Histadrut
Die Histadrut (hebräisch für „Zusammenschluss“), oder HaHistadrut HaKlalit schel Ha‘Owdim B'Eretz Israel (הָהִסְתַּדְּרוּת הַכְּלָלִית שֶׁל הָעוֹבְדִים בְּאֶרֶץ יִשְׂרָאֵל – der „Allgemeine Verband der Arbeiter im Lande Israel“), ist der Dachverband der Gewerkschaften Israels. Sie wurde im Dezember 1920, und damit fast 30 Jahre vor der israelischen Staatsgründung, von David Ben Gurion in Haifa gegründet und war entscheidend an der Verwirklichung des „zionistischen Projekts“ beteiligt. In den 1970er Jahren waren über 80 %[1] der Erwerbstätigen Israels in der Histadrut organisiert. Die gesellschaftliche Stellung der Histadrut ist seither rückläufig. Bis 2003 fiel der gewerkschaftliche Organisierungsgrad auf 25 %.[2]
HaHistadrut HaKlalit schel Ha‘Owdim B'Eretz Israel Allgemeiner Verband der Arbeiter im Lande Israel (Histadrut) | |
---|---|
Zweck: | Gewerkschaftsbund |
Vorsitz: | Arnon Bar-David |
Gründungsdatum: | Dezember 1920 |
Mitgliederzahl: | ca. 800.000 |
Sitz: | Tel Aviv-Jaffa |
Website: | www.histadrut.org.il |
Geschichte
Aufbauphase und Konsolidierung
An einer Versammlung im noch im Bau befindlichen Technion von Haifa gründeten achtundachzig[3] Delegierte, die zu diesem Zeitpunkt 4433[3] Arbeiter vertraten, im Dezember 1920 die Histadrut. Bereits 1924 erreichte sie bei den jüdischen Arbeitern Palästinas einen Organisierungsgrad von 70 %.[2]
Die Histadrut war zionistisch-sozialistisch orientiert und baute im sozialen und produktiven Sektor umfassende genossenschaftliche Strukturen für ihre Mitglieder auf. Ihrem Ziel, eine jüdische Arbeiterklasse in Palästina zu erschaffen, lag das sozialistische Ideal des „Neuen Juden“[1] zu Grunde. Um in der Zeit des Jischuv auch arabische Arbeiter im Sinne ihrer Politik gewerkschaftlich zu organisieren gründete die Histadrut 1932 die Palestine Labor League.[4] Wechselnde Bündnisse ging sie aber auch mit den eigenständig organisierten arabischen Gewerkschaften Palestine Arab Workers Society und Arab Workers Society ein.
Die Aktivitäten gingen dabei weit über rein gewerkschaftliche Tätigkeitsfelder hinaus:
- Die Histadrut war im Wohnungsbau tätig und errichtete vorschstädtische Arbeiterwohnsiedlungen, die Kiriot haOvdim.[1] Ein Beispiel dafür ist der Ortsteil Borochov in Givʿatajim, wo 320[1] Familien 1934 lebten. 1947 wohnten rund 25.000[1] Personen in den insgesamt 6150[1] errichteten Wohneinheiten, sie konnten diese Wohnung vergünstigt als Eigentum erwerben.[1] Für die Mieten wurde eine Obergrenze von 20 %[1] der Erwerbseinkommens festgelegt.
- Die Histadrut gründete 1920[5] Kupat Cholim,[1] die größte Krankenkasse des Landes, und baute Krankenhäuser, Alters- und Erholungsheime.
- Die Histadrut betrieb ein Netz eigener den Mitgliedern vorbehaltenen Lebensmittelläden.
- Die Histadrut gründete 1935[5] die Busgesellschaft Egged.
- Die Histadrut betrieb Kultur- und Medien-Einrichtungen, wie Bibliotheken[1] oder die Zeitung Davar, sowie den Sportverband Hapoel.
- Die Histadrut gründete auch mit der Hilfe der Zionistischen Weltorganisation (WZO) ihre eigene Bank, die Bank HaPoalim. Die ersten vier Jahrzehnte nach der Staatsgründung erlaubte das israelische Finanzministerium der Histadrut, ihre Pensionsgelder in die eigene Beteiligungsgesellschaft Chewrat Owdim zu investieren, wodurch sie einen stetigen Kapitalfluss gewährleisten konnte.
- Die Histadrut bot ihren Mitgliedern Arbeitsplätze und Aufstiegschancen innerhalb der Arbeitnehmervertretungen, im Direktionskommitee und in den Unternehmen.[1]
Im Bereich der Histadrut waren in den 1950er Jahren etwa 20–25 %[6] der israelischen Arbeitnehmer beschäftigt. Die wichtigsten Unterorganisationen des Produktionssektors waren:
Strukturwandel und Bedeutungsverlust
Lange stand die Histadrut der Arbeitspartei nahe, die dadurch ihrerseits wesentlichen Einfluss besaß. In den 1970er Jahren erreichte sie den Höhepunkt ihres gesellschaftlichen Einflusses, als über 80 %[1] der Arbeitnehmenden durch sie organisiert waren. 1994 wurde die Histadrut jedoch nach vorangegangenen strukturbedingten Krisen völlig umgebaut. Neben der Auflösung vieler gewerkschaftlicher Unternehmen im Zuge wirtschaftsliberaler Reformen kam es zu einer Abtrennung der Krankenkasse und der noch verbliebenen Reste der israelischen Gemeinwirtschaft (Chevrat haOvdim). Zum ersten Mal konnte die Mapai in diesem Jahr nicht die internen Wahlen, die alle vier Jahre ablaufen, mit einer absoluten Mehrheit für sich entscheiden. 1995 wurde der Verband in Neue Histadrut umbenannt. Ihr Vorsitzender, Amir Peretz, gründete eine eigene Partei (Am Echad), die mit zwei Mandaten im israelischen Parlament vertreten war.
Nach diesen Veränderungen hat die Histadrut vor allem Aufgaben als Gewerkschaft im westeuropäischen Sinne, sie führt Lohnverhandlungen, ist aber auch Dachverband für die Einzelgewerkschaften. Sie ist Mitglied im Internationalen Bund freier Gewerkschaften und kooperiert unter anderem mit dem DGB.
Siehe auch
Literatur
- Manuela Maschke: Die israelische Arbeiterorganisation Histadrut: Vom Staat im Staate zur unabhängigen Gewerkschaft. Haag+Herchen, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-89846-251-X.
- Theo Pirker: Die Histadrut. Gewerkschaftsprobleme in Israel, Kyklos-Verlag, Basel und J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1965.
Weblinks
- Internetseite der Histadrut (hebräisch)
Einzelnachweise
- Steve Jourdin, préface de Élie Barnavi: Israël : autopsie d'une gauche (1905-1995). In: Jean-Luc Veyssy (Hrsg.): Collection « Documents ». Éditions le bord de l'eau, Lormont (Gironde) 2021, ISBN 978-2-35687-802-1, S. 60, 66, 85 ff.
- Thomas Vescovi: L’échec d'une utopie – Une histoire des gauches en Israël. Éditions La Découverte, Paris 2021, ISBN 978-2-348-04311-6, S. 56, 261.
- Ze'ev Tzahor, in: The Histadrut: From Marginal Organization to "State-in-the-Making". In: Jehuda Reinharz and Anita Shapira (Hrsg.): Essential Papers on Zionism. Cassell/New York University Press, London and New York 1996, ISBN 0-304-33585-1, S. 474 f.
- Zachary Lockman: Comrades and Enemies – Arab and Jewish Workers in Palestine, 1906–1948. University of California Press, Berkeley 1996, ISBN 0-520-20419-0, S. 196 f.
- Georges Bensoussan: Le sionisme, un enfant de l'Europe des Lumières. In: Sionismes/Antisionismes – Un panorama complet pour mettre fin à la confusion (Hrsg.): Cités: Philosophie, Politique, Histoire. Nr. 47–48. Presses Universitaires de France, Paris 2011, ISBN 978-2-13-058705-7, S. 142.
- Joel Beinin: Was the Red Flag Flying There? – Marxist Politics and the Arab-Israeli Conflict in Egypt and Israel, 1948–1965. University of California Press, Berkeley and Los Angeles 1990, ISBN 0-520-07036-4, S. 71.
- Nur Masalha: Palestine – A four thousand year history. 2. Auflage. Zed Books, London 2020, ISBN 978-1-78699-869-9, S. 327.