Epistel
Epistel (griech. ἐπιστολή, epistolē; lat. epistola, epistula) ist ein über das Lateinische aus dem Griechischen entlehntes Wort für „Brief“, das für Brieftexte gehobenen Anspruchs (Sendschreiben, Versepistel) verwendet wird, insbesondere für die Apostelbriefe der Bibel. Als liturgische Kurzbezeichnung bezieht sich der Begriff auf bestimmte im Gottesdienst zu lesende Abschnitte der Bibel.
Epistel in der Liturgie
In der abendländischen Liturgie bezeichnet man seit dem 12. Jahrhundert die biblischen Textabschnitte (Perikopen) als Episteln, die an den Sonn- und Feiertagen mit Ausnahme des Pfingstsonntags jeweils den Apostelbriefen des Neuen Testaments, an den Wochentagen aber auch Schriften des Alten Testaments mit Ausnahme der Psalmen (vgl. Graduale) entnommen wurden und im Gottesdienst in der sogenannten ersten Lesung vorgetragen wurden, während Texte der Evangelien (Evangelienperikopen) der zweiten Lesung vorbehalten waren. Nach dem mittelalterlichen Ordo missae wurde die Epistel auf der rechten, das Evangelium auf der linken Seite des Altars gelesen, so dass sich die Bezeichnungen „Epistelseite“ und „Evangelienseite“ einbürgerten.
Verzeichnisse der Episteln und Evangelienperikopen nach der Ordnung des Kirchenjahres wurden anfangs den biblischen Volltexten beigefügt und seit dem 6./7. Jahrhundert als eigene Lektionare mit Wiedergabe der zu lesenden Abschnitte ausgearbeitet. Dort waren die Episteln im Epistolar und die Evangelienabschnitte im Evangelistar aufgenommen, die auch als eigenständige Bücher vorkamen. Solche vollständigen oder teilweisen Epistolare ersetzten zunehmend die biblischen Volltexte als Vorlage für die gottesdienstliche Lesung, wurden aber ihrerseits im Verlauf des Spätmittelalters weitgehend durch das Missale (Messbuch) verdrängt, in dem das Lektionar mit weiteren liturgischen Büchern wie dem Sakramentar und dem Graduale vereint wurde.
Die Epistellesung hat in der Heiligen Messe geringeren Rang als das Evangelium. Das Evangelium wird vom Diakon vorgetragen oder, wenn kein Diakon zugegen ist, vom Priester. Es wird mit Kerzen und Weihrauch geehrt, im Stehen gehört und mit dem Ruf vor dem Evangelium eingeleitet und der Akklamation Lob sei dir Christus abgeschlossen. Für die Fest- und Sonntagsevangelien ist oft ein kostbares Evangeliar vorhanden, auch die mittelalterlichen Evangelistare waren im Vergleich zu den Epistolaren oft prunkvoller geschmückt. Die Episteln werden dagegen in der Regel von Lektoren aus dem gewöhnlichen Lektionar vorgetragen, ein gesondertes Epistolar ist nicht mehr üblich.
Die Auswahl der Abschnitte für die Lesung an den einzelnen Sonn- und Feiertagen folgt in katholischen Gottesdiensten der Leseordnung, in den evangelischen Kirchen der Perikopenordnung.
Epistel als poetische Gattung
Die Versepistel hat seit der Antike als literarische Gattung lehrhaften, satirischen oder erotischen Inhalts und als beliebte Form der Gelegenheitsdichtung die unterschiedlichsten Ausprägungen erfahren.
Zu den bekanntesten gehören die beiden Bücher „Epistulae“ („Briefe“) des Horaz, von denen das erste 20 und das zweite drei umfangreichere Gedichte in Hexametern enthält, sowie die Epistulae ex Ponto in vier, die Tristia in fünf Büchern und die Epistulae heroidum in einem Buch des Ovid. In der lateinischen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit sind Versepisteln außerordentlich verbreitet.
Zu den Werken der schwedischen Nationalliteratur gehört die Liedersammlung Fredmans epistlar („Fredmans Episteln“) des schwedischen Dichters und Komponisten Carl Michael Bellman († 1795), der mit dieser Sammlung parodistisch an die Briefe des Apostels Paulus anknüpft.