Hotu Matua
Hotu Matua ist ein mythischer Häuptling/König (polynesisch: ariki) aus dem Südost-Pazifik. Die Legende von Hotu Matua behandelt die Besiedlung der Osterinsel und ist das zentrale Epos der Osterinsel-Kultur. Sie ist in mehreren Versionen überliefert, die sich an einem einheitlichen Grundgerüst orientieren, in den Details jedoch z. T. erheblich voneinander abweichen.
Inhalt
Traumreise
Der Einstieg in die Legende ist ein Traum, in dem Hau Maka aus dem Lande „Hiva“ – er wird als „königlicher Tätowierer“ bezeichnet, in Polynesien eine besondere Vertrauensstellung – seine Seele auf eine weite Reise schickt. Sie passiert sieben Inseln, die sich jedoch als wüst und leer herausstellen, bzw. sich hinter Nebelschleiern verbergen. Erst die achte Insel erweist sich als fruchtbar und schön.
Erkundung
Er erzählt dem Häuptling Hotu Matua von seinem Traum, der beschließt, von seiner Residenz „Marae Renga“ ein Erkundungsteam von sechs Jünglingen auszusenden. Sie fahren am 25. April ab und als sie die Osterinsel am 1. Juni erreichen, stellen sie fest, dass sie der Beschreibung aus Hau Makas Traum bis ins Detail entspricht. Sie erkunden die Insel. Als sie eine am Strand liegende, riesige Schildkröte umdrehen, um sie zu kochen und zu verspeisen, wehrt sie sich und verletzt einen der Jünglinge schwer. Die Gefährten lassen ihn sterbend in einer Höhle zurück und brechen zur Rückfahrt auf.
Besiedlung
Nach einem Streit mit einem anderen Häuptling namens Oroi (in einigen Versionen Hotu Matuas leiblicher Bruder), dessen Ursache in den verschiedenen Versionen der Legende unterschiedlich geschildert wird, muss Hotu Matua seinen Wohnsitz verlassen. Er rüstet ein großes Doppelrumpf-Kanu aus (in anderen Versionen drei oder sechs Kanus) und segelt am 2. September mit 200 Begleitern (in anderen Versionen 300 oder 600) davon. An Bord sind aber nicht nur die Siedler, sondern allerlei nützliche Pflanzen und Tiere wie Brotfrucht, Yams, Taro, Süßkartoffel, Banane, Zuckerrohr, Papiermaulbeerbaum, Toromiro, Hühner, Schweine und Ratten (die polynesische Ratte wurde als Nahrungstier gezüchtet) sowie eine steinerne Statue (ein Moai mit dem Namen Te Takapau) und Rongorongo-Schrifttafeln. Am 15. Oktober erreicht das Kanu das sog. „Achte Land“, die Osterinsel. Die Reise dauert also eine Woche länger als die der Kundschafter. Hotu Matua trennt die beiden Boots-Rümpfe und landet selbst am Strand von Anakena, das andere Kanu fährt zur Nordwestküste. Im Augenblick der Landung gebiert Hotu Matuas Frau einen Jungen. Im zweiten Kanu wird gleichzeitig ein Mädchen geboren. An beiden Landungsstellen lassen sich Siedler nieder, Anakena wird Königsresidenz.
Aber auch sein alter Widersacher Oroi erreicht schließlich die Osterinsel und ermordet Hotu Matuas Sohn. Hotu Matua stellt daraufhin Oroi eine Falle und tötet ihn nach langem Kampf.
Tod des Hotu Matua
Als Hotu Matua alt wird, teilt er die Insel unter seinen Kindern auf, ihre Nachkommen bilden die künftigen Stämme der Osterinsel. Er geht zur Kultstätte Orongo (abweichend: auf den Rano Raraku) und sieht gen Westen, in Richtung seiner alten Heimat. Als er den Schrei des Hahnes von Marae Renga von jenseits des Meeres vernimmt, ist sein Tod nahe. Seine Söhne tragen ihn in eine Hütte, in der Hotu Matua stirbt. Er wird allerdings nicht in einem Ahu, sondern in einem Königsgrab, einer mit Stein ausgekleideten Grube, bei Akahanga beigesetzt.
Überlieferung
Auf der Osterinsel gab es keine historischen Aufzeichnungen, die Rongorongo-Tafeln sind in dieser Hinsicht unergiebig. Sowohl tatsächliche geschichtliche Ereignisse als auch Legenden wurden von Generation zu Generation mündlich überliefert. Eine klare Trennung ist daher aus heutiger Sicht schwierig.
Europäische Missionare und Forscher begannen ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit einer zunächst noch unsystematischen Sammlung und Aufzeichnung der Überlieferungen. Besonders wertvoll sind die Aufzeichnungen des französischen Paters Eugène Eyraud der 1864 als Missionar 9 Monate auf der Osterinsel weilte. Der Einstieg in die systematische Erforschung und Sammlung des Sagenschatzes erfolgte aber erst im 20. Jahrhundert.
Gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlernten die Rapanui in Schulen der Missionare das europäische Alphabet und fingen selbst an, die Gesänge und Geschichten ihrer Kultur niederzuschreiben. Die bekannteste Niederschrift, das sog. Manuskript E, stammt aus dem Besitz der Familie Pakarati, Nachkommen ehemaliger Ariki der Osterinsel. Es wurde vermutlich um 1920 aufgezeichnet.[1] Die obige Inhaltsangabe orientiert sich an dieser Vorlage.
Daneben gibt es – zum Teil abweichende – Wiedergaben der Hotu-Matua-Legende bei Katherine Routledge, Alfred Métraux, Pater Sebastian Englert und Edwin Ferdon, einem Archäologen der Heyerdahl-Expedition. Der Ethnologe Thomas Barthel von der Eberhard Karls Universität Tübingen hat 1974 eine ausführliche Übertragung, Gliederung und Interpretation des Hotu-Matua-Stoffes vorgelegt.
Verknüpfungen
Besiedlungsmythen gibt es auf nahezu allen Inseln des Südpazifiks. Obwohl auf jeder Insel eine eigene Version der Sage überliefert ist, orientieren sie sich an einem einheitlichen Grundgerüst: Der jeweilige Protagonist, ein Gott, König, Häuptling oder mythischer Held, muss ein sagenhaftes Land des Ursprungs verlassen und begibt sich mit einem Floß, Einbaum oder Kanu auf eine lange Reise in unbekannte Regionen. Er führt nicht nur Auswanderer mit sich, sondern auch nützliche Nahrungspflanzen und -tiere sowie kulturelle Errungenschaften, die den Siedlern in ihrer neuen Heimat zugutekommen. Eine solche „Legende des Ursprungs“ gibt es sowohl bei den Maori als auch auf Samoa, Tonga, Mangareva, den Marquesas und der Osterinsel.
Wahrheitsgehalt
Obwohl es sich bei der Geschichte von Hotu Matua unzweifelhaft um eine Legende handelt, lassen neuere Forschungen doch einen wahren Kern vermuten. Allerdings ist stark umstritten, in welchem Umfang die geschilderten Ereignisse mit wahren Geschehnissen übereinstimmen.
Die Besiedlung der Osterinsel erfolgte nach dem früheren Stand der Forschungen in zwei Wellen, beginnend mit der ersten Besiedlungswelle im 4. oder 5. Jahrhundert n. Chr. Man nahm an, dass die Legende von Hotu Matua die zweite Besiedlungswelle beschreibt, die im 14. Jahrhundert n. Chr. stattgefunden haben soll.[2] Allerdings wird aktuell (wieder) die Monobesiedlungsthese präferiert, mit nur einer Besiedlung von den Marquesas über Mangareva im 5. Jahrhundert n. Chr. Dies würde bedeuten, dass die Legende von der Besiedlung der Osterinsel mehr als 1500 Jahre im Volksbewusstsein bewahrt wurde.
Der Ausgangspunkt der Besiedlung, das mythische „Hiva“, ist nicht eindeutig zu identifizieren, es kommen mehrere Inseln bzw. Inselgruppen in Frage. Etymologisch sei darauf hingewiesen, dass Hiva als Prä- bzw. Suffix bei mehreren Inselnamen der Marquesas vorkommt (Hiva Oa, Fatu Hiva, Nuku Hiva).
Thor Heyerdahl vermutete die Herkunft von Hotu Matua in Südamerika,[3] was aber dem überlieferten Text widerspricht und nach den heutigen archäologischen, linguistischen und genetischen Forschungen auszuschließen ist. Das Datum von An- und Abfahrt der Kundschafter ist in der Legende genau angegeben (25. April bzw. 1. Juni). Nimmt man die Reisedauer von 38 Tagen für die Erkundung wörtlich, so kommen zunächst die Insel Pitcairn, die Gambierinseln (insbesondere Mangareva), große Teile des Tuamotu-Archipels, aber auch die Marquesas und die Austral-Inseln als Ausgangspunkt in Betracht.
Bereits Roggeveen berichtet, dass zu dieser Jahreszeit im Seegebiet zwischen den Tuamotus und der Osterinsel West- bzw. Nordwestwinde vorherrschen, die Reisebedingungen sind also günstig. Ein Etmal von 100 Kilometern ist, wie Experimente mit Nachbauten erwiesen haben, für polynesische Doppelrumpf-Kanus durchaus realistisch, bei guten Bedingungen sogar 200 km. Die Entfernung von beinahe viertausend Kilometern war kein unüberwindliches Hindernis.[4] Anlässlich des Pacific-Art-Festivals 1995 wurde mit dem Nachbau eines großen Kriegskanus eine Non-Stop-Reise von Hawaii bis Raiatea über eine Entfernung von 4500 Kilometern unternommen.[5]
Polynesische Doppelrumpf-Kanus waren nach Beschreibungen früher europäischer Entdecker (Cook, Beechey, Kotzebue) bis zu 30 Meter lang. Eine Besatzung von 200 Personen erscheint zwar sehr hoch, ist aber nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Das Mitführen von Sämlingen, Stecklingen und Tieren als Grundlage für eine Besiedlung war nicht unüblich und ist aus anderen Überlieferungen in der gesamten Südsee bekannt.[6]
Der Text des Manuskriptes E gibt für die Osterinsel – von „Hiva“ aus gesehen – folgende Beschreibung:
- sie liegt „oben“ (i runga)
- sie ragt über den Horizont empor
- ihre Konturen heben sich am Horizont ab
- inmitten der aufgehenden Sonne (d. h. im Osten)
„Oben“ (runga) und „unten“ (raro) sind in Polynesien in der Navigation gebräuchliche Begriffe und beziehen sich auf die Richtung der Passatwinde. Dies und die Lage im Osten von Hiva lassen eine Fahrt des Hotu Matua von West nach Ost vermuten.
Der Wohnsitz des Königs Hotu Matua auf „Hiva“ heißt in der Legende „Marae Renga“ (übersetzt: der schöne Kultplatz). Das protopolynesische Wort mala’e oder marae bezeichnet in weiten Teilen Ostpolynesiens (Gesellschaftsinseln, Marquesas, Cookinseln, Austral-Inseln, Tuamotu-Archipel) einen Zeremonialplatz, ist jedoch auf der Osterinsel nicht gebräuchlich. Das entsprechende Wort dafür ist „ahu“. Die Verwendung dieser nicht üblichen Bezeichnung in einer Legende der Osterinsel lässt ebenfalls Rückschlüsse über die Herkunft zu.
Anakena an der Nordküste der Osterinsel, der Landeplatz von Hotu Matua, ist zweifellos eine exponierte Stelle. Hier liegt der einzig erwähnenswerte Sandstrand der Osterinsel, ein sofort ins Auge fallender natürlicher Hafen für flachgehende Boote. Archäologische Untersuchungen erbrachten den Beweis, dass es sich um einen herausragenden Kultplatz von besonderer Bedeutung handelte. Die Region war immer mit dem Clan der miru verknüpft, die ihre Abkunft direkt auf Hotu Matua zurückführten. Der Clan-Häuptling der miru war zwar nicht der politische Führer im Sinne eines Königs der ganzen Insel, jedoch das geistige und religiöse Oberhaupt, der Inhaber von Mana, von höchster spiritueller Macht.[7]
In der Nähe des Anakena-Strandes gibt es zwei archäologisch fassbare Relikte, Überreste von Wohnstätten, die nach der Überlieferung der Rapanui mit Hotu Matua in Verbindung gebracht werden können: Eine Höhlenwohnung (Hotu Matua’s Cave) sowie Fundamentteile eines Paenga-Hauses (Hotu Matua’s House).
Hotu Matuas Höhle liegt etwa 200 m südwestlich des Strandes. Hier soll, so behaupten die Rapanui, Hotu Matua nach seiner Landung auf der Osterinsel so lange gewohnt haben, bis sein Haus fertiggestellt war. Die Höhle befindet sich mit noch weiteren Kavernen in einer natürlichen Rinne. Arne Skjølsvold von der norwegischen Osterinsel-Expedition von Thor Heyerdahl 1952/53 hat die nur etwa 6 m tiefe, niedrige Höhle untersucht, deren Eingang mit Steinschichtungen künstlich verengt war. Er fand eine Speerspitze aus Obsidian (mataa), die man auf das 17. oder 18. Jahrhundert datieren muss, sowie einige Überreste europäischer Handelsprodukte. Anzeichen für frühzeitliche Bewohner fand er nicht.
Von Hotu Matuas Haus in der Nähe des Ahu Nau Nau ist lediglich eine einzelne Reihe von bearbeiteten Fundamentsteinen aus Basalt erhalten (zur Bauweise →Paenga-Haus). Die Fundlage deutet auf ein außergewöhnlich großes, nord-süd-orientiertes Bauwerk hin. Die gesamte Westseite fehlt jedoch. Skjölsvold vermutet, dass die Anlage niemals fertiggestellt wurde. Er fand bei Grabungen im Innern keinerlei Hausrat oder andere Relikte von Bewohnern, sodass Hotu-Matuas Haus möglicherweise niemals bewohnt war.[8]
Es fällt auf, dass es keine identifizierbare Statue von Hotu Matua gibt, obwohl die Moais der Osterinsel wahrscheinlich Abbilder einst tatsächlich existierender Ahnen sind. Dabei wäre doch anzunehmen, dass man eine derart wichtige Persönlichkeit vorrangig „verewigt“ hätte. Dieser Umstand spricht eigentlich gegen den Wahrheitsgehalt der Legende und bleibt vorerst ungeklärt.
Einzelnachweise
- Thomas Barthel: Das Achte Land. München 1974, S. 323 ff.
- Heide-Margaret Esen-Baur: Untersuchungen über den Vogelmannkult auf der Osterinsel. Wiesbaden 1983, S. 287 ff.
- Thor Heyerdahl: Aku Aku. Berlin 1957, 4. Kapitel, S. 83 ff.
- Geo Special: Südsee. Hamburg 2000, S. 67.
- Karlo Huke Atan: Kultur, Philosophie, Geschichte der Osterinsel. Freiburg 1999, S. 22.
- Geo Special, S. 68.
- J. Flenley und P. Bahn: The Enigmas of Easter Island. Oxford, New York 2002, S. 173.
- Thor Heyerdahl und Edwin N. Ferdon: Reports of the Norwegian Archaeological Expedition to Easter Island and the East Pacific, Band 1, London 1965, S. 273–276
Literatur
- Thomas Barthel: Das Achte Land – Die Entdeckung und Besiedlung der Osterinsel. München 1974, ISBN 3-87673-035-X.
- Sebastian Englert: Das erste christliche Jahrhundert der Osterinsel (1864–1964). Frankfurt am Main 1996, ISBN 3-89354-973-0.
- Sebastian Englert: Island at the center of the world – New light on easter island. New York 1970.
- Heide-Margaret Esen-Baur: Untersuchungen über den Vogelmann-Kult auf der Osterinsel. Frankfurt am Main 1983, ISBN 3-515-04062-5.
- Eugène Eyraud: Neun Monate auf der Osterinsel. In: Globus. Geographische Zeitschrift. Jahrgang X, Braunschweig 1866, S. 313–315.
- Thor Heyerdahl: Aku Aku – Das Geheimnis der Osterinsel. Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1974, ISBN 3-550-06863-8.
- Alfred Métraux: Die Osterinsel. Stuttgart 1958.
- Katherine Routledge: The Mystery of Easter Island. London 1919, ISBN 0-932813-48-8.