Namens aber auch für Entspannung, Konzentration und Ruhe stehen – als Gegenpol zu Hektik, Lärm und Unsicherheit.[3]
Obwohl der Begriff Loser’s Point in Amerika im Zusammenhang mit Filmen entstanden ist, kennt man die mittige Position überall schon vorher als bildnerisches Mittel für eine meist problematische Situation. So lässt sich der Begriff auch auf Fotografien oder Kunstwerke anwenden.
Beispiele in der Kunst
- In dem Ölgemälde Tullia fährt über die Leiche ihres Vaters (um 1765) von Jean Bardin (1732–1809) sitzt der Wagenlenker auf dem Schimmel genau im Loser’s Point. Entweder fährt er weiter über die am Boden liegende Leiche und begeht damit eine Leichenschändung. Oder er weicht in letzter Sekunde noch aus und missachtet damit den Befehl seiner Herrin Tullia, die ihn anweist geradeaus weiter zu fahren.[4] Die mittige Position verdeutlicht zusätzlich seinen Konflikt und macht ihn zum dramatischen Verlierer dieser Szene.
- Im Gemälde Der Wanderer über dem Nebelmeer (um 1817) von Caspar David Friedrich steht der Mann wie angewurzelt auf dem Felsen im Loser’s Point. Aber der Mann ist hier kein Verlierer (und auch kein Gewinner), sondern ein Beobachtender. Er ist ergriffen von der Erhabenheit der Natur, nachdenklich über die Undurchsichtigkeit der Zukunft oder demütig und still vor dem Göttlichen.
- In dem Bild Der Lärm der Straße dringt in ein Haus (La strada entra nella casa) von 1911, von Umberto Boccioni liegt das Ohr der Frau, die im Vordergrund groß dargestellt ist, genau in der Bildmitte. Das Ohr fällt zwar kaum auf, doch Boccioni hat es bewusst positioniert, um den Lärm der Baustelle, der Ohren und Nerven belastet, zu verdeutlichen.
Beispiele im Film
- Am bekanntesten ist der Loser’s Point wohl aus dem Schwarzweißfilm 12 Uhr mittags (High Noon) von 1952 in einer Szene gegen Ende des Films. Der von seinen Freunden verlassene Marshal Gary Cooper wartet einsam auf einer staubigen Straße in der Kleinstadt Hadleyville, um sich seinem Todfeind Jan MacDonald und dessen Gangsterbande zu stellen. Klein, in Aufsicht und im Loser’s Point wirkt der Marshal hilflos und verloren, aber dennoch fest entschlossen. (Bild: Schlussszene, Zwölf Uhr mittags)
- Im Farbfilm Vom Winde verweht (Gone with the Wind) von 1939 macht Clark Gable der temperamentvollen Südstaatenschönheit Vivien Leigh einen Heiratsantrag. Die beiden sind nicht symmetrisch angeordnet, was zusammen mit dem goldenen Hintergrund auf eine erfreuliche und harmonische Situation schließen ließe. Stattdessen sind die beiden nach rechts verschoben und Clark Gable kniet im Loser’s Point. Vivien Leigh nimmt seinen Antrag zwar an, aber er kann ihre Liebe nicht wirklich gewinnen. (Bild: Heiratsantrag, Vom Winde verweht)
- In dem Schwarzweißfilm Casablanca von 1942 gibt es gegen Ende eine Szene auf dem Flughafen von Casablanca. Humphrey Bogart (Bild Mitte) nimmt Abschied von seiner großen Liebe Ingrid Bergmann (rechts im Bild).[5] Ganz selbstlos schickt er seine Geliebte mit ihrem Mann fort. Sie sollen sich über Lissabon nach Amerika in Sicherheit bringen. Er selbst bleibt im Loser’s Point als tragischer Held zurück.
Beispiel in der Fotografie
- Die Farbfotografie von 1940 zeigt ein Deutsches Sturmboot im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront. In dem Boot liegt ein Soldat. Trotz des Krieges schläft er entspannt und genießt den Moment der Ruhe, fixiert und unbeweglich genau im Loser’s Point.
Literatur
- Joseph V. Mascelli: The Five C´s of Cinematography: motion picture filming echniques simplified. Cine/Grafic Publications, Hollywood [Kalifornien] 1965.
- Christian Mikunda: Kino spüren. Filmland Presse, München 1986.
- Friederike Wiegand: Die Kunst des Sehens. Ein Leitfaden zur Bildbetrachtung. 2. Auflage. Daedalus Verlag Joachim Herbst, Münster 2019.
Einzelnachweise
- Joseph V. Mascelli: The Five C´s of Cinematography: motion picture filming echniques simplified. Cine/Grafic Publications, Hollywood [Kalifornien] 1965.
- O. N. / Interview mit Christian Mikunda: Die Psychotricks der Filmemacher: Wie die Verführung durch Bilder funktioniert. In: Freundin (Zeitschrift). Nr. 7/1988. Hubert Burda Media Verlag, München 1988, S. 104.
- Friederike Wiegand: Die Kunst des Sehens. Ein Leitfaden zur Bildbetrachtung. 2. Auflage. Daedalus Verlag Joachim Herbst, Münster 2019, ISBN 978-3-89126-283-2, S. 23.
- Friederike Wiegand: Die Kunst des Sehens. Ein Leitfaden zur Bildbetrachtung. 2. Auflage. Daedalus Verlag Joachim Herbst, Münster 2019, ISBN 978-3-89126-283-2, S. 44.
- O. N. / Interview mit Christian Mikunda: Die Psycho-Tricks der Filmemacher: Wie die Verführung durch Bilder funktioniert. In: Freundin (Zeitschrift). Nr. 7/1988. Hubert Burda Media Verlag, München 1988, S. 104.