Jugendhilfe in der DDR
Die Jugendhilfe in der DDR unterstand dem 1949 gegründeten Ministerium für Volksbildung, das Margot Honecker von 1963 bis 1989 leitete.
Geschichte und Organisation
In der unmittelbaren Nachkriegszeit in Deutschland litt ein Großteil der Jugendlichen unter materieller und seelischer Not. Viele waren verwahrlost und hungrig. Die Kriminalität, insbesondere unter den Kindern und Jugendlichen, stieg rasant. Es kam zu Kämpfen um Leben und Tod, zu Raubüberfällen, Betrug, Unterschlagung, Schwarzhandel und Prostitution. In dieser Situation mussten die Kinder und Jugendlichen untergebracht, versorgt und betreut werden.
In der sowjetischen Besatzungszone konnte die Jugendhilfe zu Beginn nur durch die Hilfe von antifaschistischen Bürgerausschüssen, hauptsächlich aus Frauen und Jugendlichen, von Volkssolidarität und von Kirchen und Parteien aufgebaut und unterhalten werden. Weil die Anzahl der Heime nicht ausreichte, beschloss man, neue „geeignetere“ Heime einzurichten, in denen den Jugendlichen die Möglichkeit einer Berufslehre geboten werden sollte, mit Sport, Spiel- und Kulturangeboten in der Freizeit. Es mangelte jedoch in den neuen Heimen an Einrichtungs- und Gebrauchsgegenständen, an Lebensmitteln, Geld und Personal.
Anfangs war der Heimaufenthalt von Kindern und Jugendlichen nur von kurzer Dauer. Währenddessen entwickelte sich die Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung, die 1949 mit der Gründung der DDR zum DDR-Volksbildungsministerium wurde, immer mehr zur wichtigsten Regelungsinstitution und nahm somit auch immer mehr Einfluss auf die Kinder- und Jugendheime.
Ab 1963 unterstanden die Einrichtungen der Jugendhilfe allein Margot Honecker, der Ehefrau von Erich Honecker. Sie hatte dort die volle Entscheidungsgewalt. Die Referate Jugendhilfe/Heimerziehung, die Jugendhilfeausschüsse und Vormundschaftsräte waren auf Bezirksebene angesiedelt, während es auf Kreisebene gleichnamige Ausschüsse beim „Rat des Kreises“ gab. Auf kommunaler Ebene arbeiteten ehrenamtliche Mitarbeiter der Jugendhilfekommissionen, die direkten Kontakt zu Betroffenen hatten. Etwa die Hälfte der Jugendhelfer stammte aus pädagogischen Berufen, die anderen 50 % waren engagierte Bürger, die als „politisch bewährt“ eingeschätzt wurden. Auch Inoffizielle Mitarbeiter kamen zum Einsatz.[1] Als Heimerzieher und Heimleiter wurden insgesamt etwa 5000 Personen in sechsmonatigen Kursen ausgebildet.
Theorie
Ziel der Jugendhilfe in der DDR war die „Herstellung günstiger Bedingungen für die Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit von Kindern und Jugendlichen, deren Erziehung, Entwicklung oder Gesundheit unter der Verantwortung der Erziehungsberechtigten nicht gewährleistet“ waren. Dies galt als „Umerziehung“ und war gesetzlich definiert: Jugendhilfe umfaßt die rechtzeitige korrigierende Einflußnahme bei Anzeichen der sozialen Fehlentwicklung und die Verhütung und Beseitigung der Vernachlässigung und Aufsichtslosigkeit von Kindern und Jugendlichen, die vorbeugende Bekämpfung der Jugendkriminalität, die Umerziehung von schwererziehbaren und straffälligen Minderjährigen sowie die Sorge für elternlose und familiengelöste Kinder und Jugendliche.[2]
In einem Lehrbuch aus den frühen 1970er Jahren, der Übersetzung eines sowjetischen Werkes, wurden die Eigenschaften eines sozialistischen Menschen folgendermaßen beschrieben: „Ergebenheit gegenüber den Idealen des Kommunismus, das entwickelte Bewusstsein, Herr des Landes und seiner Reichtümer zu sein, das Bewusstsein der Würde des arbeitenden Menschen, Optimismus und Zielstrebigkeit,... Diszipliniertheit, Organisiertheit, Prinzipienfestigkeit, Arbeitsliebe, geistiger Reichtum, moralische Sauberkeit, physische Vollkommenheit, allseitige Bildung, hohe Kultur, entwickelter ästhetischer Geschmack, physische Gestähltheit.“ Die Bundesrepublik galt als der stärkste Feind, und es wurde eine starke emotionale Bindung der Jugendlichen an den Staat angestrebt.
Praxis
Orte der Jugendhilfe waren insgesamt 47 Kinderheime, Spezialheime, Durchgangsheime und Jugendwerkhöfe. Der Geschlossene Jugendwerkhof in Torgau diente de facto als Zentralgefängnis für Kinder und Jugendliche der DDR. Hierhin wurden 14- bis 17-Jährige eingewiesen, die die Heimordnung in einem Jugendwerkhof „vorsätzlich schwerwiegend und wiederholt verletzten“. Weitere Einweisungsgründe nach Torgau waren „sexuelle Triebhaftigkeit“, „Schwererziehbarkeit“ oder „abweichendes Verhalten“. Konkret konnte darunter Schulschwänzen fallen, versuchte „Republikflucht“ oder eine „faschistische Provokation“, das heißt zum Beispiel „Staatsverleumdung“ oder auch das „Beschmutzen von Bildern von unseren Staatsmännern“. Die unerträglichen Lebensverhältnisse führten zu einer Reihe von Selbstmorden und Selbstverstümmelungen, deren Anzahl bis heute nicht endgültig festgestellt werden konnte. Die Anstalt in Torgau wurde am 17. November 1989 geschlossen.
Maßnahmen gegen „Gammler“, die durch längere Haare und „westliche Kleidung“ (Jeans) auffielen, bestanden in den 1960er Jahren in polizeilicher Willkür, gelegentlich zwangsweiser Vorführung beim Friseur oder im Kürzen des Haares durch Ordnungsgruppen der FDJ. Gerne griff die Volkspolizei auch selbst zur Schere, wie aus Polizeiakten hervorgeht.
Der Jugendhilfe folgte die Strafjustiz, wenn es darum ging, Menschen durch „Umerziehung“ auf den vorgesehenen Pfad zu bringen. Dem Strafvollzugsdienst an Jugendlichen war im Strafgesetzbuch der DDR ein eigener Paragraph gewidmet, der das Ziel beschrieb: (1) Der Vollzug der Freiheitsstrafe an Jugendlichen erfolgt in Jugendhäusern unter besonderer Berücksichtigung der Persönlichkeitsentwicklung des Jugendlichen. (2) Der Vollzug der Freiheitsstrafe soll den jugendlichen Täter zu bewußter gesellschaftlicher Disziplin, Verantwortung und Arbeit führen und ihm durch Bildung und Erziehung, berufliche Qualifizierung sowie kulturell-erzieherische Einwirkung einen seinen Leistungen und Fähigkeiten gemäßen Platz in der sozialistischen Gesellschaft sichern.[3]
Literatur
Sachse, Christian: Der letzte Schliff. Jugendhilfe/Heimerziehung in der DDR als Instrument der Disziplinierung (1945–1989). Herausgeber: Die Landesbeauftragte für Mecklenburg-Vorpommern für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Schwerin 2011.
Einzelnachweise
- Deutschlandfunk: Kinderheime in der DDR. 28. Dezember 2015, abgerufen am 15. September 2017
- Gesetzblatt der DDR, Teil II, 17. Mai 1965, S. 359.
- §77 StGB der DDR, Fassung 1979, Berlin 1986, S. 30.