Chemnitzer Turnaffäre
Als Chemnitzer Turnaffäre werden Vorwürfe gegen Trainerin Gabriele Frehse und die daraufhin folgenden öffentlichen Auseinandersetzungen um psychische Gewalt und Machtmissbrauch im Turnsport bezeichnet.
Chronologie
Vorwürfe
Im November 2020 berichteten aktive und ehemalige Leistungssportlerinnen und Trainer, darunter Pauline Schäfer und Lisa Hill, im Rahmen einer Reportage des Spiegels öffentlich über ihr mehrjähriges Training am Bundesstützpunkt des Deutschen Turner-Bundes (DTB) in Chemnitz. Sie beschuldigten Trainerin Gabriele Frehse eines abwertenden, rücksichtslosen Umgangs bzw. psychischer Gewalt und Machtmissbrauchs. Frehse soll minderjährigen Sportlerinnen zudem verschreibungspflichtige Medikamente ohne Absprache und Erlaubnis der Eltern verabreicht haben, um diese trotz Schmerzen weiter trainieren zu lassen. Nach der Veröffentlichung der Reportage bestätigten weitere Sportlerinnen die Erfahrungsberichte und gaben ebenfalls an, unter der Trainerin gelitten und unter ihr teilweise psychische Störungen in Form von selbstverletzendem Verhalten und Essstörungen entwickelt zu haben.[1] Zwei ehemalige Sportlerinnen berichteten, am Stützpunkt Chemnitz auf Betreiben der (in der Kritik stehenden) Trainerin und eines Arztes, im minderjährigen Alter Injektionen im Rahmen der Neuraltherapie erhalten zu haben, ohne dass Eltern von dieser Behandlung wussten bzw. diese genehmigten.[2]
Die Leitung des Olympiastützpunkts Chemnitz widersprach Teilen der Reportage des Spiegels, während sich der Bundesstützpunktleiter zunächst nicht äußerte.[3] Sophie Scheder, eine von Frehse trainierte Sportlerin, widersprach den Vorwürfen.[4] Frehse selbst wies die Vorwürfe als „haltlos“ zurück.[5][6] Eltern von Sportlerinnen und das Trainerteam des TuS 1861 Chemnitz-Altendorf, das gemeinsam mit Frehse die Chemnitzer Sportlerinnen trainiert hatte, sprachen Frehse ebenso ihr „vollstes Vertrauen“ aus.[7]
Untersuchung
Der Deutsche Turner-Bund beauftragte eine Frankfurter Rechtsanwaltskanzlei mit der Erstellung eines Gutachtens.[8][9] Die Untersuchungsergebnisse wurden im Januar 2021 veröffentlicht. Die Rechtsanwaltskanzlei kam zu dem Schluss, dass in 17 Fällen „tatsächliche Anhaltspunkte für die Anwendung psychischer Gewalt durch die Trainerin vorliegen“. Des Weiteren sah die Kanzlei die Vorwürfe der vermehrten Gabe von Schmerzmitteln und der einmaligen Gabe des Opioids Tilidin sowie die Vorwürfe des Trainierens trotz Schmerzen und unter Weinen für gegeben. Ein Zusammenhang zwischen gemeldeten psychischen Störungen und der Trainerin sei jedoch nicht feststellbar gewesen. Der DTB kündigte daraufhin an, die Betreuung und das Training von Kindern und Jugendlichen im Nachwuchsleistungssport auf den Prüfstand zu stellen. Zudem wurden personelle Konsequenzen gefordert.[10]
Der TuS 1861 Chemnitz-Altendorf reagierte mit Kritik auf die Untersuchung. Der Präsident des Vereins bezeichnete die Untersuchung als „zweifelhaft“ und teilte mit, dass der Chemnitzer Verein die Ergebnisse der Untersuchung nicht anerkennen werde. Zudem wies er die vom DTB geforderten personellen Konsequenzen zurück. Er kritisierte weiterhin den DTB dafür, dass es kein Konzept gebe, wie die Suspendierung der umstrittenen Trainerin abgefangen werden soll.[11][12] In der Folge meldeten sich erneut Eltern von in Chemnitz trainierenden Turnerinnen zu Wort und hinterfragten ebenfalls die Untersuchung. Sie sprachen der Trainerin erneut ihr Vertrauen aus und forderten die Aufhebung der Suspendierung der Trainerin.[13] Auch Sophie Scheder, die im Zuge der Untersuchung interviewt wurde, kritisierte die Untersuchung und äußerte den Vorwurf, dass es bei der Erstellung des Untersuchungsberichts nur darum ging, die Vorwürfe zu bestätigen.[14] Zudem stimmte sie der Kritik des Präsidenten vom TuS 1861 Chemnitz-Altendorf zu, dass es kein Konzept zum Abfangen der Suspendierung der umstrittenen Trainerin gebe, obwohl sechs von 16 Turnerinnen des Olympiakaders im Verein trainieren.[15][16]
Vom Olympiastützpunkt Chemnitz wurde kritisiert, dass der DTB die Einsicht in den Untersuchungsbericht verweigerte.[17] Der DTB erklärte, dass Frehse Einsicht in den Untersuchungsbericht gewährt werden würde, wenn dies datenschutzrechtlich legitimierbar sei. Am 29. März 2021 erhielten Frehse und der Olympiastützpunkt Chemnitz Einsicht in den Untersuchungsbericht, wobei aber Teile des Inhaltes geschwärzt gewesen seien.[18]
Folgen
Im Februar 2021 wurde bekannt, dass die Eltern einer minderjährigen Turnerin, die irreparable körperliche Schäden durch das Training bei Frehse davongetragen haben soll, einer bereits bestehenden Zivilklage per Klagenhäufung angeschlossen haben.[19]
Anfang Mai 2021 kündigte der Olympiastützpunkt Sachsen das Arbeitsverhältnis mit der beschuldigten Trainerin mittels einer Verdachtskündigung auf, woraufhin diese Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht erhob.[20][21] In Folge der Kündigung ihrer Trainerin und aufgrund der ungenügenden Trainersituation in Chemnitz initiierten die drei Olympiakader-Turnerinnen Emma Malewski, Sophie Scheder und Lisa Zimmermann eine Spendenaktion, um ihre Trainerin selbst finanzieren zu können.[22] Zudem bestätigte der Präsident des TuS 1861 Chemnitz-Altendorf, dass die beschuldigte Trainerin ehrenamtlich beim Verein angestellt werde, um das Training abzusichern.[23] Die Stadt Chemnitz erteilte Frehse daraufhin ein Hallenverbot für die Chemnitzer Trainingshallen, die sich im Besitz der Stadt befinden.[24] In der Folge erklärte die Stadt, dass es mit Hilfe der Ethikkommission des Deutschen Olympischen Sportbundes ein Mediationsverfahren zwischen den beteiligten Parteien geben soll. Zudem wurde bekannt, dass der DTB für die Olympiavorbereitung die Nachwuchsbundestrainerin Claudia Schunk nach Chemnitz entsendet.[25]
Am 1. Oktober 2021 entschied das Arbeitsgericht Chemnitz, dass die Verdachtskündigung unwirksam ist und verwies dabei auf „handwerkliche Fehler“ bei der Kündigung.[26][27] In Folge des Urteil hob die Stadt Chemnitz zum 11. Oktober 2021 das Hallenverbot für Gabriele Frehse auf.[28] Obwohl der Deutsche Turner-Bund den Olympiastützpunkt Sachsen empfahl „gegen dieses erstinstanzliche Urteil Berufung einzulegen und die bestehenden juristischen Mittel auszuschöpfen“, entschied der Vorstand des Olympiastützpunktes, dass man nicht in Berufung geht und das Urteil des Gerichtes umsetzen wird.[29]
Einzelnachweise
- Antje Windmann: Neue Missbrauchsvorwürfe im Turnen: „Ich habe nachts in Frischhaltefolie geschlafen“. Der Spiegel, 3. Dezember 2020, abgerufen am 3. Dezember 2020.
- Antje Windmann: Missbrauchsvorwürfe im Turnen: 40 Stiche in den Nacken. Der Spiegel, 23. Dezember 2020, abgerufen am 27. Dezember 2020.
- Antje Windmann: Turnen: Spitzenturnerinnen erheben schwere Vorwürfe gegen Trainerin Gabriele Frehse. Der Spiegel, 27. November 2020, abgerufen am 29. November 2020.
- Sophie Scheder kann Vorwürfe gegen Turn-Trainerin nicht nachvollziehen. MDR, 28. November 2020, abgerufen am 30. November 2020.
- Turnen: Spitzenturnerinnen erheben schwere Vorwürfe gegen Gabriele Frehse. MDR, 27. November 2020, abgerufen am 30. November 2020.
- Gabriele Frehse: "Ich habe nie Grenzen überschritten!" MDR, 3. Dezember 2020, abgerufen am 4. Dezember 2020.
- Turnen: „Vollstes Vertrauen“ – Eltern und Trainerteam stärken Frehse den Rücken. MDR, 7. Dezember 2020, abgerufen am 28. Januar 2021.
- Zur aktuellen Berichterstattung des Spiegel. In: dtb.de. 27. November 2020, abgerufen am 29. November 2020.
- Turner-Bund-Präsident zu Vorwürfen gegen Trainerin - „Mag sein, dass wir zu wenig sensibel waren“. Deutschlandfunk, 29. November 2020, abgerufen am 30. November 2020.
- Stellungnahme des DTB-Präsidiums zur unabhängigen Untersuchung. Abgerufen am 28. Januar 2021.
- Der DTB und sein Kampf gegen „psychische Grausamkeiten“. gymmedia.de, 24. Januar 2020, abgerufen am 29. Januar 2021.
- Sophie Scheder: Turnen ohne Trainerin. MDR Sachsenspiegel, 26. Januar 2021, abgerufen am 29. Januar 2021.
- Eltern der Turnerinnen kritisieren DTB-Aufarbeitung im "Fall Frehse". MDR, 27. Januar 2021, abgerufen am 29. Januar 2021.
- Scheder kritisiert Untersuchung im Fall Frehse. MDR, 16. Februar 2021, abgerufen am 25. Februar 2021.
- Turnerin Scheder: „Ich fühle mich nicht verstanden“. Sächsische Zeitung, 16. Februar 2021, abgerufen am 25. Februar 2021.
- Deutscher Turner-Bund formiert seine Olympiaturnerinnen. gymmedia.de, 4. Februar 2021, abgerufen am 25. Februar 2021.
- Trainerin Frehse kritisiert Deutschen Turn-Verband. MDR, 13. Februar 2021, abgerufen am 15. Februar 2021.
- MDR: Fakten-Check zum Leistungssport. gymmedia.de, 30. März 2021, abgerufen am 5. April 2021.
- Antje Windmann: Misshandlungen im Turnen: „Sie kann in Chemnitz machen, was sie will“. Der Spiegel, 23. Februar 2021, abgerufen am 24. Februar 2021.
- Olympiastützpunkt Sachsen trennt sich von Trainerin Frehse. Der Spiegel, 4. Mai 2021, abgerufen am 9. Mai 2021.
- Chemnitzer Trainerin Gabriele Frehse ab heute arbeitslos. gymmedia.de, 4. Mai 2021, abgerufen am 9. Mai 2021.
- Mehr als 26.000 Euro für Frehse - auch prominente Sportfunktionäre haben gespendet. Mitteldeutscher Rundfunk, 6. Mai 2021, abgerufen am 9. Mai 2021.
- TuS Chemnitz-Altendorf übt scharfe Kritik an Frehse-Entlassung. Mitteldeutscher Rundfunk, 4. Mai 2021, abgerufen am 9. Mai 2021.
- Sven Geisler: Stadt Chemnitz: Hallenverbot für Turn-Trainerin Frehse. Sächsische Zeitung, 11. Mai 2021, abgerufen am 15. Mai 2021.
- Turnen: Stadt unterstützt Vorschlag für Mediationsverfahren. Stadt Chemnitz, 12. Mai 2021, abgerufen am 20. Mai 2021.
- Arbeitsgericht: Kündigung gegen Chemnitzer Turn-Trainerin Frehse unwirksam. Freie Presse, 1. Oktober 2021, abgerufen am 1. Oktober 2021.
- Kündigung von Trainerin Gabriele Frehse unwirksam. MDR, 1. Oktober 2021, abgerufen am 1. Oktober 2021.
- Chemnitzer Turn-Trainerin Frehse darf wieder in die Halle | MDR.DE. Mitteldeutscher Rundfunk, 5. Oktober 2021, abgerufen am 5. Oktober 2021.
- Chemnitzer Trainerin Frehse gewinnt Gerichtsprozess entgültig! gymmedia.de, 16. Oktober 2021, abgerufen am 19. Oktober 2021.