Hans Gestrich
Hans Gestrich (* 17. September 1895 in Berlin; † 21. November 1943) war ein deutscher Ökonom. Als Pressereferent der Reichsbank ab 1931 hat er nachdrücklich gegen die Fortführung der Deflationspolitik gekämpft. Später übernahm er die Stellung des volkswirtschaftlichen Beraters der Preußischen Staatsbank, die er bis zu seinem Tod innehatte.[1]
Gestrich entstammt der ordoliberalen Schule, sah sich in der Tradition von Knut Wicksell und würdigend erklärte er, dass die grundlegenden Erkenntnisse, die zu der modernen Kredit- und Konjunkturtheorie geführt haben, bereits 1898 in Wicksells Geldzins und Güterpreise enthalten waren.[2][3]
Wirken
Hans Gestrich kann zu den wesentlichen Fortentwicklern der Modernen Kredittheorie und neben Wilhelm Lautenbach, Otto Pfleiderer, Leonhard Gleske und später Wolfgang Stützel (Saldenmechanik) zu den Begründern der Kreditmechanik gezählt werden.[4]
Wichtige Erkenntnis aus der Kreditmechanik stellt beispielsweise der Kredit, der noch gewährt werden kann (sein Potenzial) als zinsbestimmender Faktor dar[5] (im Gegensatz zu der klassischen These, wo die Zinshöhe aus der Höhe eines bereits bestehenden Kapitalfonds bestimmt wäre).[6] Aus Perspektive der Kreditmechanik wird weiters eine Erweiterung der Geldmenge durch Inaktivierung von Sparvermögen relativierend verstanden,[7] „solange dessen Wirkung als zusätzliches Kaufmittel durch die vorübergehende Stilllegung in Form der Spareinlage in entsprechender Höhe aufgehoben wird.“[8]
Klar analysiert Gestrich in Kredit und Sparen die Thematik der Geld- und Kreditschöpfung.[9] Auf die Interdependenz von Kreditausweitung und Kreditkontraktion weist er wie folgt hin: „Selbstverständlich hat die Kreditausweitung der einzelnen Bank und ihre Geldschöpfung auch immer die Tendenz zu einer Kreditausweitung und Geldvermehrung im gesamten Banksystem. Ob sich die Tendenz durchsetzt, hängt davon ab, wie stark die Gegentendenz der Kreditkontraktion und Verminderung der Gesamtgeldmenge durch Kreditrückzahlungen ist. Ist sie ebenso stark, so verändert sich das Gesamtvolumen nicht, ist sie stärker, so wird sogar eine Kontraktion des gesamten Kreditvolumens und der gesamten Geldmenge zu beobachten sein.“[10] (vgl. Nettokreditaufnahme).
Gestrichs Schrift Geldpolitik und Weltwirtschaft wurde von Wilhelm Lautenbach als „Arbeit im besten modernen Stil“ gewürdigt,[11] worin Gestrich der (damals üblichen) Argumentation der „notwendigen Marktbereinigung“ entgegnet: „Die Frage, ob sich eine absteigende Konjunktur mit Sicherheit von selbst auffängt, ob es also einen theoretischen Depressionstiefpunkt gibt, ist verneinend zu beantworten.“[12] Aus der Weltwirtschaftskrise (1929–1933), insbesondere der deutschen Bankenkrise (1931) zog Gestrich weiters den Schluss, dass Geschäftsbanken generell nicht als völlig vom Staat unabhängig betrachtet werden dürfen, denn der Staat darf den Zusammenbruch der großen Depositenbanken keinesfalls geschehen lassen, weil das gleichbedeutend wäre mit der Zerstörung eines Teils des Zahlungsmittelsystems und unabsehbaren Zerstörungen in der Wirtschaft – einem plötzlichen Deflationsschock für die gesamte Volkswirtschaft. Er sprach sich für eine zusätzliche Art von Privatbanken aus. Ebenso für eine Illusion hielt er, „dass die Zentralnotenbank wirklich unabhängig vom Staat sein könnte.“[13][14]
Wirtschaftspolitischer Standpunkt
Preisstabilität, also Stabilitätspolitik stellt für Gestrich höchsten wirtschaftspolitischen Stellenwert dar,[15] wobei er in Kredit und Sparen auch angibt, dass diesbezüglich die Beobachtung der (für ihn untergeordneten) Beschäftigungsrate als Indikator zu nachfolgender Preisveränderungstendenz insofern wesentlich sei, als bei sinkender Beschäftigung die Preise erfahrungsgemäß noch überaus lange am gewohnten Niveau verharren bevor die gesamtwirtschaftliche Stockung (durch die sinkende Beschäftigung ausgelöst oder verstärkt) die Preise nachgeben lässt.[16]
Wenngleich das Sparen der Individuen (im Sinne von Ausgabenverzicht zum Zweck eigener Geldvermögenserhöhung) die Konjunktur(en) tendenziell ungünstig beeinträchtigt, ist es Gestrich dennoch wichtig, darin ein wichtiges, auch kulturelles, Element selbstverantwortlicher Lebensgestaltung anzuerkennen.[17][18] Zum Grad des Interventionismus des Staates vertrat Gestrich die ordnungspolitische Haltung, „dass der Staat zum Schutze der Freiheit eingriffsbereit sein muß.“[19]
Werke (Auswahl)
- Die nationalökonomische Theorie, Breslau 1924.
- Der Youngplan, Leipzig 1929.
- Geldpolitik und Weltwirtschaft (PDF; 7,8 MB), Berlin 1934.
- Neue Kreditpolitik (PDF; 1 MB), Stuttgart und Berlin 1936.
- Kredit und Sparen (PDF; 66,9 MB), (Hrsg. Walter Eucken) Jena 1944.
Weblinks
- Literatur von und über Hans Gestrich im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Einzelnachweise
- Walter Eucken (Hrsg.) in: Kredit und Sparen. Vorwort, VI.
- Neue Kreditpolitik. S. 55.
- Kredit und Sparen. (1. Auflage) Jena 1944. S. 105–106:
„Er [Knut Wicksell] erkannte, daß der Preiskosmos einer solchen Ordnung keineswegs so eindeutig durch die relativen Güterknappheiten bestimmt und dementsprechend die Konsumtion und Produktion gesteuert wird, wie man bis dahin annahm, weil der Geldzins nicht durch die güterwirtschaftliche Tatsache des Sparens, sondern durch die geldwirtschaftliche Tatsache des Kreditangebots bestimmt wird. [...] Wicksell, dessen grundlegendes Werk Geldzins und Güterpreise bereits 1898 erschien, hatte die traditionelle Kreditlehre bereits überwunden und die Elastizität des modernen Kreditsystems vollkommen erkannt.“ - Reinhard Pohl: Die Auswirkungen der Staatsverschuldung auf die Finanzmärkte. In: Probleme der Staatsverschuldung. Berlin 1980. S. 89.
- Reinhard Pohl: Die Auswirkungen der Staatsverschuldung auf die Finanzmärkte. In: Probleme der Staatsverschuldung. Berlin 1980. S. 89.
- Wilhelm Lautenbach: Zins, Kredit und Produktion. (Hrsg. Wolfgang Stützel) Tübingen 1952. S. 95:
„Wie funktioniert der Kreditapparat, wenn der Staat große Ausgaben durch Kredit finanziert? Woher kommen die Mittel?
Die meisten, die die Frage stellen, und es sind keineswegs nur Laien, haben dabei die Vorstellung, als gäbe es irgendeinen begrenzten Vorrat an Geld oder Kredit. Mit dieser Vorstellung verknüpft sich gewöhnlich die besorgte Frage, ob der Staat durch seine Kreditansprüche nicht der Wirtschaft den Kredit verknappe. In Wahrheit verhält es sich aber genau umgekehrt. Wenn der Staat in großem Stil Kredit nimmt, wird die ganze Kreditwirtschaft aufgelockert. Die Geld- und Kreditmärkte werden flüssig, die Unternehmer werden liquide, ihre Bankkredite nehmen ab, die Geschäftsdepositen steigen [...]“ - Werner Ehrlicher: Geldtheorie. In: Kompendium der Volkswirtschaftslehre. Band 1. (online) S. 358.
- Wolfgang Grosse-Büning: Das Verhältnis von Sparkassen und Notenbank. Köln 1957. (online) S. 97.
- Peter Bernholz: Geldwertstabilität und Währungsordnung. Tübingen 1989. (online) S. 14.
- Kredit und Sparen. (1. Auflage) Jena 1944. S. 55.
- Wilhelm Lautenbach: Zins, Kredit und Produktion. (Hrsg. Wolfgang Stützel) Tübingen 1952. S. 207.
- Geldpolitik und Weltwirtschaft. Berlin 1934. S. 13:
„Wenn in den Jahren 1931/1932 durch die Gegner aktiver Konjunkturpolitik immer ins Feld geführt worden ist, durch ein Laufenlassen der Krise müßte die Wirtschaft von schwachen und leistungsunfähigen Unternehmungen „gereinigt“ werden, so hat die Erfahrung gezeigt, daß die Krisis selbst immer mehr Unternehmungen schwach gemacht hat. Die „Leistungsunfähigkeit“ bestand mehr und mehr lediglich in dem Vorhandensein von Schulden, die bei fallenden Umsätzen und Preisen gleich hoch blieben. Die Finanzierung mit Fremdkapital ist aber gerade in der modernen Wirtschaft noch kein Kriterium der Untüchtigkeit. Es hat einen guten Sinn, von einer Reinigungsfunktion der Wirtschaftskrisen zu sprechen, da tatsächlich die Schlechten und Untüchtigen zuerst fallen. Je länger aber eine Krisis dauert, je tiefer sie wird, desto mehr wird aus der Reinigung einfache sinnlose Zerstörung. Die Theorien vom „Vonselbstausbrennen“ der Wirtschaftskrisis und ihrer „Reinigungsfunktion“ haben auf die deutsche Wirtschaftspolitik der Jahre 1931/32 einen verhängnisvollen Einfluß gehabt.“ - Neue Kreditpolitik. Stuttgart und Berlin 1936. S. 73–95:
„Man kann es nicht den Gutdünken einer noch so qualifizierten Bankleitung überlassen, ob sie der nationalen Volkswirtschaft die Opfer einer Deflation auferlegen oder die Wechselkursparität herabsetzen will. In solchen Schicksalsfragen kann nur die Staatsführung, die auch die sozialen und politischen Folgen zu tragen hat, die Entscheidung treffen. Allzusehr sind heute die Wirkungs- und Erfolgsmöglichkeiten der allgemeinen Wirtschaftspolitik von Kreditpolitik abhängig, allzusehr ist dies ins allgemeine Bewußtsein gedrungen. Deswegen muß heute mehr denn je die Zentralnotenbank ein Organ des Staates sein.“ - Gerold Blümle: Grundtexte zur Freiburger Tradition der Ordnungsökonomik. (Hrsg. Nils Goldschmidt, Michael Wohlgemuth) Tübingen 2008. (online) S. 350.
- Gerold Blümle: Grundtexte zur Freiburger Tradition der Ordnungsökonomik. (Hrsg. Nils Goldschmidt, Michael Wohlgemuth) Tübingen 2008. S. 351.
- Kredit und Sparen. (1. Auflage) Jena 1944. S. 95:
„Die Beobachtung des Preisniveaus ist also immer der wichtigste Orientierungspunkt. Jedoch kann dies allein nicht genügen. Dem einmal eingespielten Preissystem wohnt eine gewisse Trägheit inne [...]. Besonders dem Herabgehen der Preise stehen in der modernen Wirtschaft derartige Hindernisse entgegen. Infolgedessen wird sich eine Stockung, die das erste Anzeichen einer Umkehr der Konjunktur bedeuten könnte, meist oder jedenfalls häufig nicht sogleich durch sinkende Preise, sondern durch sinkende Beschäftigung bei gleichbleibenden Preisen bemerkbar machen. Die Beobachtung des Beschäftigungsgrades bleibt also auch dann äußerst wichtig, wenn man die Vollbeschäftigung nicht als das maßgebliche Ziel der Konjunkturpolitik betrachtet.“ - Gerold Blümle: Grundtexte zur Freiburger Tradition der Ordnungsökonomik. (Hrsg. Nils Goldschmidt, Michael Wohlgemuth) Tübingen 2008. S. 351.
- Kredit und Sparen. (1. Auflage) Jena 1944. S. 116:
„Es ist nützlich sich klarzumachen, daß das individuelle Sparen einer bestimmten Ordnung des menschlichen Lebens zugehört. Es ist Vorsorge für die Zukunft, die freiwillig unter eigener Verantwortung erfolgt, deren Zeitpunkt und Umfang nach eigenem Ermessen vom Sparer bestimmt wird. Das Sparen in diesem eigentlichen und ursprünglichen Sinn setzt voraus: Freiheit in der Verwendung des Einkommens, Sicherheit und grundsätzlicher Untastbarkeit des Eigentums.“ - Gerold Blümle: Grundtexte zur Freiburger Tradition der Ordnungsökonomik. (Hrsg. Nils Goldschmidt, Michael Wohlgemuth) Tübingen 2008. S. 262.