Der Ignorant und der Wahnsinnige
Der Ignorant und der Wahnsinnige (uraufgeführt bei den Salzburger Festspielen am 29. Juli 1972, Regie Claus Peymann) ist ein Drama von Thomas Bernhard aus dem Jahr 1972. Im Zentrum des Geschehens steht der Auftritt einer Koloratursängerin als „Königin der Nacht“ aus Mozarts Oper Die Zauberflöte. Vor der Aufführung sind der Vater der Sängerin und ein gemeinsamer Bekannter – der Arzt – zusammen. Während des gemeinsamen Wartens zelebriert der Arzt einen Monolog über Kunst, Künstler und das Leben, verbunden mit einer detaillierten Beschreibung des Sezierens einer Leiche.
Daten | |
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Titel: | Der Ignorant und der Wahnsinnige |
Originalsprache: | Deutsch |
Autor: | Thomas Bernhard |
Erscheinungsjahr: | 1972 |
Uraufführung: | 29. Juli 1972 |
Ort der Uraufführung: | Salzburg |
Personen | |
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Inhalt
Der Beginn des Stücks zeigt Vater und Arzt in der Garderobe der Königin. Der Doktor referiert Zeitungskritiken, anschließend hält er einen Vortrag über die Sektion einer Leiche. Er kommt auf den Alkoholismus des fast blinden Vaters zu sprechen, über dessen Verhältnis zu seiner Tochter, ihre Karriere und die Kunst im Allgemeinen. Vater und Tochter leben in einem angespannten Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit, der Doktor steht zwischen ihnen. Einerseits der Vater, der sich von seiner Tochter rücksichtslos behandelt fühlt, andererseits die Tochter, die unter ihrem starren Künstler- und Künstlichkeitsdasein leidet. Der Arzt greift immer wieder auf das Thema des Sezierens einer menschlichen Leiche zurück, formuliert zu allem und jedem naturgesetzhafte Verallgemeinerungen. Während der Vater anfangs nur einzelne Worte des Doktors wiederholt, redet er zunehmend dazwischen und klagt sein Leid. Kurz vor ihrem Auftritt erscheint die Königin, übt noch einmal ihre Koloraturen. Nach der Aufführung dinieren die drei bei den Drei Husaren. Der Doktor setzt seine Leichenzerteilung fort und prophezeit der Königin ein schlechtes Ende aufgrund ihres Hustens. Schließlich sagt sie all ihre weiteren Auftritte ab.
Wichtigste Personen
Doktor: Der Wahnsinnige. Es scheint, als spreche er nur mit sich selbst. Er hält einen Monolog über das Sezieren einer Leiche, über das Leben und die Kunst.
Vater: Der Ignorant. Der trunksüchtige, fast blinde Vater scheint von dem Gesagten des Doktors nichts zu verstehen, er greift lediglich einzelne medizinische Fachbegriffe auf und wiederholt diese. Er hängt mit seinem ganzen Wesen an seiner Tochter und ist zum ersten Mal dem Alkoholismus verfallen, als seine Tochter öffentlich aufgetreten ist. Von ihr fühlt er sich zudem äußerst rücksichtslos behandelt.
Königin: Die Diva will schon seit geraumer Zeit mit dem Singen aufhören, um sich vom unmenschlichen Theaterbetrieb zu erholen. Sie ist die disziplinierteste „Koloraturmaschine“, steht durch ihren eigenen künstlerischen Anspruch und ihren trunksüchtigen Vater jedoch kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Schließlich sagt sie alle weiteren Auftritte ab.
Form
Der Ignorant und der Wahnsinnige ist ein zweiaktiges Stück: der erste spielt „In der Oper“, der zweite „Bei den Drei Husaren“, einem Restaurant. Das Figurenensemble ist dem bürgerlichen Bereich entnommen – Arzt, Vater, Sängerin, Garderobiere, Kellner –, der Ort der Handlung ist auf zwei Innenräume beschränkt, die sich in derselben Stadt befinden, der zeitliche Rahmen erstreckt sich nur über wenige Stunden. Jedoch fehlt eine Handlung, denn das eigentliche Geschehen des Stückes vollzieht sich in seiner Sprache, nicht in äußerer Aktion. Bemerkenswert ist, dass im ersten Teil des Dramas bis zum ersten Auftritt der Königin 842 gesprochene Zeilen des Doktors lediglich 33 Zeilen des Vaters gegenüberstehen, wovon ein Großteil nur eine Wiederholung des vom Doktor Geäußerten darstellt. In Der Ignorant und der Wahnsinnige zeigt sich somit das für Bernhard typische Verhältnis von monologisierender Person und stummem Gegenüber.
Bühnenskandal
Im Zuge der Uraufführung von Der Ignorant und der Wahnsinnige bei den Salzburger Festspielen im Jahr 1972 sollte auf Anordnung des Regisseurs Claus Peymann am Ende des Stückes komplette Finsternis herrschen. Dazu sollte auch die Notbeleuchtung im Theater gelöscht werden.[Anm. 1] Trotz feuerpolizeilicher Bedenken gestand man Peymann dies zunächst zu: Bei der Generalprobe war es auf der Bühne wie im Saal stockfinster, jedoch bei der Premiere einen Tag später brannten wider alle Absprachen die Notlichter erneut. Eine zweite, für den 4. August 1972 anberaumte Aufführung wurde kurzfristigst abgesagt. Die Schauspieler hatten sich zunächst geweigert aufzutreten, lenkten jedoch ein, und auch Peymann wäre einem von Bernhard offerierten Kompromiss (Strich) zugänglich gewesen.[1][Anm. 2] Bernhard jedoch, dessen größter Wunsch es gewesen sei, die Aufführung noch einmal in Salzburg zu sehen, gleichgültig, ob es ganz finster wäre oder nicht,[2] machte (im Wege eines Telegramms) allein den Präsidenten der Festspiele, Josef Kaut (1904–1983), für die entstandene Lage verantwortlich.[3] Der Absage einer Reprise lagen in der Folge verwaltungstechnisch-finanzielle Überlegungen zugrunde.[4]
Die Sache landete schließlich vor dem Bühnengericht, und Bernhard kommt Jahre später in seinem Stück Der Theatermacher nochmals ironisch darauf zurück, wenn er seinen Titelhelden Bruscon sprechen lässt: „Wie gesagt, in meiner Komödie hat es am Ende vollkommen finster zu sein, auch das Notlicht muß gelöscht sein, vollkommen finster, absolut finster. Ist es am Ende meiner Komödie nicht absolut finster, ist mein Rad der Geschichte vernichtet …“ Bernhard selbst schrieb nach der Uraufführung von Der Ignorant und der Wahnsinnige: „Eine Gesellschaft, die zwei Minuten Finsternis nicht verträgt, kommt ohne mein Schauspiel aus.“
Literatur
- Thomas Bernhard: Die Rosen der Einöde. Der Berg. Ein Fest für Boris. Der Ignorant und der Wahnsinnige. Die Jagdgesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004, ISBN 978-3-518-41515-3 (= Werke in 22 Bänden, Band 15, Dramen I).
- Bettina Hartz: „Das Märchen ist ganz musikalisch“. Thomas Bernhards Theaterstück Der Ignorant und der Wahnsinnige. Teiresias, Köln 2001, ISBN 3-934305-26-1.
- Dirk Jürgens: Das Theater Thomas Bernhards. Peter Lang, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-631-34516-X.
- Christian Klug: Thomas Bernhards Theaterstücke. Metzler, Stuttgart 1991, ISBN 3-476-00780-4.
- Manfred Mittermayer: Thomas Bernhard. Metzler, Stuttgart / Weimar 1995, ISBN 3-476-10291-2 (= Sammlung Metzler, Band 291: Realien zur Literatur).
- Bernhard Sorg: Thomas Bernhard. Beck, München 1992, ISBN 3-406-35053-4 (= Beck'sche Reihe, Band 627: Autorenbücher)
Einzelnachweise
- h.h.h. (d. i. Hans Heinz Hahnl): Finsteres aus Salzburg. In: Arbeiter-Zeitung. Wien 9. August 1972, S. 8, Mitte (Die Internetseite der Arbeiterzeitung wird zurzeit umgestaltet. Die verlinkten Seiten sind daher nicht erreichbar. – Digitalisat).
- Bernhard möchte sein Stück in Salzburg sehen: Ob es finster ist oder nicht. In: Arbeiter-Zeitung. Wien 8. August 1972, S. 8, Mitte links (Die Internetseite der Arbeiterzeitung wird zurzeit umgestaltet. Die verlinkten Seiten sind daher nicht erreichbar. – Digitalisat).
- Festspieldirektionsbeschimpfung. In: Arbeiter-Zeitung. Wien 9. August 1972, S. 8, Mitte links (Die Internetseite der Arbeiterzeitung wird zurzeit umgestaltet. Die verlinkten Seiten sind daher nicht erreichbar. – Digitalisat).
- Fritz Walden: Epilog zum Salzburger kleinen Welttheater (…): Was sagt das Hauspersonal dazu? In: Arbeiter-Zeitung. Wien 11. August 1972, S. 12, Mitte links (Die Internetseite der Arbeiterzeitung wird zurzeit umgestaltet. Die verlinkten Seiten sind daher nicht erreichbar. – Digitalisat).
Anmerkungen
- Ziel der völligen Abdunkelung sollte das Unkenntlichmachen des für den Bruch des Tischgeschirrs verantwortlichen Akteurs sein. – Siehe: F.W. (d. i. Fritz Walden): souffliert. (…) Ein Notlicht, transparent gemacht. In: Arbeiter-Zeitung. Wien 4. August 1972, S. 12, oben rechts (Die Internetseite der Arbeiterzeitung wird zurzeit umgestaltet. Die verlinkten Seiten sind daher nicht erreichbar. – Digitalisat).
- Von Ernst Haeusserman (Direktorium der Festspiele) wurde als Strategem angeregt, jegliche Notlampe im gewählten Augenblick von einem Hausbediensteten händisch abdecken zu lassen, da das Gesetz expressis verbis das Abschalten der Lichtquelle verbiete, nicht jedoch deren Verhüllen. Dieser Anregung wurde nicht Folge geleistet, nicht zuletzt auch wegen der (weitläufig als Gaudium ausgelegten) Befürchtung, das Hochlangen der Bediensteten könnte als Anmutung des Hitlergrußes verstanden werden.