Charakterstück
Ein Charakterstück, lyrisches Stück oder Genrestück ist ein kürzeres Musikstück vor allem für das Klavier. Es soll eine Stimmung ausdrücken, die zumeist mit einem Titel umschrieben wird. Der Titel kann die Stimmung selbst bezeichnen wie Sehnsucht (Franz Liszt) oder das Bild oder Ereignis, das zu dieser Stimmung führt, wie Wilder Reiter, Erster Verlust (Robert Schumann), Die Mühle im Schwarzwald (Richard Eilenberg).
Geschichte
Ursprung
Gelegentlich werden musikalische Allegorien der Barockzeit schon zu den Charakterstücken gerechnet. Die Affektenlehre verband Stimmungen mit musikalischen Stilmitteln. Freilich sind dies noch sehr allgemeine und symbolische Entsprechungen, nicht der individuelle Ausdruck, wie er seit Ende des 18. Jahrhunderts gefordert und vom Klang des Hammerklaviers ermöglicht wird.
Ein Bindeglied zwischen Barock und Romantik war die musikalische Empfindsamkeit im 18. Jahrhundert: Inspiriert von den Pièces de Clavecin der französischen Clavecinisten wie François Couperin oder Jean-Philippe Rameau empfahl der norddeutsche Komponist Christian Gottfried Krause in seiner Schrift Von der musikalischen Poesie (1753), Musikstücken einen Titel zu geben. Wichtig in jener Zeit war noch die barocke Einheit des Affekts, die auch für die Arie galt, und der Grundsatz der Naturnachahmung, wie er von Charles Batteux propagiert wurde. Musik wurde noch nicht als unabhängige Kunst betrachtet.
Theoretisches Interesse und pädagogischer Bedarf um 1800
Ähnliche Ansichten vertraten noch der Musiktheoretiker Friedrich Wilhelm Marpurg und der Komponist Johann Friedrich Reichardt. Christian Gottfried Körner verfasste 1785 seinen Aufsatz Über Charakterdarstellung in der Musik.
Bedarf für diese musikalischen Werke ergab sich vor allem aus Liebhaberkreisen, weniger von der Seite der professionellen Musiker. Dem Musikunterricht dienten sogenannte Handstücke[1], die Vorläufer späterer (Klavier-)Etüden des 19. Jahrhunderts.
1784 publizierte Gottlieb Christian Füger Charakteristische Clavierstücke zur Darstellung von zwölf Affekten. Die Charakterstücke von Johann Abraham Peter Schulz („Six diverses Pièces pour le clavecin ou pianoforte“, 1778/79) haben keinen zyklischen Zusammenhang mehr. Die Emanzipation des Einzelsatzes war eine Motivation für Komponisten, Charakterstücke zu schreiben. Aber erst die beginnende Romantik schuf neue Voraussetzungen. Entscheidend war in dieser Zeit, dass die Klaviersonate nicht mehr als die repräsentative Gattung der Klaviermusik angesehen wurde. Vielmehr wurde das Prinzip der liedhaften, lyrischen Gestaltung die neue Grundlage für die Instrumentalmusik dieser Epoche. Das Charakterstück mit seinen poetischen Neigungen wurde nun zur Entfaltung gebracht.
Musikalische Poesie im 19. Jahrhundert
Als einer der ersten Vertreter des moderneren Charakterstücks schrieb der Prager Johann Wenzel Tomaschek ab 1807 im Laufe von über 30 Jahren insgesamt zehn Alben mit ausgeprägten Charakterstücken, meist in dreiteiliger Liedform. Den seit 1810/1811 veröffentlichten Eklogen folgten später noch Rhapsodien. Als späte Varianten einer barocken Affektdarstellung kann man noch die Charakteristischen Studien für das Pianoforte (1836) von Ignaz Moscheles verstehen. Sie haben Überschriften wie: „Zorn, Widerspruch, Zärtlichkeit, Angst“.
Aus den „Handstücken“ wurden mit der Zeit technisch anspruchsvollere Etüden. Hier finden sich wesentliche Ausgangspunkte für die Werke späterer Künstler, darunter auch Felix Mendelssohn Bartholdys Lieder ohne Worte, Sieben charakteristische Stücke op. 7 (1827). Diese stehen im Zeichen ihrer Vorgänger Ludwig Berger und Ignatz Moscheles. Anders als Mendelssohn fand Franz Schubert seine musikalischen Vorlagen hauptsächlich in der Gesangsmusik.
Bei Robert Schumann wird das poetisierende Element häufig durch Überschriften bestätigt (Waldszenen, Kinderszenen, Nachtstück, Fantasiestück, Albumblätter…). Die 18 Davidsbündlertänze op. 6 (1837) werden erst in der 2. Ausgabe von 1850/51 als Charakterstücke bezeichnet.
Popularisierung und Prestigeverlust
Mit der Popularisierung des Charakterstücks in der Unterhaltungsmusik und dem Aufkommen der Programmsinfonie, sinfonischen Dichtung sowie der Musik im romantischen Ballett, wo ganze Handlungen im größeren Rahmen und größerer Besetzung musikalisch dargeboten werden, verlor das Charakterstück an Bedeutung. Es wurde umso häufiger mit den optischen Sensationen der Zeit kombiniert wie Panorama und Diorama oder dem Lebensbild im populären Theater. Im Gegenzug bildete sich das Ideal einer Absoluten Musik, die von außermusikalischen Bedeutungen „gereinigt“ sein sollte.
In der Nachfolge Schumanns standen Künstler wie Stephen Heller, Theodor Kirchner (Neue Davidsbündlertänze op. 17, 1872, und Charakterstücke op. 61, 1882) und Adolf Jensen. Dabei wurde das Charakterstück immer mehr zu einer Art Schablone. Spätere Komponisten wie Edvard Grieg entwickelten ihren eigenen Stil (Hochzeitstag auf Troldhaugen [Bryllupsdag på Troldhaugen], 1897).
Varianten im 20. Jahrhundert
Über den Impressionismus Claude Debussys entwickelte sich eine französische Tradition des Charakterstücks (Children’s Corner, Estampes, Images), die über Maurice Ravel, Eric Satie bis zu Olivier Messiaen reicht.
Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts werden auch Werke der Salonmusik als Charakterstücke bezeichnet. Die Radiomusik des 20. Jahrhunderts pflegte das Charakterstück als touristisches Souvenir (An der blauen Adria von Gerhard Winkler) oder funktionales Musikstück (Der fröhliche Wecker von Boris Mersson). Der Begriff bekommt dadurch einen schillernden Charakter und wird oft abwertend gebraucht. Bei den Charakterstücken dieser Epoche steht ein überraschender musikalischer Effekt im Vordergrund. Beispiele hierfür sind die Petersburger Schlittenfahrt (es gibt Aufnahmen mit Peitschenknallen und Hundegebell) und die Die Mühle im Schwarzwald (es gibt Aufnahmen mit Vogelgezwitscher) von Richard Eilenberg, Auf einem persischen Markt von Albert Ketèlbey (in der Zirkusmusik der Inbegriff des Orientalischen) und Heinzelmännchens Wachtparade von Kurt Noack.
Abgrenzung von der Programmmusik
Nicht immer leicht von den Charakterstücken abzugrenzen ist die Programmmusik. Der Musikwissenschaftler Hugo Riemann hielt „das entzückte Verweilen des Komponisten bei der Einzelwirkung“ (Handbuch der Musikgeschichte, 1913) für eine Eigenschaft des Charakterstücks. Demgegenüber beschreibt Programmmusik eine ganze Handlung. Am besten lässt sich der Unterschied zwischen Charakter und Handlung in der Poetik des Aristoteles zur Abgrenzung heranziehen: Programmmusik beschreibt eine Art Drama oder Epos, während das Charakterstück statisch bleibt und höchstens Kontraste (so oft in einem Mittelteil) zeigt.
Formen
Das Charakterstück steht, anders als die Sätze einer Sonate oder Suite, oft für sich allein, etwa als Albumblatt, Pièce détachée oder Moment musical. Mehrere lyrische Stücke vereinen sich manchmal untereinander zu Zyklen, zum Beispiel mit ähnlichen Themen (wie Schumanns Kinderszenen). Als Vorlage dienen Tanz-, Lied- und Rondoformen, seit der Romantik fanden vor allem die Liedformen Verwendung.
Literatur
- Wilibald Gurlitt, Hans Heinrich Eggebrecht (Hrsg.): Riemann Musik Lexikon. Sachteil. 12. völlig neu bearbeitete Auflage. Schotts Söhne, Mainz 1967, S. 156 f.
- Jacob De Ruiter: Der Charakterbegriff in der Musik. Studien zur deutschen Ästhetik der Instrumentalmusik 1740–1850 (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft. Nr. 29). Franz Steiner, Stuttgart 1989, ISBN 3-515-05156-2 (Zugleich: Berlin, Technische Universität, Phil. Dissertation, 1987).
- Bernhard R. Appel: Charakterstück. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2., neubearbeitete Auflage. Teil 1. Sachteil. Band 2 (1995), Sp. 636–642.
Einzelnachweise
- http://www.stretta-music.com/blog/wp-content/uploads/2012/03/mueller_handstueck_3.pdf August Eberhard Müller(1767–1817): Leichtes Handstück Nr. 3