Erna Jaenichen
Matilde Elisabeth „Erna“ Jaenichen (* 14. Oktober 1905 in Wörmlitz bei Halle an der Saale; † nach 1961) war eine deutsche Schneiderin und später Prostituierte. Sie wurde bekannt aufgrund ihrer Rolle in der Affäre um die Ermordung ihres Lebensgefährten, des SA-Sturmführers Horst Wessel, der nach seinem Tod von der nationalsozialistischen Propaganda zu einem politischen Märtyrer der NS-Bewegung stilisiert wurde.
Leben und Tätigkeit
Herkunft und Werdegang bis 1930
Jaenichen war die Tochter des Bahnnachtwächters August Ludwig Jänichen und seiner Frau Marie Ida Jänichen, geb. Schlesiger. Nach dem Schulbesuch erlernte sie den Beruf einer Schneiderin. In den 1920er Jahren verschlug es Jaenichen nach Berlin, wo sie sich schließlich als Prostituierte zu betätigen begann. Der Wessel-Biograph Daniel Siemens hält es für am wahrscheinlichsten, dass sie auf der Suche nach Arbeit in die Großstadt ging und dort als weitgehend mittellose Schlafgängerin und Untermieterin ins Prostituiertenmilieu abrutschte.
Bis 1929 betätigte Jaenichen sich vor allem in der Münzstraße als Prostituierte. Als ihr Zuhälter fungierte zu dieser Zeit ein Chauffeur namens Georg Ruhnke.
1929 lernte Jaenichen den aus gutbürgerlichem Hause stammenden Studienabbrecher Horst Wessel kennen, der sich seit einigen Jahren in der Sturmabteilung (SA), dem Straßenkampfverband der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, engagierte, in dessen Berliner Sektion Wessel seit 1928 eine führende Stellung einnahm. Seit Anfang 1929 führte er den SA-Sturm 5 im Arbeiterbezirk Friedrichshain. Angeblich lernte Wessel Jaenichen kennen, als er einschritt, als diese auf der Straße vor dem Animierlokal Mexiko-Diele von ihrem Zuhälter verprügelt wurde. Jaenichen und Wessel gingen jedenfalls im Laufe des Jahres 1929 eine Beziehung miteinander ein, die schließlich in einem Verlöbnis mit dem Plan zu heiraten mündete.
Im Oktober 1929 zog Jaenichen zu Wessel in die Große Frankfurter Straße 62. Dort hatte die Witwe Salm bei ihrem Wegzug aus Berlin ihre zwangsbewirtschaftete Einzimmerwohnung an Wessel vermietet. Jaenichen betätigte sich nach dem Zusammenzug mit Wessel nicht länger als Prostituierte, sondern erhielt ihren Lebensunterhalt von ihm. Außerdem soll sie sich nun in ihrem angestammten Beruf als Schneiderin etwas Geld dazu verdient haben.
Die Ermordung Horst Wessels
Als Salm nach Berlin zurückkehrte, um ihre Wohnung wieder in Besitz zu nehmen, kam es zu erheblichen Spannungen mit dem Paar Wessel/Jaenichen. Im Januar 1930 verlangte Salm den Auszug ihrer Untermieter aus der Wohnung. Diese erklärten sich schließlich nach wiederholten Zusammenstößen bereit, zum 1. Februar 1930 auszuziehen. Zu diesem Zeitpunkt war die Ablehnung von Salm gegen die Anwesenheit von Wessel und vor allem Jaenichen in ihrer Wohnung jedoch derart stark ausgeprägt, dass sie den sofortigen Auszug wünschte.
Da die Polizei, an die Salm sich beschwerdeführend wandte, ihr zu verstehen gab, dass sie besseres zu tun habe als private Mietkonflikte zu regeln, suchte Salm am Abend des 14. Januar 1930 die Gaststätte von Baer in der Dragonerstraße 48 auf. Das Lokal war Treffpunkt einer kommunistischen „Sturmabteilung“, einer illegalen Nachfolgeorganisation des verbotenen Rotfrontkämpferbunds. Da Salms verstorbener Mann im Rotfrontkämpferbund aktiv gewesen war, bat sie einige der sich in Baers Gaststätte aufhaltenden Kommunisten, ihr dabei zu helfen, ihre ungeliebten Untermieter aus ihrer Wohnung zu entfernen. Die von ihr angesprochenen Männer erwiesen sich zunächst als desinteressiert und unwillig. Als Salm den Namen Wessels als den des Störenfriedes, dem es beizukommen gelte, erwähnte, sprangen die Kommunisten jedoch an, da Wessel in den einschlägigen Kreisen als ein „SA-Häuptling“ bekannt war und sogar bereits auf kommunistischen Flugblättern als Arbeitermörder angeprangert worden war. Die von Salm um Hilfe ersuchten Männer erklärten sich angesichts dieses Umstandes doch dazu bereit, dem Nazirüpel Wessel eine "proletarische Abreibung" zu verpassen.
Eine Gruppe von rund einem Dutzend Personen aus Baers Gaststätte und der benachbarten Gaststätte von Adolf Galsk begab sich gegen 21 Uhr zu Salms Wohnung in der Großen Frankfurter Straße. Als Wessel auf das Anklopfen Albrecht Höhlers hin seine Zimmertür öffnete, schoss dieser ihm sofort in den Mund. Während der anschließenden Durchsuchung von Wessels Zimmer durch mehrere andere Mitglieder der Angreifer wurden Jaenichen und eine anwesende Freundin mit vorgehaltener Schusswaffe von Höhler in Schach gehalten. Nachdem Höhler und die übrigen Eindringlinge geflohen waren, wurde die NSDAP-Zentrale verständigt und ein Krankenwagen herbeigerufen, der Wessel ins Krankenhaus Friedrichshain transportierte, wo eine Notoperation ihm zunächst das Leben rettete. Die Verletzung erwies sich als tödlich. Als Wessel am 23. Februar 1930 im Krankenhaus an einer Blutvergiftung starb, hatte Goebbels bereits damit begonnen, ihn zum Märtyrer zu machen.
In ihren Vernehmungen durch die Polizei nach der Tat argwöhnte Jaenichen einerseits, dass die Männer, die Wessel überfallen hatten, von Salm in die Wohnung bestellt worden waren, um ihrem Verlobten „eins auszuwischen“ und der Vorgang seine Begründung in Wohnungsstreitigkeiten gehabt hätte. Andererseits hielt sie es auch für möglich, dass der Überfall von ihrem ehemaligen Freund und Zuhälter Ruhnke inszeniert worden sei. Von diesem hätte sie sich etwa Anfang 1929 getrennt, er habe sie aber seither wiederholt aufgefordert, sich von Wessel zu trennen und zu ihm, Ruhnke, zurückzukehren. Auch habe er sie wiederholt auf der Straße geschlagen. Zudem gab sie vertraulich an, einen der Täter, Höhler, seit etwa 1928 dem Ansehen nach aus der Münzstraße zu kennen: Dieser habe sich dort zur selben Zeit, während der sie dort der Prostitution nachging, als Zuhälter betätigt. Sie wisse, dass Höhler, den sie unter dem Vornamen Ali gekannt habe, mit ihrem ehemaligen Zuhälter Ruhnke gut bekannt sei, und Höhler sei eventuell von diesem zu der Tat gegen Wessel veranlasst worden.
Im nachfolgenden Prozess im Herbst 1930 wegen der Tötung Wessels trat Jaenichen als Zeugin auf.
Jaenichens Rolle
Bald nach Wessels Tod setzte eine scharfe Propagandaschlacht um seine Person, seinen Werdegang sowie die Umstände und Gründe seiner Ermordung ein. In dieser nahmen Jaenichen und ihre anrüchige Vergangenheit im Rotlichtmilieu eine entscheidende Rolle ein: Während die NS-Presse Wessel zu einem Heroen mit makelloser Biographie stilisierte, der in selbstloser Weise ein abgeglittenes Proletariermädchen aus der Gosse gerettet habe, um sie zu heiraten, und behauptete, dass er von kriminellen Subjekten (insbesondere dem Berufskriminellen und Zuhälter Höhler), mit denen die kommunistische Partei als eine ihrem Wesen nach kriminelle Vereinigung naturgemäß fest verknüpft sei, aus politischen Gründen (aufgrund seiner Erfolge die Arbeiter in Berlin zum Nationalsozialismus zu bekehren) ermordet worden sei, versuchte die kommunistische Presse der nationalsozialistischen Glorifizierung Wessels nach Kräften entgegenzuwirken: Sie distanzierte sich von dem Kriminellen Höhler, von dem sie erklärte, dass er mit der KPD nichts zu tun gehabt habe, und verbreitete die Behauptung, dass Wessel selbst ein Zuhälter gewesen sei. Wessel sei bei einem Streit zwischen zwei Zuhältern um ein Mädchen (Jaenichen) umgekommen. Der ganze Vorfall sei völlig unpolitischer Natur. Entsprechend diesem Narrativ der Kommunisten zogen bereits am Tag von Wessels Beerdigung auf dem St. Nikolai-Friedhof tausende Kommunisten auf der Straße neben dem Friedhof auf und skandierten hämisch johlend "Dem Zuhälter Horst Wessel ein letztes Heil Hitler!".
Weiterer Verbleib
Nach dem Wesselprozess zog Jaenichen sich ins Privatleben zurück. Während Wessel seit 1930 durch die von seinem ehemaligen Förderer, den Berliner Gauleiter Joseph Goebbels, dirigierte nationalsozialistische Propaganda zunächst zum Hauptmärtyrer der NS-Bewegung und dann, nach der Etablierung der NS-Diktatur im Jahr 1933, zum Nationalheiligen des nationalsozialistischen Deutschlands erhoben wurde, verschwand Jaenichen weitgehend von der Bildfläche. Wie Wessels Biograph Siemens schrieb, war dies wahrscheinlich das Klügste, was sie in der Situation, in der sie sich befand, tun konnte, da die NSDAP und dann der nationalsozialistisch geführte deutsche Staat naturgemäß wünschten, dass die genierliche Beziehung des strahlenden Überhelden der Partei- und Staatspropaganda, Wessel, zu einem Strichmädchen so wenig wie möglich thematisiert werden sollte.
Jaenichen verheiratete sich in den 1930er-Jahren in kurzer Folge zweimal, erstmals 1932 mit Georg Ruhnke. Dieser starb 1934. Am 5. Oktober 1934 heiratete sie in Berlin-Weißensee den Schlosser Paul Felgner.[1] Mitte der 1930er Jahre führte sie einen Prozess gegen den Schriftsteller Heinz Ewers und seinen Verlag, die Cotta’sche Verlagsbuchhandlung, wegen der Schilderung ihrer Persönlichkeit in einer von Ewers verfassten Wessel-Biografie, die sie als ehrverletzend bewertete. Sie forderte daher, den Vertrieb des Buches einzustellen. Der Prozess endete mit einem Vergleich.
Jaenichens weiterer Verbleib nach diesem Prozess ist ungeklärt.
Am 17. Oktober 1939 heiratete Jänichen in dritter Ehe in Berlin-Charlottenburg Albin Friedrich Scherzer (* 9. Januar 1911 in Nürnberg; † 30. November 1952 ebd.).[2]
Literatur
- Daniel Siemens: Horst Wessel. Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten. Siedler, München 2009, ISBN 978-3-88680-926-4.
- Heinz Knobloch: Der arme Epstein. Wie der Tod zu Horst Wessel kam. Aufbau-Taschenbuch-Verlag, Berlin 1996, ISBN 3-7466-8021-2.
- Thomas Oertel: Horst Wessel – Untersuchung einer Legende. Böhlau, Köln 1988, ISBN 3-412-06487-4.
Einzelnachweise
- Namensverzeichnis des Standesamtes Weißensee für das Jahr 1934. (PDF; 39 MB) Landesarchiv Berlin. Felgner. In: Berliner Adreßbuch, 1935, Teil 1, S. 553.
- Heiratsregister des Standesamtes Charlottenburg von Berlin für das Jahr 1939. (PDF; 151 MB) Landesarchiv Berlin, S. 57 und 223 (Eintrag Nr. 3397).