Korpuswerk
Korpuswerke sind eine Gattung der kulturgeschichtlichen Wissenschaftsliteratur[1]: die meist mehrbändigen, großformatigen und durchgehend illustrierten Kataloge von Realien aus einem geschichtlich und regional eng umgrenzten Fachgebiet. Sie sind auf Vollständigkeit hin angelegt[2] und behandeln einen historisch abgeschlossenen, meist weit zurückliegenden Gegenstandsbereich. Ihre Entstehung beruht auf jahre-, meist sogar jahrzehntelanger, in der Regel institutionell unterstützter[3] Sammel- und Forschungsarbeit. Die Arbeit am Sarkophagcorpus (Die antiken Sarkophagreliefs) dauert beispielsweise bereits seit 150 Jahren an, jene am Corpus Inscriptionum Latinarum noch länger.
So gibt es beispielsweise (archäologische[4]) Korpuswerke zu Megalithgräbern, Keilschrifttafeln, prähistorischen Fundgattungen[3], ägyptischen Papyri, antiken Vasenmalereien, lateinischen Inschriften, (öfter) zu bestimmten Münzsorten[5], Siegeln oder Orden, mittelalterlichen Bronzearbeiten, Glasgemälden, Tafelbildern und Skulpturen, geografischen[6] und astronomischen Abhandlungen[7], einzelnen Bildmotiven[8] und den Gemälden einzelner Künstler (z. B. Rembrandt oder Picasso), barocken Decken- und Wandmalereien, Bilder- und anderen Handschriften sowie Baudenkmälern.
Auch Sammlungen alter literarischer[9], theologischer (zum Beispiel die Textausgaben der Patristiker oder das Sentenzenwerk des Petrus Lombardus[10]) oder juristischer Texte (zum Beispiel die des römischen Zivilrechts) tragen oft den Begriff Corpus im Titel. Der bevorzugte Fachterminus für diese Gattung ist allerdings Textkorpus.
Die Erarbeitung und Herausgabe von Korpuswerken ist Grundlagenforschung[11] und heute oft organisatorisch bei den Akademien der Wissenschaften angesiedelt.
Wegen der gewaltigen Menge der gesammelten Daten werden manche Projekte – wie etwa das Corpus Vasorum Antiquorum – heute durch Online-Datenbanken ergänzt. Neu konzipierte Projekte wie das Corpus der barocken Deckenmalerei in Deutschland beziehen von vornherein computergestützte Methoden im Sinne der Digital Humanities mit ein. Der seit jeher für die Korpuswerke bestimmende Grundgedanke, dass eine möglichst umfassende bzw. vollständige Verfügbarkeit und Kenntnis der (schriftlichen oder dinglichen) Quellen die Grundvoraussetzung für weiterführende Forschungen ist, behält seine Gültigkeit. Dieser Ansatz erhält vielmehr noch verstärktes Gewicht durch die neuen Möglichkeiten zur Darstellung der Inhalte, zum Umgang mit großen Datenmengen und zur Recherche in ihnen (beispielsweise Volltextsuche oder verknüpfte Datenbankabfragen).[12][13][14]
Literatur
- Kerstin P. Hofmann: Dingidentitäten und Objekttransformationen. Einige Überlegungen zur Edition von archäologischen Funden. In: Objektepistemologien. Zur Vermessung eines transdisziplinären Forschungsraums (= Berlin Studies of the Ancient World. Band 59). Hrsg. von Markus Hilgert, Kerstin P. Hofmann, Henrike Simon. Edition Topoi / Exzellenzcluster Topoi der Freien Universität Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 2018, ISBN 978-3-9818369-9-8, doi:10.17171/3-59 (zurzeit nicht erreichbar) (hu-berlin.de [PDF; 3,4 MB; abgerufen am 15. Januar 2020]).
Einzelnachweise
- Im Kapitel Editionen – Korpora – Korpuswerke definiert Kerstin P. Hofmann: „Editionen im hier interessierenden Sinne sind eine spezifische Gattung der Wissenschaftsliteratur. Sie werden mitunter – gerade wenn es sich um illustrierte Kataloge von Realien handelt – auch als Korpora oder Korpuswerke bezeichnet.“ Dingidentitäten und Objekttransformationen. Berlin 2018, S. 182 (siehe Literatur).
- Gelegentlich wird der Vollständigkeitsanspruch jedoch auch aufgegeben, beispielsweise ab 1956 beim Corpus Vasorum Antiquorum.
- Zum Forschungs- und Editionsprojekt der Prähistorischen Bronzefunde (1965–2015) siehe Kerstin P. Hofmann: Dingidentitäten und Objekttransformationen. Berlin 2018, S. 184–188 (siehe Literatur).
- Siehe grundsätzlich dazu exemplarisch Kerstin P. Hofmann: Dingidentitäten und Objekttransformationen. Berlin 2018, S. 180 (siehe Literatur): Hofmann zitiert Joachim-Friedrich Quack – „Eine 100 Jahre alte Edition kann man vielfach immer noch ohne weiteres benutzen (in Fällen heute schlechterer Erhaltung des Originals kann sie sogar unersetzlich sein), während eine 100 Jahre alte literaturwissenschaftliche Einordnung eines Textes heute doch oft antiquiert wirkt.“ – und stellt fest: „Diese von dem deutschen Ägyptologen Joachim-Friedrich Quack für Texteditionen getroffene Aussage gilt in abgewandelter Form auch für Korpuswerke der Archäologie.“
- Joachim Krüger: Zwischen dem Reich und Schweden. Die landesherrliche Münzprägung im Herzogtum Pommern und in Schwedisch-Pommern in der frühen Neuzeit (ca. 1580–1715) (= Nordische Geschichte. Band 3). LIT Verlag, Münster 2006, ISBN 3-8258-9768-0, S. 21 (zugleich Dissertation, Greifswald 2004): „Ein dem von Max von Bahrfeldt herausgegebenen ‚Niedersächsisches Münzarchiv‘ vergleichbares Korpuswerk liegt für den Obersächsischen Kreis leider nicht vor.“ (Vorschau in der Google-Buchsuche).
- Kolloquium: Atlanten des Wissens. Adolph Goldschmidts Korpuswerke 1914–2014. In: kunstgeschichte.hu-berlin.de, Institut für Kunst- und Bildgeschichte (IKB) der Humboldt-Universität zu Berlin. 2014, abgerufen am 15. Januar 2020.
- Siehe Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit. Beiträge zur Tagung der Kommission für die Edition von Texten der Frühen Neuzeit. Band 2 (= Chloe. Beihefte zum Daphnis. Band 24–25). Hrsg. von Hans-Gert Roloff. Rodopi, Amsterdam/Atlanta, GA 1997, ISBN 90-420-0312-X, S. 807: „Das Buch Vom Firmament stellt ein relativ geschlossenes Korpuswerk über die sichtbaren Himmelskörper dar, das sich u. a. aus deutschen Übersetzungen von vier lateinischen Texten des 13. Jahrhunderts zusammensetzt.“ (Vorschau in der Google-Buchsuche).
- Siehe die Zusammenfassung zu Henrik Karge: Romanische Architektur in Spanien. Wandlungsprozesse des nordspanischen Kirchenbaus im europäischen Kontext (= Vorträge im Europäischen Romanik Zentrum. Band 8). 1. Auflage. Universitätsverlag Halle-Wittenberg, 2019, ISBN 978-3-86977-212-7 („Sein Beitrag flankiert die Preisarbeit von Juan Antonio Olañeta Molina, die ein umfangreiches Korpuswerk zum bekannten Motiv ‚Daniel in der Löwengrube‘ darstellt und zugleich dessen bislang unbekannte ikonographische Vielfalt und Wandlung für die romanische Zeit in Spanien und Westeuropa aufzeigt.“).
- Alexander Gavrilow: Vorbildhaft und mitreißend. Laudatio auf Isidor Levin. In: Jahrbuch 2004. Hrsg. von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zu Darmstadt. Wallstein Verlag, 2005, ISBN 3-89244-875-2, S. 51–64, hier S. 60: „[…] auch von der Akademie Armeniens berufen, die dortigen reichen Belege materieller und geistiger Kultur systematisch zu erfassen und rund eine halbe Million Texte als Korpuswerke druckfertig zu machen.“ (ISSN 0070-3923; Vorschau in der Google-Buchsuche).
- Reinhard Pohanka: Die Herrscher und Gestalten des Mittelalters. 3. Auflage. marixverlag, Wiesbaden 2014, ISBN 978-3-8438-0210-9, S. 239, urn:nbn:de:101:1-201208017814: „Sein Werk ist rein kompilatorisch […] er wollte ein Korpuswerk schreiben und alle theologischen Fragen mit ihrem Für und Wider auflisten.“ (Vorschau in der Google-Buchsuche).
- Aus einer Selbstdarstellung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften: „Die rund 450 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Akademie betreiben Grundlagenforschung in den Geistes- und Naturwissenschaften. Der Schwerpunkt liegt auf langfristigen Vorhaben, die die Basis für weiterführende Forschungen liefern und die kulturelle Überlieferung sichern (…)“ – Auf einen Blick. In: Akademie Aktuell. Zeitschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Nr. 01, 2018, ISSN 1436-753X, S. 70 (deckenmalerei.badw.de [PDF; 5,9 MB]).
- „(…) als geisteswissenschaftliche Grundlagenforschung gewinnt die hergebrachte Corpus-Idee im Zeitalter der Digital Humanities unversehens an Aktualität.“ – Hubert Locher: Deckenmalerei und Fotografie. In: Akademie Aktuell. Zeitschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Nr. 02, 2016, ISSN 1436-753X, S. 28–32, hier S. 28 (deckenmalerei.badw.de [PDF; 10,6 MB]).
- „Grundlagenforschung zum Frühbarock nötig (…) Mit einer alle diese Befunde verbindenden Analyse wird (…) künftig ein vollkommen neues Bild der frühbarocken Deckenmalerei zu entwickeln sein. Erst auf Basis dieser notwendigen Grundlagenforschung und der (…) erheblich erweiterten Objektkenntnis werden vertiefende Forschungsfragen zu stellen, traditionelle Narrative ad acta zu legen und vollkommen neue Kontexte zu entwickeln sein.“ – Herbert Karner, Werner Telesko, Martin Mádl, Barbara Murovec: Deckenmalerei grenzüberschreitend. In: Akademie Aktuell. Zeitschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Nr. 02, 2016, ISSN 1436-753X, S. 84–95, hier S. 87 (Herbert Karner, Werner Telesko) (deckenmalerei.badw.de [PDF; 10,6 MB]).
- „Von dem neuen, von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften betreuten Forschungsprojekt Corpus der barocken Deckenmalerei in Deutschland ist zu erwarten, dass nun die lange mit einer gewissen Voreingenommenheit betrachtete Grundlagenforschung durch Einbeziehung der digitalen Kunstgeschichte neue Impulse erhält.“ – Herbert Karner, Werner Telesko, Martin Mádl, Barbara Murovec: Deckenmalerei grenzüberschreitend. In: Akademie Aktuell. Zeitschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Nr. 02, 2016, ISSN 1436-753X, S. 84–95, hier S. 94 (Barbara Murovec) (deckenmalerei.badw.de [PDF; 10,6 MB]).