Lithotomus
Ein Lithotomus oder Steinschneider war ein bis ins 19. Jahrhundert ausgeübter medizinischer Beruf, der vielfach gleichzeitig mit der Tätigkeit als Okulist (Starstecher) und Wundarzt ausgeübt wurde. Sein Wirkungsgebiet lag in der Entfernung von Blasensteinen mittels Steinschnitt (Lithotomie).
Die Bildung von Blasensteinen war eine häufige Folgeerscheinung früherer Ernährungsgewohnheiten. Zur Beseitigung der zu schmerzhaften Koliken führenden und das Wasserlassen verhindernden Steine wurden die Dienste eines Lithotomus in Anspruch genommen.
Dazu fanden zwei verschiedene Verfahren Anwendung:
- Im Kindesalter erfolgte eine manuelle Fixierung des Steines durch den Anus am Damm, wo er mittels eines Schnittes herausgezogen wurde.
- Bei erwachsenen Personen musste ein aufwendigeres Verfahren angewandt werden: Über einen, laut Georg Fischer erstmals 1525 von Giovanni de Romanis beschriebenen und von dessen Schüler Mariano Santo bekannt gemachten[1] Schnitt in die Harnröhre unterhalb der Prostata führte der Lithotomus seine Werkzeuge in die Blase ein, um den Stein zu greifen und durch den Blasenhals herauszuziehen. Aufgrund der nicht vorhandenen Hygiene sowohl des Operateurs als auch der Instrumente kam es häufig zu Entzündungen mit tödlichen Folgen. Abgesehen davon konnte sowohl durch operative Fehler als auch durch schlechte Anatomie-Kenntnisse des Steinschneiders der Schließmuskel durchschnitten werden, was zu dauerhafter Inkontinenz führte.
Seit dem 19. Jahrhundert wurde diese Tätigkeit gänzlich von Chirurgen wahrgenommen, am Verfahren änderte sich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wenig, ehe moderne Methoden der Urologie Einzug hielten.
Der wohl bekannteste deutsche Lithotomus war Johann Andreas Eisenbarth („Doktor Eisenbarth“); bereits Mitte des 16. Jahrhunderts wurde der Schweizer Wundarzt Lenhart Steinmann in Lübeck gerühmt. Als bester Steinschneider im 16. Jahrhundert galt der französische Chirurg Pierre Francou (* um 1500; † um 1580).[2] Der Wundarzt Gabriel Senf († 1738) war vor allem wegen seiner Steinschnitt-Operation in Seitenlage bekannt. Diese Operation findet sich abgedruckt bei Lorenz Heister,[3] dessen Sohn Elias Friedrich Heister den Operationsbericht aufgezeichnet hatte.[4] In Frankreich und darüber hinaus brachte es Jacques de Beaulieu (1651–1714), genannt Frère Jacques, in der Wende zum 18. Jahrhundert zu großer Bekanntheit, und er führte auch schon eine frühe Form des lateralen Steinschnitts ein. Ein weiterer bekannter Steinschneider seiner Zeit und Erfinder einer Steinzange[5] zum Zerbrechen der Blasensteine war der französische Chirurg Jean Baseilhac (1703–1781). Eine frühe Darstellung der Operationstechnik findet sich bei Georg Bartisch. Im 18. Jahrhundert führten William Cheselden und sein Schüler John Hunter den lateralen Steinschnitt in England ein. In den Niederlanden, wo auch Frère Jacques operierte, praktizierte dies Johannes Jacobus Rau. Einer der letzten großen Steinschneider war Vincenz von Kern, der noch 1828 ein Lehrbuch darüber veröffentlichte. Bald darauf kam durch Jean Civiale die nicht-invasive bzw. minimal-invasive Technik der Lithotripsie auf, bei der die Blasensteine in der Harnblase durch ein spezielles durch die Harnröhre eingeführtes Instrument zertrümmert wurden.
Ein Musik- oder Bühnenstück Der Steinschnitt beschreibt diese verbreitete Operation im 17. Jahrhundert.[6]
Die bereits in der Antike im 1. Jahrhundert v. Chr. von Ammonios (griechischer Chirurg in Alexandria), genannt „der Steinschneider“, angewandte Form des Steinschnitts, die ohne Zerreißung des kranialen Abschnitts der Harnröhre (von Celsus als „Blasenhals“ bezeichnet) vonstatten gehen sollte, wurde von Aulus Cornelius Celsus beschrieben: Hierzu wurde zunächst der Damm und die Harnröhre (Urethra) angeschnitten. Durch die Schnittöffnung wurden dann die Instrumente über die Urethra in die Harnblase eingeführt.[7]
Siehe auch
Weblinks
Einzelnachweise
- Georg Fischer: Chirurgie vor 100 Jahren. F. C. W. Vogel, Leipzig 1876, S. 521 f.
- Barbara I. Tshisuaka: Francou, Pierre. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/ New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 419 f.
- Lorenz Heister: Chirurgie […]. 1763, S. 869–871.
- Axel Wellner: Empfehlungsschreiben des berühmten Chirurgen Lorenz Heister (1683–1758). Ein interessantes Dokument im Osteroder Stadtarchiv. In: Medizinhistorische Mitteilungen. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte und Fachprosaforschung. Band 36/37, 2017/2018 (2021), S. 39–51, hier: S. 47 mit Anm. 44.
- Barbara I. Tshisuaka: Basheilac, Jean. In: Werner E. Gerabek u. a. (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. 2005, S. 152.
- Starstecher, Steinschneider und doctores medicinae - Ö1-Serie: Radiodoktor - Medizin und Gesundheit, vom 7. Jänner 2013
- Jutta Kollesch, Diethard Nickel: Antike Heilkunst. Ausgewählte Texte aus dem medizinischen Schrifttum der Griechen und Römer. Philipp Reclam jun., Leipzig 1979 (= Reclams Universal-Bibliothek. Band 771); 6. Auflage ebenda 1989, ISBN 3-379-00411-1, S. 139 und 198 (zu Aulus Cornelius Celsus, Die Medizin, Buch VII, Kap. 26,3).