Gänseliesel-Brunnen (Göttingen)
Der Gänseliesel-Brunnen ist ein Markt- und Zierbrunnen auf dem Markt vor dem Alten Rathaus in der Innenstadt von Göttingen in Niedersachsen. Der Brunnen mit einem Gänseliesel als Brunnenfigur wurde 1901 errichtet und gilt als Wahrzeichen der Stadt. Umgangssprachlich wird der ganze Brunnen als Gänseliesel bezeichnet. Man trifft sich in Göttingen „am Gänseliesel“.
Geschichte
Anfang 1898 schrieb der Magistrat der Stadt Göttingen unter Bürgermeister Georg Calsow zur Neugestaltung des Marktbrunnens einen öffentlichen Wettbewerb aus:
„Wettbewerb
Zur Erlangung eines Entwurfes für einen vor dem hiesigen Rathauses zu errichtenden monumentalen Brunnen wird hiermit ein öffentlicher Wettbewerb unter Künstlern, welche Angehörige des Deutschen Reiches sind, ausgeschrieben. Die Entwürfe müssen bis zum 1. Juni 1898, Mittags 12 Uhr portofrei bei uns eingegangen sein.
Das Preisrichteamt haben übernommen die Herren: Bildhauer, Professor Dr. Hartzer - Berlin; Bildhauer, Professor Herter - Berlin; Architekt, Professor Stier - Hannover, Geheimer Baurath Murray - Göttingen; Bürgermeister Calsow - Göttingen; Bürgervorsteher Worthalter Brand, daselbst; Stadtbaurat, Königlicher Baurath Gerber, daselbst.
Das Programm nebst Anlagen ist gegen portofreie Einendung von 2 Mark von uns zu beziehen. Ausgesetzt sind 3 Preise von 600, 400 und 200 Mark.
Göttingen, den 8. Februar 1898. Der Magistrat - Calsow.“[1]
An dem Wettbewerb beteiligten sich 46 Entwürfe von 40 Künstler und Architekten,[2] unter anderen auch Ernst Barlach.[3] Den ersten Preis erhielt der Entwurf mit dem Titel „Im Geist der Alten“ von den Frankfurter Künstlern K. Mehs und H. Jehs mit Brunnenfiguren und Wappen im Stil der Neogotik.[4] Nach der Preisverleihung hatte die Göttinger Bevölkerung Gelegenheit, ihr Urteil abzugeben, wobei der Entwurf kritisiert wurde. Entscheidend für eine Umorientierung war vor allem das Eingreifen des bei der Preisgerichtssitzung verhinderten Juryvorsitzenden, des Berliner Bildhauers Ferdinand Hartzer, der sich für den zweitplatzierten Entwurf des Architekten Heinrich Stöckhardt mit dem Bildhauer Paul Nisse unter dem Titel „Gänsemädel“[5] starkmachte. Hartzers Argumente überzeugten, sodass Stöckhardt und Nisse den Ausführungsauftrag bekamen. Standort und Proportionen der Brunnenarchitektur wurden noch angepasst, wobei Hartzer künstlerisch mitwirkte.[6]
Die Aufstellung erfolgte erst im Juni 1901, jedoch zog sich die Fertigstellung noch bis November 1901 hin. Eine offizielle Einweihung von Brunnen und Figur fand nie statt. Das Göttinger Tageblatt notierte kritisch: „(Um eine neue ‚Mitbürgerin‘) ist unsere Stadt reicher geworden. Seit gestern hat sich nämlich das Gänselies’l auf dem neuen Marktbrunnen häuslich niedergelassen, wo es nun wohl Jahrhunderte hindurch als Wahrzeichen der Stadt Göttingen verbleiben wird. Der mächtige Rathaus-Coloß im Hintergrund, der umfangreiche Sockel, auf den man „Klein Lies’l“ gestellt hat, lassen seine Figur doch recht winzig erscheinen.“[7] Gleichwohl schlossen die Göttinger ihren Gänseliesel-Brunnen rasch ins Herz und ließen ihn zum städtischen Wahrzeichen werden.
Diesem hohen Symbol- und Identifikationswert konnten auch zahlreiche, teilweise tiefgreifende Schäden und Veränderungen am Gänseliesel-Brunnen nichts anhaben: In den 1930er-Jahren wurden die markanten 24 Prellsteine am Stufenbau entfernt.[8] 1941 kam es zu einer niemals aufgeklärten, schweren Beschädigung der Gänselieselfigur, die aus ihrer Verankerung gerissen worden war, was erst 1943 repariert werden konnte.[9] 1968 wurde das Brunnenbecken im Zuge der Neugestaltung des Marktplatzes nach Süden versetzt[10] und durch den Göttinger Steinmetzbetrieb Chr. Wolf grundlegend „erneuert“,[11] wobei man auch die innere Brunnenschale durch eine Kopie ersetzte.[12] Bei einer weiteren Platzumgestaltung kürzte man den Stufenunterbau, so dass die Brunnenanlage an Höhe verlor. Die originale Gänseliesel-Figur wurde 1990 durch eine Kopie ersetzt und im Städtischen Museum ausgestellt.[13] 2000[14] 2004[15], und 2020[16] fanden weitere Restaurierungen statt, verursacht auch durch materiellen Verschleiß bei dem im nächsten Kapitel genannten Studentenbrauch.
Studentenbrauch
Teile der Studentenschaft bezogen die Brunnenanlage bald in ihr Brauchtum ein. Nach ihrer Immatrikulation bestiegen die Studenten den Brunnen, um die Brunnenfigur zu küssen. Da dies häufig im Rahmen lautstarker Feiern geschah, wurde am 31. März 1926 eine Verordnung erlassen, die das Erklettern des Marktbrunnens und ein Küssen des Gänseliesels unter Strafe stellte. Weil sich die Studenten nicht daran hielten, kam es 1926 zu einem „Kuss-Prozess“. Nachdem im Sommersemester der cand. jur. Georg Graf Henckel von Donnersmarck auf frischer Tat ertappt wurde, musste er eine Geldstrafe von zehn Reichsmark (heute etwa 40,- Euro) zahlen.[17] Der Jurastudent focht zwar die Ordnungsstrafe an und forderte vom Gericht „Kussfreiheit“ und „doch den Bann von den bronzenen Lippen zu lösen“, aber er hatte weder vor dem Göttinger Amtsgericht noch vor dem Berliner Kammergericht Erfolg. Das Kussverbot galt offiziell weiterhin, wurde aber kaum beachtet.[18] Deswegen gilt das Gänseliesel den Göttingern als das meistgeküsste Mädchen der Welt. Allerdings waren es in den letzten Jahrzehnten nicht mehr die Neuimmatrikulierten, die das Gänseliesel küssten, sondern Doktoranden nach ihrer erfolgreichen Prüfung. Dabei wird dem Gänseliesel ein Blumenstrauß überreicht. Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Gänseliesels hob der Rat der Stadt 2001 das Kussverbot offiziell auf.[19][20][21]
Gänseliesel als regionale Symbolfigur
Seit 1995 wird einmal jährlich auf Initiative eines Regionalwirtschaftsverbandes eine junge Frau zum „Gänseliesel“ gewählt. Sie übernimmt repräsentative Aufgaben, vor allem in der Wirtschaftsförderung.[22]
Die bisweilen kitschige Vermarktung des lieblichen Wahrzeichens vom Autobahnschild über Stadt-Logo, Ansichtskartenmotiv und Maskottchen bis zur Marzipanfigur führte auch zu intellektuellem Überdruss. Eine bekannte sozialkritische Gegenreaktion dazu ist der Stadtführer „Göttingen ohne Gänseliesel“ (zwei Auflagen 1988 und 1989).[23]
Literatur
- Günther Meinhardt: Die Geschichte des Göttinger Gänseliesels. In: Göttinger Jahrbuch. Hrsg. Geschichtsverein für Göttingen und Umgebung e.V., Band 15, Heinz Reise Verlag, Göttingen 1967, S. 151–161.
- Helga-Maria Kühn: Vom Löwenbrunnen zum Gänseliesel, Hrsg. Stadt Göttingen und Fremdenverkehrsverein Göttingen e.V., Göttingen o. J. (1994). (Digitalisat)
- Burchard Senge: Aufruf an die Bürger Göttingens anläßlich der Wiederaufstellung des Gänseliesels am 10.5.2000. In: Göttinger Jahrbuch. Hrsg. Geschichtsverein für Göttingen und Umgebung e.V., Band 48, Verlag Erich Golze, Göttingen 2000, S. 5–6.
Weblinks
- Gänseliesel. Geschichtswerkstatt Göttingen e.V., abgerufen am 19. Januar 2021.
- Gänselieselbrunnen. In: Brunnen – Denkmale – Kunstwerke. Stadt Göttingen, Fachdienst Kultur, abgerufen am 19. Januar 2021.
- Göttinger Gänseliesel, https://www.brauchwiki.de/das-goettinger-gaenseliesel/ Brauchwiki.de, Heimat im Netz, abgerufen am 19. Januar 2021.
- Göttingen ohne Gänseliesel ist wie ein Dorf ohne Dorflinde, goest (goettinger stadtinfo), abgerufen 11. März 2021. (U. a. mit Fotos vom derben Umgang mit dem Brunnen 2006)
Einzelnachweise
- Zitiert nach: Kühn 1994, S. 6 (dort mit Quellenangabe aus dem Stadtarchiv Göttingen).
- Kühn 1994, S. 30 f. (mit Auflistung).
- Karl Arndt: Ernst Barlach und der Göttinger Marktbrunnen. In: Geschichtsverein für Göttingen und Umgebung e. V. (Hrsg.): Göttinger Jahrbuch. Band 49. Verlag Erich Goltze, Göttingen 2001, ISBN 3-88452-379-1, S. 83–104.
- Abgebildet bei Kühn 1994, S. 7.
- Ursprünglicher Entwurf abgebildet bei Kühn 1994, S. 8.
- Zur umfangreichen Diskussion siehe: Kühn 1994, S. 9–13.
- Geschichte des Gänseliesels. Geschichtswerkstatt Göttingen e. V., abgerufen am 25. August 2020.
- Kühn 1994, S. 20 f.
- Meinhardt 1967, S. 160.
- Kühn 1994, S. 21.
- Zwei Inschriften am Brunnen.
- Kühn 1994, S. 21.
- Kühn 1994, S. 23.
- Senge: Aufruf, 2000, S. 5–6.
- Göttingen ohne Gänseliesel ist wie ein Dorf ohne Dorflinde. goest (Göttinger Stadtinfo), abgerufen am 11. März 2021.
- Fabian Becker: Nach Feuer im Brunnen Das Göttinger Gänseliesel wird für 10.000 Euro saniert. In: Hessisch/Niedersächsische Allgemeine (HNA). 5. Juli 2020, abgerufen am 25. August 2020.
- Alexander Hüsing: Göttinger Gänseliesel: "Geben Sie Kussfreiheit", Spiegel Online, 6. Juni 2001. Abgerufen am 28. November 2008.
- Stine Marg, Karin Schweinebraten: ˶Sire, geben Sie Kussfreiheit!˝ Über die Aushandlung von gesellschaftlichen Normen zwischen Göttinger Bürgerschaft und Studierenden am Beispiel des Kuss-Prozesses von Graf Henckel von Donnersmarck (1926/27). In: Franz Walter, Teresa Nentwig (Hrsg.): Das gekränkte Gänseliesel. 250 Jahre Skandalgeschichten in Göttingen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2016, ISBN 978-3-525-30080-0, S. 82–90.
- Antje Koolman, Sünne Jutrcenka: Geschichte des Gänseliesel-Brunnens. (Nicht mehr online verfügbar.) In: Geschichtswerkstatt Göttingen e.V./GöCam.de. Archiviert vom Original am 18. Oktober 2007; abgerufen am 20. März 2021.
- Das Göttinger Gänseliesel wird 110 Jahre alt goettinger-tageblatt.de, am 6. Juni 2011.
- Brauch hält sich trotz Kussverbot. (Nicht mehr online verfügbar.) In: 275 Jahre Georgia Augusta. 2012, archiviert vom Original am 19. Februar 2016; abgerufen am 20. März 2021.
- vorbeugender Lärmschutz VG Göttingen, Urteil vom 23.02.2005 - 1 A 1214/02
- Kornela Duwe, Carola Gottschalk, Marianne Koerner, im Auftrag der Geschichtswerkstatt Göttingen e.V. (Hrsg.): Göttingen ohne Gänseliesel. Texte und Bilder zur Stadtgeschichte. 2. Auflage. Wartberg Verlag, Gudensberg-Gleichen 1989, ISBN 3-925277-26-9.