Hilfsfrist
Die Hilfsfrist ist das wichtigste Planungs- und Qualitätsmerkmal für die Einsätze von Feuerwehr und Rettungsdienst. In den Gesetzen der Länder zum Rettungsdienst[1] und Brandschutz sowie kommunalen Brandschutzbedarfsplänen werden Höchstwerte für die Hilfsfrist bzw. zusätzlich Schutzziele (Hilfsfrist und Personalstärke) beim Brandschutz festgelegt. Danach richtet sich die Dichte des Netzes an Rettungswachen und Feuerwehrstandorten sowie deren Personal- und Sachmittelausstattung. Die Einhaltung der Hilfsfrist kann durch die Einsatzdokumentationen der Leitstellen überprüft werden.
Definition
Es gibt unterschiedliche Definitionen zur Hilfsfrist. Meist wird sie nicht ab dem Eintreten eines Notfalles/Brandes, sondern erst vom Beginn der Notrufabfrage in der Leitstelle an bis zum Eintreffen adäquater Hilfe am Einsatzort definiert.[1] Dieses Zeitintervall ist planbar. Die Zeit bis zum Notrufeingang in der Leitstelle, auch Meldefrist genannt, hängt dagegen von Zufällen ab und ist nicht planbar. Rauchmelder in Privathaushalten und Brandmeldeanlagen in besonders gefährdeten Gebäuden sowie ein dichtes Netz an Notrufeinrichtungen können diese Zeit entscheidend verkürzen. Die Hilfsfrist endet mit dem Eintreffen der Einsatzkräfte am Einsatzort und der Einleitung effektiver Hilfsmaßnahmen.
Die Hilfsfrist lässt sich in drei wesentliche Zeitabschnitte unterteilen: die Gesprächs- und Dispositionszeit in der Leitstelle, die Ausrückzeit der Einsatzkräfte und die Anfahrtszeit bis zum Einsatzort.
- Gesprächs- und Dispositionszeit
- Nach Eingang des Notrufes in einer Leitstelle nimmt der Disponent den Schadensfall auf, entscheidet nach den Informationen des Anrufers und unter Berücksichtigung der entsprechenden Alarmpläne, welche Einsatzkräfte alarmiert werden müssen, und alarmiert diese. Die planerische Durchschnittszeit für die Gesprächs- und Dispositionszeit liegt bei etwa einer Minute im Rettungsdienst und 1,5 Minuten beim Brandschutz (Sollwert nach AGBF).
- Ausrückzeit
- Die Ausrückzeit beginnt mit der Alarmierung der Einsatzkräfte über automatisierte Alarmierungssysteme im Rettungsdienst und bei hauptamtlich besetzten Feuerwachen beziehungsweise durch das Anlaufen der Sirene oder des Funkmeldeempfängers bei Freiwilligen Feuerwehren. Sie enthält den Weg vom Aufenthaltsbereich zur Fahrzeughalle im Rettungsdienst und bei hauptamtlich besetzten Feuerwachen bzw. die Anfahrt der ehrenamtlichen Helfer zum Feuerwehrhaus sowie das Anlegen der persönlichen Ausrüstung bei Brandeinsätzen. Mit der Abfahrt des besetzten Fahrzeuges endet die Ausrückzeit.
- Die planerische Durchschnittszeit schwankt von etwa einer Minute im Rettungsdienst und bei der Berufsfeuerwehr und bis zu vier Minuten bei Freiwilligen Feuerwehren (Sollwert nach AGBF).
- Anfahrtszeit
- Die Anfahrtszeit vom Fahrzeugstandort zum Einsatzort stellt in der Praxis eine Planungsvariable in der Hilfsfrist dar. Sie soll zu 95 % innerhalb der gesetzlichen Regelungen für die Hilfsfrist bleiben. Die Abweichung von 100 % ergibt sich durch besondere Ereignisse wie extreme Wetterlagen, Unfall auf dem Einsatzweg, Duplizitätsfälle. Der planerische Sollwert für (Freiwillige) Feuerwehren liegt bei vier Minuten (nach AGBF).
Einsatzgrundzeit ist ein in Rheinland-Pfalz gebräuchlicher Begriff, der die Ausrückzeit und die Anfahrtszeit zusammenfasst.[2]
Kritik
Um die Genesung eines Notfallpatienten zu gewährleisten, müssen lebensrettende Sofortmaßnahmen möglichst zeitnah durchgeführt werden. Die Erfolgschancen bei einer Reanimation nach drei Minuten liegen bei 75 %, nach zehn Minuten bei 5 %.
Beim standardisierten Schadensereignis „kritischer Wohnungsbrand“[Anm. 1] nach AGBF muss 18 bis 20 Minuten nach Brandausbruch mit einem Flashover gerechnet werden. Des Weiteren liegt die Erträglichkeitsgrenze für eine Person im Brandrauch laut ORBIT-Studie bei ca. 13 Minuten. Die Reanimationsgrenze für eine Person im Brandrauch beträgt laut ORBIT-Studie etwa 17 Minuten. Deshalb gibt die AGBF eine Hilfsfrist von 9,5 bzw. 14,5 Minuten (+ 3,5 min Meldezeit) vor (siehe Abb.).[3]
Jüngere Studien weisen der ORBIT-Studie, die grundsätzlich nicht zur Planung der Hilfsfrist, sondern zur Beschaffungsplanung für Feuerwehr-Fahrzeuge erstellt wurde, gravierende Mängel nach:
- Im Gegensatz zu den Annahmen der Studie tritt (nach jüngeren französischen Studien) die Mehrzahl der letalen Rauchgasvergiftungen nicht durch Kohlenmonoxid, sondern durch Blausäurevergiftung (Entstehung aus Kunststoffbrand) ein.
- Die statistische Brandentdeckungszeit lag bereits zum Zeitpunkt der Erstellung der ORBIT-Studie oberhalb der von der ORBIT-Studie postulierten Erstickungszeit, so dass statistisch eine Rettung unter diesen Annahmen gar nicht möglich wäre.
- Die Anwendbarkeit der ORBIT-Studie in der Fläche, d. h. im Bereich Freiwilliger Feuerwehren, ist sehr fraglich, da das statistische Basismaterial der Studie überwiegend von Berufsfeuerwehren stammt.
- Die Feuerwehren leisten nur zu einem geringen Prozentsatz ihrer Einsätze tatsächlich Brandhilfe; überwiegend handelt es sich um technische Hilfsleistungen. Die Festlegung der Hilfsfristen auf Grundlage eines Einsatzszenarios, das weniger als 20 % des Einsatzspektrums ausmacht, darf als fragwürdige Methodik angesehen werden.[4][5][6][7]
Darüber hinaus hat die Entwicklung im Gebäudebestand dazu geführt, dass der Flashover als Einsatzrisiko für Feuerwehrleute deutlich an Gefährlichkeit zugenommen hat. Durch Wärmedämmung wird der Zeitpunkt des Flashovers früher erreicht, so dass kleine Einsatztrupps aus Gründen der Eigensicherung dem Löschangriff Vorrang vor der Personenrettung einräumen sollten. Dies wiederum führt zu einer Verlängerung der Frist zur Personenhilfe.
Die methodische Grundlage zur Definition der Hilfsfrist durch ORBIT- und verwandte Studien wird daher kritisiert und teilweise als überholt angesehen.[8]
Politische und institutionelle Vorgaben
In Deutschland sind die Bundesländer zuständig für den Rettungsdienst. Dementsprechend sind die gesetzlichen Vorgaben zur Hilfsfrist in 16 unterschiedlichen Rettungsdienstgesetzen geregelt. Die Hilfsfrist beginnt nach diesen Regelungen überwiegend mit dem Eingang des Notrufes, mit der Einsatzentscheidung (Niedersachsen), der Einsatzeröffnung (Bremen) oder dem Beginn der Anfahrt (Bayern, Saarland). Die Hilfsfrist selbst reicht von acht Minuten in dicht besiedelten Gebieten Nordrhein-Westfalens bis hin zu maximal 17 Minuten in ländlichen Gebieten Thüringens (bei einer Versorgung von 95 % der Bevölkerung im Rettungsdienstbereich bis 15 Minuten).
Brandschutz dagegen ist eine kommunale Aufgabe. Gemeinden legen in Brandschutzbedarfsplänen entsprechend den örtlichen Gegebenheiten das anzustrebende Schutzziel und den dabei einzuhaltenden Zielerreichungsgrad fest. Überprüft werden diese Vorgaben von den Bundesländern. In einigen Bundesländern sind Art und Anwendung eines Brandschutzbedarfsplans vorgeschrieben.[9]
Da es keine bundesweit einheitlichen gesetzlichen Regelungen und Richtlinien gibt, haben die von der Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Berufsfeuerwehren (AGBF) entwickelten Schutzzieldefinitionen für unterschiedliche Szenarien (Schadenereignisse) große Bedeutung als Richtschnur, insbesondere das exakt definierte Schadensereignis „kritischer Wohnungsbrand“. Neben rein zeitlichen Vorgaben zur Hilfsfrist werden dabei auch die erforderlichen Personalstärken für einen effektiven Einsatz sowie die nötige Eigensicherung festgelegt und der erforderliche Erreichungsgrad (95 %) definiert (siehe Abb.). Die meisten Brandschutzbedarfspläne halten sich eng an diese Vorgaben. Zusätzlich sollten besondere Gefährdungsbereiche berücksichtigt werden.
Hintergrund
An der Hilfsfristvorgabe hat sich die konkrete Organisationsplanung (Standorte der Rettungs- und Feuerwachen, personelle und materielle Ausstattung) auszurichten, was wiederum wesentlich die Vorhaltekosten der Gefahrenabwehr bestimmt.
Wo Standorte von Feuerwehr und Rettungsdienst historisch gewachsen sind, sind diese häufig in zentralen Orten konzentriert (z. B. mehrere Hilfsorganisationen in einer Kreisstadt), während in der Fläche solche Standorte fehlen. Eine Standort- und Ausstattungsplanung anhand der Hilfsfristvorgabe soll eine annähernd gleich gute Versorgung aller Menschen im Planungsgebiet ermöglichen.
Der geforderte reale Erreichungsgrad muss zwangsläufig geringer als 100 % sein, weil Vorkommnisse wie ungewöhnlich viele gleichzeitige Einsätze in einem Gebiet, Unfälle oder Defekte von Einsatzfahrzeugen auf der Anfahrt oder nicht passierbare Straßen nicht abschließend planbar sind.
Hilfsfrist der Rettungsdienste verschiedener Bundesländer
(Immer vom Eingang der Notfallmeldung in der Leitstelle bis zum Eintreffen am Notfallort)
- Baden-Württemberg: 10–15 Minuten[1]
- Bayern: max. 12 Minuten kürzeste planerische Fahrtzeit (zzgl. nicht näher definierter Bearbeitungszeit in der ILST)[10]
- Berlin: bedarfsgerecht
- Brandenburg: 15 Minuten (bei elektronischen Einsatzleitsystemen ab dem Zeitpunkt der Erstalarmierung)
- Bremen: 95 % in 10 Minuten
- Hamburg: 8–10 Minuten (DV der BF), laut Gesetzestext „Bedarfsgerecht und angemessen“
- Hessen: 90 % in 10 Minuten, 95 % in 15 Minuten (Rettungsdienst), 15 Minuten theoretisch-planerische Erreichbarkeit vom Standort aus (Notarzt)[11]
- Mecklenburg-Vorpommern: 10 Minuten
- Niedersachsen: 95 % in 15 Minuten[12]
- Nordrhein-Westfalen: 8 Minuten, in ländlichen Bereichen 12 Minuten
- Rheinland-Pfalz: 15 Minuten
- Saarland: 95 % in 12 Minuten
- Sachsen: 95 % in 12 Minuten
- Sachsen-Anhalt: 12 Minuten
- Schleswig-Holstein: 12 Minuten
- Thüringen: 14 Minuten, in ländlichen Bereichen 17 Minuten.
Hilfsfrist als Qualitätsmaß
Der reale Erreichungsgrad der Hilfsfrist in einem Gebiet kann nachträglich anhand von Einsatzstatistiken festgestellt werden. Er dient dann als Qualitätsmaß. Weicht dieser Wert signifikant von der Hilfsfristvorgabe ab, dann muss die Organisation des Brandschutzes bzw. Rettungsdienstes überprüft werden, insbesondere die Anzahl und die Positionierung von Rettungsfahrzeugen.
Anmerkungen
- Brand im Obergeschoss eines Wohnhauses mit verrauchtem (unpassierbarem) Treppenraum und Menschenleben in Gefahr
Weblinks
- Die B. Steiger-Stiftung zur Meldefrist (Memento vom 23. August 2007 im Internet Archive)
- Landesfeuerwehrverband Hessen / Nassauischer Feuerwehrverband: Hinweise und Empfehlungen zur Durchführung einer Bedarfs- und Entwicklungsplanung für den Brandschutz und die Allgemeine Hilfe der Städte und Gemeinden (PDF; 3,2 MB)
Einzelnachweise
- Rettungsdienstgesetz Baden-Württemberg, § 3 Abs. 2, www.landesrecht-bw.de, abgerufen am 13. Mai 2009
- http://www.ff-kell-am-see.de/willkommen/nuetzliches/einsatzgrundzeit.html
- AGBF-Bund: Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Berufsfeuerwehren. 16. September 1998, Fortschreibung vom 19. November 2015 Qualitätskriterien für die Bedarfsplanung von Feuerwehren in Städten (Memento vom 22. Januar 2017 im Internet Archive)
- „Methodische Ansätze zur datenbasiert-analytischen Risikobeurteilung zur strategischen Planung von Feuerwehren“, Ing. Adrian Ridder, M.Sc., MIFireE, Lehrstuhl Methoden der Sicherheitstechnik/Unfallforschung, Abteilung Sicherheitstechnik, Bergische Universität Wuppertal.
- Forschungsbericht Nr. 145 ENTWICKLUNG VON KOHLENMONOXID BEI BRÄNDEN IN RÄUMEN, Institut der Feuerwehr Sachsen-Anhalt, 2007.
- „O.R.B.I.T. 2010“, Aktuelle Erkenntnisse zu medizinischen und rettungstechnischen Grundlagen der Planung im Feuerwehrwesen
- Guido Kaiser, Universitätsmedizin Göttingen, Giftinformationszentrum-Nord der Länder Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein (GIZ-Nord), 37099 Göttingen
- Thomas Lindemann: Hilfsfristen als Planungsparameter im Rettungswesen als „Tabu-Thema“: Feuerwehr-Mythos „8 Minuten“. Hrsg.: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung. Nr. 02/2018. Bonn Februar 2018, S. 68 ff.
- Beispiel: Empfehlung des Sächsischen Staatsministeriums des Innern zum Brandschutzbedarfsplan (Memento vom 6. Februar 2011 im Internet Archive)
- § 2 Abs. 1 Satz 3 AVBayRDG vom 30. November 2010, abgerufen am 30. Juli 2018
- Rettungsdienstplan des Landes Hessen 2016. Hessisches Ministerium für Soziales und Integration, 6. September 2016, abgerufen am 26. Juli 2017.
- § 2 Abs. 3 der Verordnung über die Bemessung des Bedarfs an Einrichtungen des Rettungsdienstes (BedarfVO-RettD) (Gesetzestext im Nds. Vorschrifteninformationssystem)