Gesetz über die Bearbeitung der Eingaben der Bürger
Das Gesetz über die Bearbeitung der Eingaben der Bürger, kurz Eingabengesetz, war ein Gesetz der Deutschen Demokratischen Republik zur informellen Konfliktbewältigung.
Geschichte
Am 6. Februar 1953 trat die erste "Verordnung über die Prüfung von Vorschlägen und Beschwerden der Werktätigen" in Kraft, unterschrieben von Ministerpräsident Otto Grotewohl und Staatssekretär Werner Eggerath.[1] Nach der Präambel mache es die "Schaffung der Grundlagen des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik" dringend erforderlich, "die Entfaltung der Kritik weitgehend zu fördern, um den Kampf gegen die Mängel und bürokratische Entstellungen im Staatsapparat sowie gegen Verletzungen der demokratischen Gesetzlichkeit zu führen."
Ein Eingabengesetz wurde erstmals durch Erlass des Staatsrates vom 27. Februar 1961 beschlossen, um „das Recht der Bürger auf aktive Mitarbeit bei der Leitung des volksdemokratischen Staates und der sozialistischen Betriebe“ zu verwirklichen.[2] Nach Änderungen in den Jahren 1966 und 1969 datiert die letzte Fassung vom 19. Juni 1975, die zum 1. Juli 1975 in Kraft trat.[3] Sie regelte das Verfahren zur Bearbeitung der in Art. 103 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik von 1968 gewährleisteten Petitionen.
Das am 1. Juli 1989 in Kraft getretene Gesetz über die Zuständigkeit und das Verfahren der Gerichte zur Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen (GNV)[4] wurde wegen der weiteren politischen Entwicklung nicht mehr umgesetzt. Zudem sah auch dieses Gesetz keinen effektiven Individualrechtsschutz im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG vor, da es ideologisch nach wie vor am Verständnis durchsetzbarer Abwehrrechte des einzelnen gegen den Staat fehlte.[5]
Die Eingaben und ihre Abwicklung ersetzten sowohl die Wiedererrichtung einer unabhängigen Verwaltungsgerichtsbarkeit nach 1945 als auch Gesetze wie die westdeutsche Verwaltungsgerichtsordnung (1960) und das Verwaltungsverfahrensgesetz (1977), da es nach dem ideologischen Selbstverständnis des DDR-Einheitsstaats keine Interessengegensätze zwischen Bürgern und Staat geben konnte.
Das Eingabegesetz wurde mit Inkrafttreten des Grundgesetzes und des einfachen Bundesrechts im Beitrittsgebiet durch Art. 3 und Art. 8 des Einigungsvertrags obsolet.
Inhalt und Bewertung
Ziel des Eingabengesetzes von 1975 war es, „den Bürgern bei der Überwindung persönlicher Schwierigkeiten zu helfen, ihr Vertrauen zu den Staatsorganen zu stärken, ihre Bereitschaft zur Teilnahme an der Lösung der staatlichen Aufgaben zu fördern und die sozialistische Gesetzlichkeit zu festigen“ (§ 2 Abs. 2).
Nach § 1 konnten sich einzelne Bürger und gesellschaftliche Organisationen schriftlich oder mündlich mit Vorschlägen, Hinweisen, Anliegen und Beschwerden an die Volksvertretungen, die staatlichen und wirtschaftsleitenden Organe, die volkseigenen Betriebe und Kombinate, die sozialistischen Genossenschaften und Einrichtungen sowie an die Abgeordneten wenden.[6][7][8] Das Gesetz galt jedoch nicht für das Neuererwesen, Rechtsmittel und andere Anträge, deren Bearbeitung durch besondere Rechtsvorschriften geregelt war.
Entscheidung über Eingaben erfolgten durch den jeweils zuständigen Leiter bzw. einen von ihm Bevollmächtigten (§§ 4 Abs. 1, 5 Abs. 1), es sei denn, dieser war befangen (§ 6).
Es bestand zwar ein Anspruch auf begründete schriftliche oder mündliche Antwort spätestens innerhalb von 4 Wochen nach Eingang mit disziplinarischer Verantwortung des Zuständigen bei Missachtung (§§ 7, 13), es gab für den Petenten jedoch keine Handhabe zur Realisierung eventuell gemachter Zusagen.[9] Gegebenenfalls war eine weitere Eingabe an das übergeordnete Organ oder den übergeordneten Leiter möglich. Entscheidungen der Leiter zentraler Staatsorgane waren endgültig (§ 8).
§§ 9 bis 11 sahen die Erfassung und regelmäßige Auswertung der Eingaben und ihrer Ergebnisse sowie eine Berichtspflicht der Räte gegenüber den örtlichen Volksvertretungen vor.[10]
In den Eingaben wurden bekannte Probleme des alltäglichen Lebens ebenso vorgebracht wie gesellschaftliche Tabuthemen. Sie waren damit eine wichtige Informationsquelle, mit deren Hilfe gesellschaftliche Disharmonien für die Führungseliten sichtbar gemacht wurden und erfüllten neben dieser aufklärerischen Funktion auch eine integrative Aufgabe zur Entschärfung gesellschaftlichen Konfliktpotenzials.[11]
Weblinks
- Gesetz über die Bearbeitung der Eingaben der Bürger – Eingabengesetz vom 19. Juni 1975 (GBl. DDR I S. 461). verfassungen.de
Einzelnachweise
- Felix Mühlberg: Informelle Konfliktbewältigung. Zur Geschichte der Eingabe in der DDR Chemnitz, Univ.-Diss. 1999, S. 112 ff.
- Erlaß des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die Eingaben der Bürger und die Bearbeitung durch die Staatsorgane vom 27. Februar 1961. verfassungen.de
- Eingabengesetz DDR-Lexikon, abgerufen am 30. Mai 2019
- GBl. DDR I Nr. 28 S. 327
- Maira Mildred Susanne Baderschneider: Der Bürger als Richter: eine empirische Untersuchung des ehrenamtlichen Richters an den allgemeinen Verwaltungsgerichten. Peter Lang Verlag 2010, ISBN 978-3-631-61208-8, S. 14 ff.
- vgl. Alf Lüdtke, Peter Becker (Hrsg.): Akten, Eingaben, Schaufenster. Die DDR und ihre Texte. Erkundungen zu Herrschaft und Alltag. Berlin 1997
- vgl. Ina Merkel: "Wir sind doch nicht die Mecker-Ecke der Nation." Briefe an das DDR-Fernsehen. Köln 1998
- Annett Kästner: Eingaben im Zivilrecht der DDR. Eine Untersuchung von Eingaben zu mietrechtlichen Ansprüchen aus den Jahren 1986 und 1987. Berlin 2006
- Steffen Elsner: Flankierende Stabiliiserungsmechanismen diktatorischer Herrschaft: Das Eingabewesen in der DDR. In: Christoph Boyer (Hrsg.): Repression und Wohlstandsversprechen. Zur Stabilisierung von Parteiherrschaft in der DDR und der CSSR. Dresden 1999, S. 75–88
- vgl. Hartmut Bettin: Zwischen Verdüsterung und Verklärung: Eingabenanalysen des Ministeriums für Gesundheitswesen (MfG) der DDR als Quelle zur Beschreibung von Problemschwerpunkten und Bewältigungsstrategien im DDR-Gesundheitswesen. Medizinhistorisches Journal 2016, S. 327–363
- Katja Wüllner: Hinter der Fassade – Das institutionelle System der Denkmalpflege in der DDR untersucht am Beispiel der thüringischen Städte Erfurt, Weimar und Eisenach. Cottbus-Senftenberg, Univ.-Diss. 2015, S. 170 ff.