Lobautunnel
Der Lobautunnel ist ein jahrzehntelang geplantes Bauprojekt, das aus einem circa 8,2 km langen, zweiröhrigen Straßentunnel unterhalb des Nationalparks Donau-Auen bei Wien bestehen sollte. Der Tunnel ist ein zentrales Element der geplanten ca. 19 km langen Ostumfahrung der Bundeshauptstadt, also des Streckenabschnitts Schwechat–Süßenbrunn der Wiener Außenring Schnellstraße (S1) und damit letzten Teilstücks des etwa 200 Kilometer langen Regionenringes um die Stadt Wien. Am 1. Dezember 2021 kündigte die zuständige Verkehrsministerin Leonore Gewessler nach einer Evaluation des Projekts an, dass der Bau des Tunnels nicht weiter verfolgt wird. Der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) kündigte an, die Entscheidung zu bekämpfen.[1]
Lobautunnel | ||||
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Nutzung | Straßentunnel | |||
Verkehrsverbindung | S1 | |||
Ort | Wien | |||
Länge | geplant 8,20 km | |||
Anzahl der Röhren | 2 | |||
Größte Überdeckung | bis 60 m | |||
Bau | ||||
Bauherr | ASFINAG | |||
Fertigstellung | unbekannt | |||
Betrieb | ||||
Betreiber | ASFINAG | |||
Maut | Vignette | |||
Lage | ||||
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Koordinaten | ||||
Portal Knoten Schwechat | 48° 9′ 25″ N, 16° 29′ 37″ O | |||
Portal Essling | 48° 12′ 47″ N, 16° 32′ 48″ O |
Hintergrund
Die Straßen im nordöstlichen Wiener Stadtgebiet sind ausgelastet, während von der Stadt die Stadtentwicklung in den Gebieten forciert wird. Deswegen wurde rund um das Jahr 2000 diskutiert, wie eine Entlastung durch eine weitere Donauüberquerung erreicht werden könne. Mehrere Varianten wurden geprüft, wobei der Mobilitätsforscher Heinz Högelsberger der TU Wien im Nachhinein den Prozess so darstellt, als wäre durch politischen Kompromiss die schlechteste Lösung zur präferierten geworden.[2] Um die unterschiedlichen Positionen der beiden in der Stadtregierung vertretenen Parteien SPÖ, die den Bau in der verfolgten Variante befürwortete, und Grüne, die dagegen waren, abzubilden, wurden 2016 von der damaligen Vizebürgermeisterin und Verkehrsstadträtin Maria Vassilakou (Grüne) zwei Studien in Auftrag gegeben, eine durch ein international besetztes Expertenkomitee[3], die andere bei der Technischen Universität Wien (TU Wien).[4] Die Expertenkommission sah keine Alternative zum Bau, die TU empfahl, vom Bau abzusehen. Beide Kommissionen sahen eine relevante Wirkung zur Abnahme von Verkehr nur durch massive Investition in öffentliche Verkehrsmittel und weitere Maßnahmen wie z. B. verstärkte Parkraumbewirtschaftung gegeben.[5][6]
Der Bau des Tunnels bzw. des Teilstücks Schwechat bis Süßenbrunn soll die Ost-Umfahrung von Wien ermöglichen. Die Ortskerne von Essling, Aspern, Groß-Enzersdorf und Raasdorf sollen vom Durchzugsverkehr entlastet werden und Umwege über die A4 und A23 wegfallen. Schließlich sollen auch die geplante Marchfeld Schnellstraße (S8) und Stadtentwicklungsprojekte in der stark wachsenden Donaustadt an das hochrangige Straßennetz angebunden werden.
Technik
Trasse
Vom Knoten Schwechat verläuft die Trasse oberirdisch etwa 500 Meter, bis der Tunnel südlich des Alberner Hafens beginnt. Von dort quert sie die Donau, die Neue Donau und den Ölhafen Lobau. Im Anschluss sollen fast vier Kilometer des Nationalparks Donau-Auen im Bereich Lobau gequert werden. Nach einem weiteren Kilometer Tunnel endet die Trasse zwischen Essling und Groß-Enzersdorf bei der geplanten Anschlussstelle Essling.[7][8] Die nördliche Fortsetzung bis Süßenbrunn repräsentiert ein gesondertes Projekt.
Bauweise
Der Tunnel soll in 60 Metern Tiefe verlaufen und eine Betonschale von einem Meter Stärke besitzen. Damit soll eine Beeinflussung des Grundwassers unmöglich sein.[6] Von den ca. 8300 Tunnelmetern sind ca. 6000 als Schildvortrieb geplant. Die 7 großen und 16 kleinen Querschläge, damit sind die direkten Verbindungen zwischen den Röhren gemeint, sollen unter Vereisung des Bodens gebaut werden.[9] Die Umweltorganisation Virus spricht hingegen von einer Tiefe von 43 respektive 13 Metern gemessen an der Oberkante der Tunnel.[10]
Kurzporträt
- Ausführung: 2 Röhren mit je zwei Fahrstreifen und je einem Abstellstreifen
- Achsabstand der Tunnelröhren: 52 m
- Innenradius der Tunnelröhren: 6,15 m
- Querschläge: 7 große und 16 kleine
- Gesamtlänge: 8,20 km
- Max. Überlagerung: 60 m
- Lüftung: Querlüftung, Versorgung über zwei Schächte
Etappen
- 2002: Erste Entwurfsplanung der Wiener Stadtregierung, erste Kostenrechnung der ASFINAG
- 2009: Beginn des UVP-Verfahrens
- 2015: Positiver Bescheid der UVP durch das BMVIT (heute Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie)
- 2018: Positiver UVP-Bescheid in zweiter Instanz bestätigt
- 2021: Ankündigung der Verkehrsministerin, das Projekt nicht weiter zu verfolgen
Projektstatus
Die S 1 ist einschließlich des Abschnitts zwischen dem Knoten Schwechat und dem Knoten Wien/Süßenbrunn im Bundesstraßengesetz verzeichnet.[11]
2015 wurde die Umweltverträglichkeitsprüfung mit Bescheid positiv abgeschlossen. Damals rechnete die ASFINAG mit einem Baubeginn im Jahr 2018.[12] Eine Bestätigung des Bescheides unter weiteren Auflagen durch das BVwG erfolgte 2018.
Im Juli 2021 wurde bekanntgegeben, dass das Projekt hinsichtlich der Umweltverträglichkeit vom zuständigen Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie neu evaluiert wird.[13] Am 1. Dezember 2021 verkündete die Verkehrsministerin Leonore Gewessler in einer Pressekonferenz,[14] dass durch die Ergebnisse der Evaluierung des ASFINAG-Bauprogramms[15] der Bau des Lobautunnels endgültig gestoppt werde. Der gesamte geplante Südabschnitt der S1-Ostumfahrung samt Lobautunnel ist vom Bauende betroffen. Der Nordabschnitt der S1-Ostumfahrung (Essling – Süßenbrunn) wird nicht in der geplanten Form umgesetzt, es sollen jedoch im Zusammenhang mit der Errichtung der Marchfeld Schnellstraße Alternativen geplant werden. Der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig kündigte an, die Entscheidung rechtlich zu bekämpfen.[1] Doch auch innerhalb der SPÖ gibt es Gegner des Baus, so zeigte sich die Jugendorganisation SJ Wien erfreut über Gewesslers Absage.[16]
Die Umweltorganisation Virus machte in einer Aussendung am 7. Dezember 2021 darauf aufmerksam, dass sechs der sieben erteilten Bewilligungen beim Bundesverwaltungsgericht anhängig seien.[10]
Kritik
Grundwasser
Die zu durchörternden Gebiete sind nach Angaben des Biologen Bernd Lötsch teilweise durch Altlasten verseucht. Durch den Bau könnten Schadstoffe mobilisiert werden.[17]
Eine von Projektgegnern befürchtete Grundwasserabsenkung gilt unter Technikern als sehr unwahrscheinlich, weil erhebliche Grundwasserveränderungen ohnehin auch aus wirtschaftlichen und technischen Gründen jedenfalls zu vermeiden seien. Positive Projekterfahrungen in ähnlichen Untergründen seien durchwegs vorhanden. Moderne Bauweisen, wie das Bauen unter Überdruck oder mittels Vereisungen, kommen ohne gefährliche Schadstoffe und ohne die unwirtschaftliche Grundwasserabsenkung aus. Auch seien die geologischen Bedingungen für eine unbeabsichtigte und ständige Absenkung im Bereich der Lobau nicht gegeben.[18] Die Weltnaturschutzunion IUCN warnte 2021, dass der Bau des Lobautunnels dazu führen könnte, dass dem Nationalpark Donau-Auen die internationale Anerkennung entzogen würde, und forderte die österreichischen Behörden auf nachzuweisen, dass das Bauprojekt keine negativen Auswirkungen auf den Nationalpark haben wird.[19]
Boden und Landschaftsschutz
Der Bau des Nord- und Südabschnitt der geplanten S 1, der S 1-Spange und der Stadtstraße würde nach Angaben von Greenpeace in Wien und Niederösterreich 220 Hektar Bodenfläche dauerhaft versiegeln, von der 178 Hektar derzeit landwirtschaftlich genutzt werden.[20] Das Umweltbundesamt gibt im Bericht zur Evaluierung die dauerhafte Flächeninanspruchnahme für den Abschnitt Schwechat – Süßenbrunn der S 1 mit 156,87 ha an.[21] Der Verkehrsplaner Reinhard Seiß warnte im Rahmen einer Veranstaltung der Umweltorganisation Forum Wissenschaft & Umwelt im August 2021,[22] der Regionenring führe dazu, den Standort der ländlichen Gegend weiter zu entleeren. Das werde in weiterer Folge dazu führen, dass der Handel aus den Ortszentren wegzieht und sich an den Autobahnausfahrten ansiedelt.[23]
Zunahme der Verkehrsstärke
Ein weiterer Kritikpunkt ist der in Studien prognostizierte induzierte Verkehr. Würde von der Politik nicht gehandelt, ergab die Studie der TU, würden bis 2030 um 77.000 Autos mehr auf der Tangente fahren als mit Bau des Tunnels und massivem Ausbau des öffentlichen Verkehrs. Dass zugleich von 65.000 Autos auf der neuen Strecke ausgegangen wird und der Tunnel damit hauptsächlich eine Verlagerung, aber nur eine geringe Entlastung des Verkehrs insgesamt bewirke, betonte die Studie ebenfalls.[24] Außerdem würde sich der Verkehr von den entlasteten Gebieten auf andere Straßen im Stadtgebiet verlagern, was zu zusätzlichen Problemen führen würde.[4] In ihrem Koalitionsabkommen hat die Stadtregierung aus SPÖ und NEOS 2019 angekündigt, die CO2-Belastung durch den Verkehr bis 2030 zu halbieren und die Zahl der PKW-Einpendler nach Wien ebenfalls um die Hälfte zu verringern.[25] Die SPÖ bringt das Argument, durch die Umfahrung Wiens den Durchzugsverkehr aus der Stadt zu bekommen. Doch hat eine Kordonstudie aus dem Jahr 2010[26] ergeben, dass gerade einmal acht Prozent der Fahrten über die Stadtgrenze Wien queren und Ziele außerhalb von Wien ansteuern, nur vier davon queren dazu die Donau.[24] Barbara Laa von der TU geht davon aus, dass der Lobautunnel Transitfahrten durch den Raum Wien attraktiver machen würde, statt sie abzuhalten.[24]
Alternativen
Als Alternative für den Bau wurden verschiedene Szenarien entworfen. Bereits die Studien, die sich für den Bau des Lobautunnels aussprachen, sahen eine nachhaltige Verkehrsentlastung nur mit paralleler Einführung des Parkpickerls in allen Wiener Bezirken und einem starken Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel vor.[5][4][3] Mit 2022 ist in allen Wiener Bezirken ein Parkpickerl notwendig, das nur erworben werden kann, wenn ein Hauptwohnsitz im Bezirk gemeldet ist. Damit soll auch Pendeln mit PKW innerhalb der Stadtgrenzen erschwert werden. Weiters wird der viergleisige Ausbau der Ostbahnbrücke, Taktverdichtung und Ausbau der S80 sowie das Vorziehen des schon projektierten Ausbaus der Straßenbahnlinien 25 und 27 empfohlen.[27] Die SJ Wien forderte, dass die durch die Absage des Tunnels frei werdenden Milliarden für den Ausbau des Öffentlichen Verkehrs verwendet werden.[16] Um 2 Milliarden Euro könnten mindestens 100 Kilometer Straßenbahnschienen verlegt werden. Derzeit sind laut Wiener Linien alle Gleise der Stadt 172 Kilometer lang.[24]
Einzelnachweise
- David Krutzler: Verkehrsministerin Gewessler sagt Milliardenprojekt Lobautunnel ab. In: derstandard.at. 1. Dezember 2021, abgerufen am 1. Dezember 2021 (österreichisches Deutsch).
- Heinz Högelsberger: Gastkommentar - Die unendliche Lobau-Autobahngeschichte. In: wienerzeitung.at. 6. Juli 2021, abgerufen am 11. Oktober 2021.
- Gerd-Axel Ahrens et al.: Wiener Außenring Schnellstraße Schwechat - Süßenbrunn - S1 Donauquerung: Bericht der ExpertInnengruppe. 2017, abgerufen am 9. Dezember 2021.
- Herrmann Knoflacher et al.: Auswirkungen der Lobauautobahn auf die Stadt Wien. Institut für Verkehrswissenschaften der TU Wien, 2017, abgerufen am 8. Dezember 2021.
- Lobautunnel-Studie liegt vor: Vassilakou weiter dagegen. In: kurier.at. 29. Januar 2018, abgerufen am 9. Dezember 2021.
- Robert Lechner, Eva Maria Bachinger: Kommentar der anderen - Pro und Kontra: Braucht es den Lobautunnel? In: derStandard.at. 20. Juli 2021, abgerufen am 30. August 2021 (österreichisches Deutsch).
- IGP ZT GmbH: S 1, Wiener Außenring Schnellstraße - Lärmtechnik & Umwelt - Analysen & Studien - Referenzprojekte - IGP - Ziviltechniker GmbH. Abgerufen am 30. August 2021.
- Johannes Gress: Lobau-Tunnel in Wien: Die "Umweltsünde" einer "Klima-Musterstadt". In: moment.at. 22. April 2021, abgerufen am 30. August 2021.
- S1 Tunnel Lobau | ste.p ZT-GmbH. Ingenieurbüro ste.p ZT GmbH, abgerufen am 30. August 2021.
- Wolfgang Rehm, VIRUS - WUK-Umweltbureau: Lobautunnel-Verfahren: Mehrere Verfahrensparteien lehnen befangenen Grundwasser-Gutachter ab. In: OTS.at. 7. Dezember 2021, abgerufen am 7. Dezember 2021.
- RIS - Bundesstraßengesetz 1971 - Bundesrecht konsolidiert, Fassung vom 07.12.2021. Abgerufen am 7. Dezember 2021.
- ASFINAG: S 1 Wiener Außenringschnellstraße mit Lobau-Tunnel ist unverzichtbar. Abgerufen am 30. August 2021.
- Lobautunnel: Kann Gewessler Asfinag Weisung erteilen? In: diePresse.com. 23. Juli 2021, abgerufen am 30. August 2021.
- Julia Wenzel: Gewessler stoppt Lobau-Tunnel. In: diePresse.com. 1. Dezember 2021, abgerufen am 1. Dezember 2021.
- Klimacheck: Ergebnisse ASFINAG-Bauprogramm liegen vor. BMK, 1. Dezember 2021, abgerufen am 1. Dezember 2021.
- Sozialistische Jugend Wien: SJ-Toumi: „Baustopp der Lobauautobahn muss der Anfang der Mobilitätswende in Wien sein!“ In: OTS.at. 1. Dezember 2021, abgerufen am 9. Dezember 2021.
- wien ORF at/Agenturen red: Lobautunnel: Biologe warnt vor Umweltproblem. 12. August 2021, abgerufen am 30. August 2021.
- Kolymbas, D. (Dimitrios): Tunelling [sic] and tunnel mechanics: a rational approach to tunnelling. Springer, 2008, ISBN 978-3-540-25196-5.
- Christian Schuhböck, Alliance for Nature: Gastkommentar: Ein Nationalpark an der Kippe. In: wienerzeitung.at. 15. Juni 2021, abgerufen am 1. Dezember 2021.
- Michael Lohmeyer: Lobau: Acker statt Baustelle. diePresse.com, 30. November 2021, abgerufen am 8. Dezember 2021.
- Evaluierung hochrangiger Straßenbauvorhaben in Österreich. Umweltbundesamt, 2021, S. 62, abgerufen am 8. Dezember 2021.
- 3 Fachgespräche: Lobau-Tunnel: Symbol für eine zukunftsfeindliche Politik | FWU | Forum Wissenschaft & Umwelt. 11. August 2021, abgerufen am 18. Januar 2022 (deutsch).
- noen.at: Stadtplaner Seiß: „Kein Mut, die Autos zu verbannen“. 18. August 2021, abgerufen am 18. Januar 2022.
- Matthias Winterer: Lobautunnel - Droht Wien jetzt das Verkehrschaos? In: wienerzeitung.at. 9. Dezember 2021, abgerufen am 10. Dezember 2021.
- Die Fortschrittskoalition für Wien (Koalitionsvertrag zwischen SPÖ und NEOS): Kapitel 3.2 Klimaverträglicher Verkehr. 2020, abgerufen am 9. Dezember 2021.
- Planungsgemeinschaft Ost: Kordonerhebung Wien in den Jahren 2008 bis 2010. April 2011, abgerufen am 10. Dezember 2021.
- Alexander Behr: Kommentar der anderen: Das große Sorgenkind Verkehr. In: derStandard.at. 9. Dezember 2021, abgerufen am 9. Dezember 2021 (österreichisches Deutsch).