Irmgard F.
Irmgard Furchner (geboren am 29. Mai 1925 als Irmgard D. in Kalthof bei Danzig)[1] ist eine deutsche ehemalige Sekretärin und Stenotypistin, die während der NS-Herrschaft im Konzentrationslager Stutthof tätig war. Sie wurde deshalb im Jahre 2021 – im Alter von 96 Jahren – wegen Beihilfe zum Mord in 11.412 Fällen und wegen Beihilfe zum versuchten Mord in 18 weiteren Fällen angeklagt.
Leben
F. besuchte von 1931 bis 1939 die Volksschule und absolvierte anschließend das sogenannte Landjahr. Anschließend machte sie eine kaufmännische Lehre. Eine erste Anstellung fand sie als Stenotypistin der Dresdner Bank in Marienburg. Vom 1. Juni 1943 bis zum 1. April 1945 arbeitete sie als Schreibkraft im KZ Stutthof. 1954 sagte sie als Zeugin in einem Prozess aus, dass sie als Stenotypistin dem KZ-Kommandanten Paul Werner Hoppe unterstellt war und der gesamte Schriftverkehr mit dem SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt durch ihre Hände gegangen sei. In Stutthof lernte sie den SS-Oberscharführer Heinz F. kennen, den sie 1954 heiratete.[1][2]
Von 1960 bis 2014 lebte sie in einem Mehrfamilienhaus in Schleswig und arbeitete bis zu ihrer Verrentung als Verwaltungsangestellte. Anschließend zog sie in ein Seniorenheim. Ihr Mann starb 1972.[1][3]
Prozess
Nach fünfjähriger Ermittlungsarbeit erhob die Staatsanwaltschaft Itzehoe im Februar 2021 Klage gegen Irmgard F. Der Prozess findet vor einer Jugendkammer des Landgerichts Itzehoe statt, da F. zum Zeitpunkt der ihr vorgeworfenen Taten erst 18 Jahre alt war. Sie hatte im Vorfeld mitgeteilt, nicht vor Gericht erscheinen zu wollen, und den Richter ersucht, ihr dies nicht zuzumuten. Die Strafprozessordnung sieht vor, dass die Hauptverhandlung bei einem derartigen Verfahren nicht in Abwesenheit der Angeklagten begonnen werden darf. Mit Irmgard F. steht zum ersten Mal eine Zivilangestellte eines Konzentrationslagers der Nationalsozialisten vor Gericht.[4]
Ende September 2021 flüchtete F. am frühen Morgen des ersten Verhandlungstages aus dem Seniorenheim in Quickborn-Heide, in dem sie wohnt, und begab sich mit einem Taxi zum U-Bahnhof Norderstedt Mitte. Das Gericht erließ Haftbefehl; F. wurde rasch gefasst und verhaftet.[5][6][7][8] Fünf Tage später wurde F. unter Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen.[9] Sie trägt seitdem eine elektronische Fußfessel.[4]
Am 19. Oktober 2021 begann der Prozess gegen F. mit dreiwöchiger Verspätung. Die Beschuldigte habe aufgrund ihrer Tätigkeit für den Kommandanten des Lagers Kenntnis über alle Vorgänge gehabt und sei „bis ins Detail“ über alle dort systematisch praktizierten Mordmethoden informiert gewesen, sagte Staatsanwältin Maxi Wantzen bei der Verlesung der Anklageschrift. Sie habe durch ihre Arbeit „die reibungslose Funktionsfähigkeit des Lagers“ gesichert.[10][11]
Über ihren Anwalt bestreitet F., „persönlich eine strafrechtliche Schuld auf sich geladen zu haben“.[4]
Weblinks
- Artikel aus der New York Times über Irmgard F., September 2021 (englisch)
Einzelnachweise
- KZ-Sekretärin des Bösen. In: The World News. 22. August 2021, abgerufen am 18. Oktober 2021.
- Christopher F. Schuetze: German Police Arrest 96-Year-Old Nazi Suspect Who Tried to Skip Court. New York Times, 30. September 2021, abgerufen am 19. Oktober 2021.
- Klaus Hillenbrand: Die Schuld der Sekretärin, taz, 26. September 2021.
- »Sie leugnet nicht die Verbrechen der Schoa«, Der Spiegel, 19. Oktober 2021.
- Der Spiegel (Hamburg): 96-jährige Ex-KZ-Sekretärin vor Prozessbeginn geflohen, 30. September 2021
- Der Spiegel (Hamburg): 96-Jährige nach Flucht verhaftet, 30. September 2021
- Kurier (Wien): Frühere KZ-Sekretärin nach Flucht vor Prozess gefasst, 30. September 2021
- Nazi Stutthof camp secretary flees as German trial starts. In: BBC News. 30. September 2021 (englisch, bbc.com [abgerufen am 30. September 2021]).
- 96-year-old German woman released after going on the run to skip Nazi war crimes trial. In: Deutsche Welle. Abgerufen am 6. Oktober 2021 (englisch).
- Anklage gegen Ex-Sekretärin des Konzentrationslagers Stutthof verlesen, Die Zeit, 19. Oktober 2021.
- Stutthof-Prozess: Beihilfe zu Mord in mehr als elftausend Fällen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. Oktober 2021.