Kulturgebundenes Syndrom

Als kulturgebundenes Syndrom (englisch culture-bound syndrome, k​urz CBS) werden i​n der Medizin, Klinischen Psychologie, Medizinethnologie u​nd Ethnomedizin psychische o​der somatische Symptome bezeichnet, d​ie auf e​ine bestimmte (ethnische) Gesellschaft o​der Kultur beschränkt s​ind und b​ei denen biochemische Ursachen o​der Organveränderungen n​icht nachweisbar sind. In anderen Kulturen i​st das Krankheitsbild unbekannt.

Der Begriff w​urde 1994 i​n das amerikanische Diagnostic a​nd Statistical Manual o​f Mental Disorders (DSM-IV) aufgenommen; i​m Anhang 1 dieses Werkes i​st auch e​ine Übersicht d​er häufigsten kulturgebundenen Syndrome verzeichnet.

Merkmale

Kulturgebundene Syndrome weisen folgende Merkmale auf:

  1. kulturinterne Einstufung als echte Krankheit
  2. großer Bekanntheitsgrad innerhalb der Kultur
  3. fehlende Kenntnis dieser Krankheit in anderen Kulturen
  4. keine nachweisbaren biochemischen oder organischen Ursachen
  5. Diagnose und Therapie erfolgen meist innerhalb der lokalen Volksmedizin

Einige kulturgebundene Syndrome können körperliche Symptome aufweisen (beispielsweise Schmerzen, funktionelle Körperstörungen), während andere s​ich ausschließlich i​n Verhaltensstörungen äußern.

Westliche Betrachtungsweise

Ob kulturgebundene Syndrome tatsächlich existieren, i​st innerhalb d​er evidenzbasierten Medizin umstritten. Vor a​llem zwischen Anthropologen u​nd Psychiatern w​ird die Frage kontrovers diskutiert. Die Anthropologie n​eigt dabei dazu, d​ie kulturspezifischen Aspekte besonders z​u betonen, während d​ie Psychiatrie e​her universelle u​nd neuropsychologische Erklärungsansätze verfolgt.

Auswahl kulturgebundener Syndrome

Afrika

  • Ufufuyane: eine Verhaltensstörung in Südafrika und Kenia bei den Bantu und Zulu

Europa und Nordamerika

Lateinamerika

  • Susto: Angstzustände und körperliche Beschwerden durch emotionale Traumata oder Mitleiden mit anderen[1][2]
  • Grisi siknis: eine Art von Hysterie bei den Miskito in Nicaragua und Honduras

Arktische Regionen

China

  • Qigong psychotische Reaktion: psychotische Episode infolge von intensivem Praktizieren von Qigong mit Dauer von mehreren Tagen oder Wochen
  • Suo yang: ähnlich wie Koro
  • Frigophobie, Mandarin pa-len oder wei-han: Angst vor Kälte

Taiwan

  • Hsieh-ping: „Geisterkrankheit“ mit Trancezuständen[3][4]

Japan

  • Hikikomori: Menschen, die sich freiwillig in ihrer Wohnung oder ihrem Zimmer einschließen und den Kontakt zur Gesellschaft auf ein Minimum reduzieren
  • Taijin Kyōfushō: soziale Angst, andere Personen durch bestimmtes Verhalten oder Auftreten zu beleidigen

Indien

  • Dhat-Syndrom: Furcht vor Samenverlust und daraus folgenden Verlust von Lebensenergie

Malaysia, Indonesien, Philippinen

  • Amok: Gewalthandlungen mit Todesfolgen
  • Koro: Furcht davor, dass sich der Penis in das Körperinnere zurückzieht und der Tod eintritt; seltener bei Frauen, bei diesen bezogen auf Brüste oder Schamlippen
  • Latah: psychische Störung

Siehe auch

  • Ajase-Komplex (an Japan ausgerichtetes psychoanalytisches Konzept)
  • Amae (Japaner-Diskurs: Abhängigkeitsbedürfnis zwischen Mutter und Kind)

Literatur

  • American Psychiatric Association: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. 4. Auflage. American Psychiatric Association, Washington 1994 (englisch).
  • Peter J. Guarnaccia, Lloyd H. Rogler: Research on Culture-bound Syndromes: New Directions. In: American Journal of Psychiatry. Band 156, September 1999, S. 1322–1327 (englisch).
  • W. G. Jilek: Psychiatric Disorders: Culture-specific. In: International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences. Elsevier Science, 2001, S. ?? (englisch).
  • Raymond H. Prince: In Review. Transcultural Psychiatry: Personal Experiences and Canadian Perspectives. In: Canadian Journal of Psychiatry. Band 45, 2000, S. 431–437 (englisch).
  • Weng-Shing Tseng: Handbook of Cultural Psychiatry. Academic Press, San Diego 2001 (englisch; siehe besonders Kapitel 13: Culture-related Specific Syndromes).

Einzelnachweise

  1. S. C. Weller, R. D. Baer u. a.: Regional Variation in Latino Descriptions of Susto. In: Cult Med Psychiatry. Band 26, Nr. 4, Dezember 2002, S. 449–472 (englisch; PMID 12572769).
  2. B. P. Bayles, D. A. Katerndahl: Culture-bound Syndromes in Hispanic Primary Care Patients. In: Int J Psychiatry Med. Band 39, Nr. 1, 2009, S. 15–31 (englisch; PMID 19650527).
  3. J. K. Wen: Folk Belief, Illness Behavior and Mental Health in Taiwan. In: Changgeng Yi Xue Za Zhi. Band 21, Nr. 1, März 1998, S. 1–12 (englisch; Besprechung: PMID 9607258).
  4. Wiki-Eintrag: Hsieh-Ping Syndrome (a.k.a. „Ghost Sickness“). In: Trooper. 21. März 2010, abgerufen am 15. Juli 2014 (englisch).
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