Justizirrtum um Dieter Gill
Heinz-Dieter Gill (* 1951) ist ein deutsches Justizopfer. Er saß infolge einer Falschaussage seiner Tochter, die zum Justizirrtum des Gerichts führte, sieben Jahre lang unschuldig im Gefängnis. Er war 1996 vom Landgericht Kempten wegen Vergewaltigung seiner zum angeblichen Tatzeitpunkt (1990) zehnjährigen Tochter zu der Haftstrafe verurteilt worden. Die Tochter hatte ihre Vorwürfe erstmals im Jahre 1994 erhoben.[1][2][3][4][5][6][7]
Seine Tochter hatte nach vollständiger Verbüßung seiner Haft gestanden, dass sie seinerzeit mit ihren Tatvorwürfen gelogen hatte. Im Oktober 2013 wurde Gill in einem Wiederaufnahmeverfahren vom Landgericht Memmingen nachträglich freigesprochen.[8]
In dem Wiederaufnahmeverfahren legte der Rechtspsychologe Günter Köhnken dar, wie nachlässig die Sachverständigen seinerzeit gearbeitet hatten.[9] Zwei Sachverständige hatten über die Tochter Mitte der neunziger Jahre, im Auftrag der Staatsanwaltschaft, zwei sehr zweifelhafte Glaubhaftigkeitsgutachten erstellt, in denen die Tochter als glaubwürdig eingestuft wurde. Auf diese Gutachten war maßgeblich die Anklage gegen Dieter Gill gestützt worden. Professor Köhnken sprach bezüglich der damaligen Gutachten von „Gesinnungsdiagnostik“. Aussage-Analysen im Rahmen solcher Gutachten unterliegen sehr genau definierten Standards. Diese wurden laut Köhnken seinerzeit gröblich verletzt. Das hätte, nach Überzeugung von Gills Strafverteidiger Johann Schwenn, auch für das Landgericht Kempten erkennbar sein müssen.[8][10]
In dem Wiederaufnahmeverfahren hatte die Staatsanwaltschaft versucht, die neue Aussage der Tochter nun als Lüge darzustellen, um einen nachträglichen Freispruch Gills zu verhindern. Zudem dauerte es nach dem Geständnis der Tochter vier Jahre, bis es zu dem nachträglichen Freispruch für Dieter Gill kam.[10] Die Vorsitzende Richterin am Landgericht Memmingen sprach in dem Urteil zum Wiederaufnahmeverfahren von einem Freispruch erster Klasse wegen erwiesener Unschuld. „Wir können Ihnen die verlorenen Jahre nicht zurückgeben“, sagte die Richterin in der Urteilsbegründung. Niemand könne ermessen, welche Leiden Gill in der siebenjährigen Haft erlitten habe.[11][12]
Bereits während der Haftzeit (1996–2003) hatte Gill im Jahre 2001 einen Wiederaufnahmeantrag gestellt. Dieser war vom OLG München (Az. 1 Ws 102/02) abgewiesen worden. In der Begründung war vom Oberlandesgericht zwar eingeräumt worden, dass die der Verurteilung zugrunde liegenden Gutachten nicht dem wissenschaftlichen Stand entsprachen. Dies führe aber noch nicht zur Erschütterung des Urteils.[10]
Dieter Gill wurde nicht nach zwei Dritteln der Haftzeit vorzeitig entlassen, sondern musste die vollen sieben Jahre in Haft verbringen. Der Grund dafür war, dass Gill in der Haft auf seiner Unschuld beharrte. Damit galt er im Strafvollzug als Häftling, der sich der Reue und der Einsicht verweigert.[13]
Gill erhielt für seine Haftzeit eine Entschädigung von 25 Euro pro Tag. Er leidet seit seiner Haft an Depressionen.[14] Die Tochter kann für ihre Falschaussage von 1996 nicht mehr strafrechtlich belangt werden, weil ihre Tat zu dem Zeitpunkt, als sie von ihr eingeräumt wurde, bereits verjährt war.[15]
Die sehr tiefgreifende Schilderung des Falles in der Wochenzeitung Die Zeit, unter der Überschrift Die Lüge ihres Lebens[8], wurde 2014 für den Theodor-Wolff-Preis nominiert.[16]
Literatur
- Norbert Blüm: Einspruch! Wider die Willkür an deutschen Gerichten. Westend, Frankfurt am Main 2014, ISBN 978-3-86489-066-6, S. 69–71.
- Die Lüge ihres Lebens; in: Zeit Online vom 16. November 2013
Einzelnachweise
- Einspruch, Euer Ehren ; in: Süddeutsche Zeitung Online vom 12. November 2013
- Tochter erfand Vergewaltigung: Vater jahrelang unschuldig im Gefängnis; in: Augsburger Allgemeine vom 29. Oktober 2013
- Vergewaltigung erfunden: Freispruch nach sieben Jahren Haft; in: Focus Online vom 29. Oktober 2013
- Freispruch nach sieben Jahren in Haft; in: Frankfurter Rundschau vom 29. Oktober 2013
- Vergewaltigung von Tochter erfunden? Landgericht Memmingen rollt Prozess gegen Vater neu auf; in: RTL Aktuell vom 29. Oktober 2013
- Strafverteidigung in unserer Zeit; in: HRRS - Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht vom 15. April 2014
- Vergewaltigung der Tochter war erfunden; in: Merkur Online vom 29. Oktober 2013
- Die Lüge ihres Lebens; in: Zeit Online vom 16. November 2013
- So wütet Norbert Blüm gegen unfassbare Justiz-Irrtümer; in: Focus Online vom 22. September 2014
- Gröblich verletzt; in: Zeit Online vom 7. November 2013
- Beitrag von Richard Schlosser in der Kontrovers-Sendung im Bayerischen Fernsehen vom 30. Oktober 2013
- K13 Online Redaktion vom 30. Oktober 2013
- Ich dachte, ich müsste mich an meinem blöden Vater rächen; in: heise Online vom 29. Oktober 2013
- Von allen guten Richtern verlassen; in: Zeit Online vom 27. November 2014
- Vergewaltigung erfunden - Vater nach 17 Jahren freigesprochen; in: Legal Tribune Online vom 30. Oktober 2013
- Elisabeth Raether und Tanja Stelzer - "Die Lüge ihres Lebens" (Memento des Originals vom 2. April 2015 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. ; in: Portal des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger e.V., Abschnitt "Nominierte Texte 2014"