Der Wind (Simon)
Der Wind (frz. Le Vent) ist ein Roman des französischen Literatur-Nobelpreisträgers Claude Simon aus dem Jahr 1957.[1]
Der „teuflische“, „ewige“, „ewig lebendige“ Wind – unaufhörlich durch den Roman wehend – kann als der heimliche Protagonist[2] betrachtet werden. Pinien werden vom Wind gebeugt und die Blätter der Bäume rascheln im Nachtwind wie Papier...
Im Jahr 1960 habe Claude Simon dem Leser seine Schreibabsicht – die beinahe undurchschaubaren Abläufe[3] im Roman betreffend – mitgeteilt: Er habe sich bemüht, Impressionen der vielfältigen Realität im Text „in Dauer, in Zeit zu überführen“.[4]
Inhalt
Der 35-jährige, kränkliche, verwaiste Fotograf Antoine Montès aus dem nordfranzösischen Eragny[5] an „der Aube oder Yonne“ hält sich während eines Sommerhalbjahrs[6] in einer südfranzösischen alten Stadt[A 1] auf. Antoine sieht wie ein Fünfzigjähriger aus. Anlass zu der achthundert Kilometer langen Reise in den windigen Süden ist der Tod des Vaters.
Der alteingesessene Notar, mit jener Erbschaftsangelegenheit befasst, rät dem Erben zum Verkauf des Erbes. Das ist ein zweihundert Hektar großer Weinberg – neun Kilometer von der alten Stadt entfernt gelegen. Der zunehmend mittellose, schäbig gekleidete Antoine geht nicht auf das Verkaufsangebot ein und entlässt – als nordfranzösischer Fotograf im Weinanbau unerfahren – den Verwalter des Weinguts. Der Entlassene prozessiert gegen den Kontraktbruch. Antoine wartet, mit der Kamera unter Palmen spazierend, sechs Monate den Prozess vor Ort ab.
Der Vater hatte Antoines Mutter vormals in Nordfrankreich kennengelernt, sie mit in seine Heimat in den Süden genommen, geschwängert, geheiratet und vor Antoines Geburt betrogen. Die Schwangere – tödlich gekränkt – war auf Nimmerwiedersehen in ihre nordfranzösische Heimat zurückgekehrt und hatte keinerlei Ansprüche an den Kindesvater gestellt. Zu einer Scheidung war es nie gekommen.
Während des Wartens kommt Antoine dem vulgären Serviermädchen Rosa unter dem dichten, dunklen Laub einer Platane näher.[7] Die etwa dreißigjährige Frau hat zwei Töchter – Theresa und deren kleine, unbenannte Schwester.
Ein junges Mädchen, wohl Helene, macht sich im Auftrag ihres Vaters erfolglos an den neuen Weinbergbesitzer heran. Helene ist die Schwester einer gewissen Cécile. Diese Jungfrau, die am Ende des neunten der siebzehn Kapitel zum ersten Mal genannt wird, hat ihren eigentlichen Auftritt am Romanende mit einem Paukenschlag: Cécile verführt Antoine.
Rosa wird unter mysteriösen Umständen zusammen mit ihrem Lebenspartner, dem Zigeuner, umgebracht. Antoine, der kein Wässerchen trüben kann, zählt in den Augen der Polizei selbstverständlich nicht zum Kreis der Verdächtigen. Die Toten hatten zu Lebzeiten Umgang mit Diebsgesindel gehabt, das dem Vernehmen nach mit ihrer Untat eine eventuelle Anzeige bei der Polizei verhindert hat.
Erst als Rosa tot ist, empfindet Antoine Liebe für die Verstorbene. Der Fotograf bemüht sich vergeblich um das Sorgerecht für die beiden Töchter Rosas. Er darf sie aber einmal monatlich im Waisenhaus besuchen. Die Kinder werden schließlich ohne Antoines Wissen weggebracht. Keiner aus dem Waisenhaus gibt den neuen Aufenthaltsort der Mädchen preis.
Antoine verliert den Prozess und muss den Weinberg notgedrungen verkaufen.
Zitat
- „Vielleicht hatte die Zeit selber keine Zeit.“[8]
Form
Der Ich-Erzähler, ein am Ort der Handlung ansässiger Gymnasiallehrer, war Antoine in einem Fotogeschäft begegnet. Der Lehrer hatte sich später von Antoine einiges erzählen lassen. Sein Text – also der vorliegende Roman – fällt demzufolge als äußerst lückenhafter Rekonstruktionsversuch des Geschehens aus. Dessen Richtigkeit bezweifelt der Erzähler zudem immer einmal. Über Antoine erzählt der Lehrer in der dritten Person.[9] In dem von dem Lehrer – hin und her rätselnd – gemalten Bild erscheint Antoine als zögerlicher Trottel. So bricht Antoine in wörtlicher Rede seine Aussage in den meisten Fällen spätestens nach der ersten Satzhälfte ab. Das Trottelige an Antoine scheint an zahllosen Textstellen durch – zum Beispiel besonders unmissverständlich, als ihn Cécile zum Beischlaf nötigt.[10]
Nach Burmeister[11] muss die Leserschaft mit Unverständnis reagiert haben. Denn der Autor habe „irritierten Lesern“ geantwortet, die mit der „wirren“, „ausufernden“ und dabei „lückenhaften“ Lektüre ihre liebe Not gehabt haben sollen.[A 2]
Einordnung in das Werk des Autors
Nach seinem Erscheinen sei der Roman von der Literaturwissenschaft entsprechend seiner Form dem nouveau roman zugerechnet worden.[12]
Rezeption
- Nach Serge Doubrovsky[13] unternehme der Autor Anstrengungen „die rettungslose Unordnung des Erlebens und die artifizielle Ordnung der Sprache“ zu parallelisieren.
- Burmeister[14] hat den Roman besprochen: Bisweilen brüte der erzählende Lehrer über Antoines Geschichte und manchmal verschwömmen die Grenzen zwischen erzählendem Ich und beschriebenem Er.[15] Der Roman könne auch als die Geschichte von Antoines sechs Monate andauernden Niederlagen gelesen werden. Dieser Niedergang stehe als Symbol für die Untauglichkeit der Ratio bei der Deskription zwischenmenschlicher Beziehungen.[16]
Literatur
Verwendete Ausgabe
- Der Wind. Versuch, einen Barockaltar[A 3] wiederherzustellen. Roman. Aus dem Französischen Übertragen von Eva Rechel-Mertens. Nachwort von Brigitte Burmeister. Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 1988, ISBN 3-378-00265-4. (Gustav Kiepenheuer Bücherei 82) (Lizenzgeber: R. Piper, München 1959)
Sekundärliteratur
- Brigitte Burmeister: Die Sinne und der Sinn. Erkundungen der Sprachwelt Claude Simons. 1. Auflage. Matthes & Seitz, Berlin 2010, ISBN 978-3-88221-686-8.
Anmerkungen
- Vermutlich Perpignan (Burmeister, S. 30, 9. Z.v.u.).
- Einige wenige Beispiele zu dem romandominanten Charakteristikum Lückenhaftigkeit: Antoine wird von einem Fremden angefallen, weil der tote Vater zu Lebzeiten die Tochter des Angreifers entehrt haben soll (Verwendete Ausgabe, S. 40 oben). Außer diesem Faktum wird nichts mitgeteilt. Die Liebesgeschichte mit Rosa muss erahnt und kann nicht erlesen werden. In der diesbezüglichen Szene auf der Bank unter der Platane (Verwendete Ausgabe, S. 103–111) ergibt sich, Rosa lebt mit einem Manne, einer zwielichtigen Existenz, zusammen. Das Bild dieses offenbar Kriminellen, den Rosa verabscheut, bleibt zunächst in verschwommener Namenlosigkeit. Ist es der Boxer? Ist es der Zigeuner? Ist der Zigeuner der Boxer? Wird Antoine vom Boxer verprügelt? Auch dazu gibt es keine rechte Story. Allerdings ergibt sich viel später, der Lebenspartner Rosas war der Zigeuner. Von einem Abendessen ist die Rede, zu dem Antoine von seinem Onkel eingeladen worden war. Dieser anscheinend viel versprechende Faden wird - wie üblich - fallengelassen.
- Ein Altar kommt zwar einmal im Text vor (Verwendete Ausgabe, S. 217–218), doch ist wahrscheinlich der Untertitel ein Symbol für den bemühten, fragmentarischen Rekonstruktionsversuch des Ich-Erzählers (Burmeister, S. 30, 6. Z.v.o.).
Einzelnachweise
- Verwendete Ausgabe, S. 4, 9. Z.v.u.
- Burmeister, S. 32, 5. Z.v.u.
- Burmeister, S. 30, 17. Z.v.o.
- Claude Simon - aus einem Interview, zitiert bei Burmeister, S. 33, 5. Z.v.u.
- frz. Éragny (verwendete Ausgabe, S. 23, 13. Z.v.u.)
- Verwendete Ausgabe, S. 265, 10. Z.v.u. und S. 266, 22. Z.v.o.
- Verwendete Ausgabe, S. 48, 8. Z.v.u.
- Verwendete Ausgabe, S. 202, 4. Z.v.u.
- siehe zum Beispiel verwendete Ausgabe, S. 45, 13. Z.v.u.
- Verwendete Ausgabe, S. 250 Mitte - 254
- Burmeister, S. 33, 9. Z.v.u.
- Burmeister im Nachwort der verwendeten Ausgabe, S. 275 unten
- Serge Doubrovsky aus dem Jahr 1980, zitiert bei Burmeister, S. 33, 1. Z.v.u.
- Burmeister, S. 30–34 oben sowie Nachwort der verwendeten Ausgabe, S. 270–279.
- Burmeister, S. 31, 12. Z.v.u.
- Burmeister, S. 32, 4. Z.v.o.