Jane Jacobs
Jane Jacobs, OC, O.Ont (* 4. Mai 1916 in Scranton, Pennsylvania als Jane Butzner; † 25. April 2006 in Toronto) war eine in den USA geborene kanadische Sachbuchautorin, Stadt- und Architekturkritikerin.
Leben
In den 1950er- und frühen 1960er-Jahren lebte sie im New Yorker Stadtviertel Greenwich Village. Um das Jahr 1960 sollte dort eine großangelegte Flächensanierung durchgeführt werden. Dies hätte den Verlust von über 80 % der vorhandenen, gemischten und gewachsenen Bausubstanz und die Verdrängung von tausenden Bewohnern, darunter viele Künstler und Gewerbetreibende, zur Folge gehabt. Nach dem gleichen Schema waren bereits seit Anfang der 1940er-Jahre unter der Ägide von Robert Moses in New York eine größere Anzahl von Flächensanierungen durchgeführt worden. Dabei wurde stets die vorhandene, drei- bis fünfstöckige Blockrandbebauung weitgehend komplett durch 10- bis 18-stöckige, freistehende Wohnhochhäuser mit immer gleichen Ziegelfassaden ersetzt. Bei diesen Sanierungsmaßnahmen ging es immer um Slumbeseitigung, deswegen wurden die Flächen zwischen den neuen Hochhäusern oft recht aufwendig begrünt; auch ging es darum, die vor den Sanierungen in der Regel extrem hohe Besiedlungsdichte der betroffenen Viertel zu verringern. Auf diese Weise wurde beispielsweise fast die gesamte Bebauung der Lower East Side entlang des East River im Süden von Manhattan innerhalb weniger Jahre komplett durch Neubauten ersetzt. Nachdem etwa 1960 nunmehr auch Greenwich Village offiziell zum „Slum“ erklärt worden war, drohte dem Viertel ein ähnliches Schicksal wie der Lower East Side. Es ist im Wesentlichen Jane Jacobs zu verdanken, dass dort zum ersten Mal eine größere Bürgerbewegung entstand, die die sehr unterschiedlichen Bewohner des Viertels mit dem Ziel einte, die Zerstörung des Viertels zu verhindern. Im Jahre 1962 war dieses Ziel erreicht. Nicht verhindert werden konnte freilich, dass im Rahmen der aufwertenden Sanierungsmaßnahmen in den kommenden Jahrzehnten die Mieten immer neue Höhen erklommen und viele der Bewohner so doch noch zum Auszug aus ihrem Village zwangen.
Seit 1969 lebte sie mit ihrem Ehemann, dem Architekten Robert H. Jacobs, Jr. († 1996) in Toronto, Kanada. Das Paar hat zwei Söhne, James und Ned, sowie die Tochter Mary Jacobs. Auch in ihrer neuen Heimatstadt engagierte sie sich sehr schnell in städtebaulichen Fragen. So konnte sie dort beispielsweise einen Beitrag zu der Verhinderung des geplanten Spadina Expressway leisten.
Themen
Ihr wichtigstes Werk The Death and Life of Great American Cities (Tod und Leben großer amerikanischer Städte) erschien 1961. In dieser Streitschrift protestierte sie gegen die vorherrschende Stadtplanung jener Zeit. Sie kritisierte den Verlust von gewachsenen städtischen Strukturen – mit ihren urbanen Mischungen von verschiedenen Nutzungen der Gebäude – und die Praxis der Stadtplanung, die sich an der klassischen Moderne zu orientieren schien und Wohnen, Arbeiten, Freizeit etc. nach dem Muster von Gartenstadt und „ville radieuse“ zu trennen versuchte.
Stattdessen forderte sie eine vielfältig gemischte Bebauung innerhalb einer Straße, eine große Bandbreite von verschiedenen Gebäuden in einem Viertel, das Ermöglichen lebendiger Nachbarschaften und kleinteilige, ungeplante Quartiere. Sie zeigte, wie die alltägliche Interaktion in einer solchen Nachbarschaft ein Netzwerk aufbaut, das sie als „soziales Kapital“ bezeichnet und das die Grundlage für gegenseitiges Vertrauen, gemeinsame Aktivitäten und Resilienz in Krisenzeiten bildet. Mit dieser Diagnose traf sie die Bedürfnislage der Nachkriegszeit, bei der zuvor unter dem Wahlspruch „Urban Renewal“ ganze Viertel planiert und als autogerechte Bausteine wieder ins Netz der Metropolen eingeklinkt worden waren. Seit den 1960er Jahren nahm die veröffentlichte Meinung nun zunehmend die eingetretenen Verluste in den Blick.
Jane Jacobs Bedeutung als Städtebaukritikerin in den USA ist vergleichbar mit derjenigen des 1982 verstorbenen Alexander Mitscherlich (Die Unwirtlichkeit unserer Städte; Thesen zur Stadt der Zukunft) im deutschen Sprachraum. Dort beeinflusste Jacobs unter anderem auch Wolf Jobst Siedler, der später mit Elisabeth Niggemeyer und Gina Angress Die gemordete Stadt publizierte. Die Zeitschrift "Literary Review of Canada" wertete Jacobs' Buch von 1961 im Jahr 2016 als eines der in Kanada einflussreichsten 25 Bücher der letzten 25 Jahre.
Eine urbane Diversität ist nach Jacobs auch aus ökonomischen Gründen wichtig, um den Austausch zwischen Unternehmen zu fördern, kreative Unternehmen anzusiedeln und den Verfall zu stoppen. In Cities and the Wealth of Nations (1985) entwickelte sie eine Theorie des ökonomischen Städtewachstums, das auf Importsubstitution basiere. Wenn in Siedlungen eingeführte (nicht-agrarische) Produkte allmählich durch selbst produzierte Erzeugnisse ersetzt werden, könnten sich daraus größere Städte entwickeln. Der innere Austausch einer Stadt und der Export ihrer Produkte sei eine wichtige Wachstumsquelle.
Jane's Walk
Jane’s Walk ist eine Reihe von Nachbarschaftsspaziergängen, inspiriert durch die Namensgeberin. Ausgehend von Toronto (2007) werden Jane’s Walks mittlerweile bereits in mehr als 100 Städten weltweit durchgeführt.[1]
Werke
- Downtown is for People – in The Exploding Metropolis. Editors of Fortune (eds.). New York: Doubleday Anchor Book, 1958.
- The Death and Life of Great American Cities. 1961. ISBN 0-679-74195-X
- Übers. Eva Gärtner: Tod und Leben großer amerikanischer Städte. Bauwelt Fundamente, 4. Ullstein, Berlin 1963; 3. Aufl. Friedrich Vieweg & Sohn, Braunschweig 1993. ISBN 3-764-36356-8
- The Economy of Cities. 1970 ISBN 0-39470584-X
- Cities and the Wealth of Nations. Principles of Economic Life. New York: Random House 1985. ISBN 0-39472911-0
- Dark Age Ahead. Vintage books 2005. ISBN 978-0-679-31310-6
Literatur
- Johannes Novy: Die Entdeckung der „Mannigfaltigkeit“. Wie Jane Jacobs’ „Tod und Leben großer amerikanischer Städte“ die Stadtforschung veränderte, in: Zeithistorische Forschungen - Studies in Contemporary History, 4, 2007, S. 456–460.
- Dirk Schubert: Jane Jacobs und die Zukunft der Stadt. Diskurse – Perspektiven – Paradigmenwechsel. (= Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung, 17) Stuttgart 2014.
- Dirk Schubert: (Hrsg.): Contemporary Perspectives on Jane Jacobs. Reassessing the Impacts of an Urban Visionary. Farnham: Ashgate 2014.
- Peter L. Laurence: Becoming Jane Jacobs. University of Pennsylvania Press, Philadelphia 2019, ISBN 9780812224429.
- Wolf Jobst Siedler, Elisabeth Niggemeyer, Gina Angress: Die gemordete Stadt: Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum. Siedler, Berlin 1993 [Erstausgabe 1964], ISBN 3-88680-513-1.
- Wolf Jobst Siedler, Elisabeth Niggemeyer, Gina Angress: Verordnete Gemütlichkeit: Abgesang auf Spielstraße, Verkehrsberuhigung und Stadtbildpflege. Severin, Berlin 1985, ISBN 3-88679-125-4.
Weblinks
- Literatur von und über Jane Jacobs im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Jane Jacobs gewidmete Homepage
- Jane Jacobs – Writings on the Web auf preservenet.com
- Würdigung zum 81. Geburtstag auf metropolismag.com
- Jane Jacobs, Social Critic Who Redefined and Championed Cities, Is Dead at 89, New York Times, 26. April 2006 (mit Links zu NYT-Buchbesprechungen)