Leonhard Widmer
Leonhard Widmer (* 12. Juni 1808 in Feldmeilen; † 18. Mai 1868 in Oberstrass) war ein Schweizer Dichter, Förderer des Volksgesangs und Gründer einer Musikalienhandlung mit Verlag.
Widmer war Verfasser von zahlreichen Gedichten. Von den 74 Gedichten, die nach seinem Tod gesammelt veröffentlicht wurden, sind mehr als die Hälfte vertont. Sein Schweizerpsalm von 1840 wurde 1981 definitiv zur offiziellen Schweizer Landeshymne erklärt.
Leben und Werk
Leonhard Widmer wird am 12. Juni 1808 in Feldmeilen geboren und wächst am Zürichsee auf. 1815 kauft sein Vater eine Gärtnerei in Hirslanden, wo die Familie auch nach dem Tod des Vaters 1817 wohnhaft bleibt. Widmers Mutter setzt sich stark für eine gute Schulbildung ein und ermöglicht dem jungen Leonhard ab 1819 den Besuch des «Landknaben-Instituts» in Zürich. Ab 1823 macht Widmer seiner Mutter zuliebe eine kaufmännische Ausbildung und arbeitet kurze Zeit in der Musikalienhandlung des zeitlebens von ihm hochgeschätzten Sängervaters Hans Georg Nägeli. 1828 wechselt er nach Lausanne, hört an der dortigen Universität Vorlesungen und arbeitet als Privatlehrer in Morges. In dieser Zeit entstehen auch seine ersten Gedichte, und Widmer bekennt rückblickend: «in den Jünglingsjahren machten mich Liebe und Natur zum Dichter.»
1833 kehrt Widmer nach Zürich zurück und findet bald eine Stelle als Lithograph. Widmer, der sich zeitlebens für die die gesellschaftliche wie politische Entwicklung sehr interessiert und aktiv daran teilnimmt, wird bald Mitglied in zahlreichen Vereinen und Freundschaftsbünden (z. B. dem Sängerverein «Harmonie» und dem «Unterhaltungszirkel zur Biene»). In dem auch in Zürich heftig tobenden Streit zwischen konservativen und liberal-radikalen Kräften steht Widmer klar auf der liberalen Seite, und bezieht 1839 Position für den Reformtheologen Strauss. Diese Positionen kosten ihn die Anstellung, doch mit Hilfe seines Freundes Salomon Rüschli kann er sich mit einem eigenen Lithographiegeschäft selbstständig machen und u. a. volkstümlicher Musikalien herausgeben. «Seiner Ansicht nach sollte und konnte das Volkslied die damals in Glaubensstreitigkeiten gespaltenen Eidgenossen verbinden und ihre Einigkeit wiederherstellen»[1]. Widmer steht jetzt, in den 1840er Jahren, auf der Höhe seines Lebens, verfasst eine Reihe seiner bekanntesten Gedichte und steht in Kontakt zu Komponisten, Sängern und Sängervereinen in der ganzen Schweiz. Über die politischen Zerwürfnisse in der Schweiz ist er zutiefst beunruhigt, wenn auch mit klarer eigener Haltung. Erst ab 1855 «tritt eine Wende ein. Sind bisher Natur, Vaterland und Freiheit die Grundtöne gewesen, so scheinen vor allem seine nationalen Hoffnungsträume (mit der Bundesverfassung von 1848) in Erfüllung gegangen zu sein»[2].
Ende der 1850er verkauft Widmer sein Lithographiegeschäft und erwirbt das Landhaus «Zum schönen Grund» in Oberstrass. Er betätigt sich v. a. als Gastwirt seiner vielen Freundeskreise sowie mit einer kleinen Landwirtschaft. Nach mehreren Schlaganfällen stirbt er am 18. Mai 1868. Zurückgehend auf seinen Biographen Schollenberger wird er oft mit den Attributen «Dichter, Schriftsteller, Sängervater und Förderer des volkstümlichen Gesangs, Gemütsmensch, von wahrer Frömmigkeit, Lebenskünstler, populärer Sonderling, leiblichen Genüssen zugetan, Menschenfreund, politisch interessierter Mensch, Original, Frohnatur, zu derben Spässen aufgelegt, schrulliger Typ, Jasser, Pfeifen- und Zigarrenraucher, Weinliebhaber, impulsive Natur, Freund der Geselligkeit, Natur- und Tierfreund …» versehen.
Der Schweizerpsalm
Wohl Ende der 1830er lernt Widmer den Wettinger Stiftskapellmeister Pater Alberich Zwyssig als Kunde seines Lithographiegeschäfts kennen und freundet sich mit dem musikalisch und charakterlich ähnlichen Geist an. Die politischen Differenzen um die Vertreibung der Wettinger Mönche, bei der Widmer klar auf Seiten der Klosterauflöser steht, lassen diese Freundschaft aber stark abflauen.
Widmer ist zwar politisch fest liberal verwurzelt, dennoch schmerzt ihn der Streit und das drohende Auseinanderfallen der Schweizerischen Staatenbundes. Dieser Sehnsucht nach einer friedvollen und geeinten Schweiz gibt er in mehreren Gedichten Ausdruck, so auch in der Urversion des «Schweizerpsalms»[3]. Vermutlich im Frühjahr des Jahres 1841[4] trägt er den Text im «Unterhaltungszirkel zur Biene» vor. «Die Freunde waren tief ergriffen» schreibt Schollenberger, der Text trifft den patriotischen Nerv und die Sehnsucht jener Zeit, und so beschliessen die Bienenfreunde, den Text Widmers ohne dessen Wissen zur Vertonung an Zwyssig weiterzuleiten.
Zwyssig erinnert sich einer früheren Komposition, deren musikalische Aussagekraft er in Widmers «Schweizerpsalm» wiederfindet, und die er gerne mit dem – allerdings anzupassenden – Text unterlegen möchte. Zwyssig und Widmer nehmen Briefkontakt auf, um den Text in die vertonte endgültige Form zu bringen. Da der Briefwechsel nicht erhalten ist, kann nicht geklärt werden, wer welche Änderung angeregt oder durchgeführt hat[5]. Nach der Vertonung des Schweizerpsalms, der im Herbst 1841 erstmals erklingt, bleiben Autor und Komponist einander freundschaftlich verbunden und Zwyssig besucht Widmer etwa jährlich.
Originaler Text des Schweizerpsalms von Leonhard Widmer 1840 | Text nach der Vortonung durch Alberich Zywssig (völlig neu eingefügte Wörter in kursiv)[6][7] | |
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1 |
Trittst im lichten Morgenrot daher, |
Trittst im Morgenroth daher |
2 |
Trittst im Abendglüh’n daher, |
Kommst im Abendglüh'n daher |
3 |
Trittst im grauen Nebelmeer, |
Ziehst im Nebelflor daher |
4 |
Trittst im wilden Sturm daher, |
Fährst im wilden Sturm daher |
Originaltext und vertonter Text unterscheiden sich nur geringfügig. Insbesondere bleiben das unitarische Gottesbild und die prägenden Gottestitel erhalten. Der anthropomorphe Auftritt Gottes in den Naturbildern wird durch die zusätzlichen «kommst», «ziehst» und «fährst» verstärkt. Ebenso wird die Gefahr verstärkt, Gott und Naturbild pantheistisch zu identifizieren, wenn Gott im Naturbild gesehen und gefunden statt nur gesucht wird. Im Gegenzug wird der formstrenge Text Widmers durch diese Änderungen an die voluminöse Melodie angepasst. Widmers Kernthema, die Sorge um die Zukunft der zerstrittenen Schweiz und sein Aufruf zu Einigkeit («Betet, Schweizer, betet!»), das sich im Suchen und Ahnen des hehren Vaterlandes widerspiegelt, wird dadurch allerdings zurückgedrängt.
Durch die anderen beiden Änderungen wird das Gottvertrauen, der Tenor im Leben Zwyssigs, stärker betont. In Strophe 4 ist konkret von kindlichem (also unbedingtem) Vertrauen in jeder Not (nicht nur bei Gewitter) die Rede. In Strophe 2 wird aus einem besorgt-sehnsüchtigen «soll ich träumen» ein vertrauensvolles «kann ich träumen».
Vertonte Gedichte
Eine kleine Auswahl der bekanntesten vertonten Gedichte Widmers[8]:
- Alpenleben (Wo Berge sich erheben), vertont von J. G. Laib
- Schweizerheimweh (Es lebt in jeder Schweizer Brust), vertont von J. R. Weber
- Sehnsucht nach den Bergen, vertont von Ignaz Heim
- S’Schwyzerhüüsli, vertont von Franz Abt
Einzelnachweise
- Hunziker, S. 12 f. Die Streitigkeiten verliefen freilich nicht oder nicht nur zwischen den Konfessionen, sondern vor allem zwischen konservativen und fortschrittlichen Kreisen unter Reformierten und Katholiken.
- Spörri, S. 21
- Ob Schweizerpsalm bereits der Titel des Ur-Gedichts war, ist unklar. Spörri behauptet das, Hunziker gibt den Text allerdings ohne Titel wieder und schweigt sich sonst über den Ursprung des Titels aus.
- Der Entstehungszeitpunkt oder -zeitraum des Gedicht ist nicht eindeutig zu klären. Spörri gibt auf Seite 10 an, dass es 1840 geschrieben wurde. Das Katholische Gesangbuch der deutschsprachigen Schweiz (Nr. 563) schreibt «vor 1841». Meng (S. 38) setzt im Sommer 1841 ein, als das Gedicht bei Zwyssig eintrifft – Textung und Vortrag vor den Bienenfreunden liegen also sicher (kurz) davor. Hunziker (S. 26) verlegt das ganze Geschehen ohne nachvollziehbare Quellennennung in das Jahr 1842.
- Hunziker (S. 29) schreibt die Änderung im Wesentlichen Widmer, Spörri (S. 11) im Wesentlichen Zwyssig zu.
- Der Text folgt in den ersten beiden Strophen buchstabengetreu der Handschrift Zwyssigs in der Schweizer Landesbibliothek Bern
- Zu späteren Fassungen des Schweizerpsalms und der heutigen Schweizer Landeshymne bestehen drei Abweichungen:
- In Strophe 1 steht statt Alpenfirn oft Alpen Firn. Die offizielle Landeshymne ist wieder zur ursprünglichen Schreibweise in einem Wort zurückgekehrt
- In Strophe 3 schreibt die Landeshymne Tritt die Sonne ...
- Im Refrain wurde den Herrn eingefügt
- nach Hunziker, S. 17 ff.
Literatur
- Hermann Schollenberger: Leonhard Widmer. «Der Dichter des Schweizerpsalms». Sauerländer, Aarau 1906.
- Fritz Hunziker: Leonhard Widmer, der Dichter des Schweizerpsalms. Ein Dichter aus dem Volk für das Volk. Ebner, Meilen 1958.
- Hubert Spörri: Leonhard Widmer, P. Alberik Zwyssig und der Schweizerpsalm. Verlag der Gönnervereinigung Widmer-Zwyssig, Wettingen 2008.
- Schweizerpsalm. Bearbeitet von Bonifaz Kühne. Dichtung nach Leonhard Widmer. Komponist: Alberich Zwyssig. [Partitur], 9. Auflage; für 4-stimmigen gemischten Chor. Euphonia-Musikverlag, Hochdorf [1993]