Bildungsökonomik
Die Bildungsökonomik (auch Bildungsökonomie) gibt es als volkswirtschaftliche Disziplin etwa seit 1955. Ihre Entstehung wird unterschiedlich datiert, spätestens jedoch auf die Zeit der Arbeiten zum Humankapital von Nobelpreisträger Gary Becker. Jacob Mincer und Theodore W. Schultz waren wichtige Schrittmacher. Teilweise gilt sie auch als Disziplin der Bildungsforschung. Ihre Hauptfragestellung bezieht sich auf die Wirtschaftlichkeit von Bildungsausgaben.
Eine Hauptrichtung der Bildungsökonomik untersucht die Auswirkung von Bildung auf individuelle und gesamtwirtschaftliche Erträge auf dem Arbeitsmarkt. Dabei werden, zurückgehend auf einen Ansatz von Jacob Mincer, sogenannte Bildungsrenditen geschätzt, zum Beispiel Kosten und Ertrag einer Universitätsausbildung. In der neueren Literatur werden diese Ansätze ausgeweitet, um auch Erträge der Bildung in anderen Bereichen (z. B. Gesundheit, Lebenszufriedenheit) zu untersuchen. Im Mittelpunkt steht in der aktuellen empirischen Literatur die Schätzung kausaler Effekte der Bildung mittels geeigneter statistischer (ökonometrischer) Verfahren.
Über die Schätzung von Bildungsrenditen hinaus wird die „Produktion von Bildung“ (die also als wichtige Voraussetzung für den Arbeitsmarkterfolg und andere Ergebnisse gesehen wird) im Detail untersucht. So beziehen sich aktuelle bildungsökonomische Studien etwa auf Ländervergleiche von Bildungsinstitutionen und deren Erfolg in der Bildungsproduktion.
In der Bundesrepublik zeigten sich Anfang der 1970er-Jahre neomarxistisch orientierte Politologen wie Elmar Altvater an der Bildungsökonomie interessiert, weil die defizitären Ausgaben des Staates die Benachteiligung von Unterschichtkindern zu belegen schienen.
Neben dieser Ausrichtung der Bildungsökonomik, die überwiegend dem Feld der Arbeitsmarktökonomik zuzuordnen ist, liegt ein weiteres klassisches Feld der Bildungsökonomen auf finanzwissenschaftlich orientierten Fragestellungen, so etwa der Finanzierung des Bildungswesens.
- Eine aktuelle Diskussion ist die Zielmarke von zehn Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts, die Deutschland nach Angela Merkels Dresdner Bildungsgipfel 2008 für Bildung ausgeben soll. Der Streit geht um die Berechnungsweisen, was einberechnet werden soll. Davon hängt ab, ob die bisherigen Ausgaben als bereits ausreichend oder als defizitär einzuschätzen sind.
Grundlagen
Essentiell für Bildungsökonomik ist die Betrachtung von Bildung als eine Investition in Kapital.[1] Die Wirtschaftswissenschaft unterscheidet dabei neben dem physischen Kapital eine andere Form des Kapitals, die als Produktionsmittel nicht weniger kritisch ist: das Humankapital. Bei Investitionen in Humankapital wie Bildung sind drei wichtige wirtschaftliche Auswirkungen zu erwarten:[1]
- Erhöhte Ausgaben für Bildung, da die Akkumulation von Humankapital ebenso wie physisches Kapital Investitionen erfordert.
- Steigerung der Produktivität, wenn Menschen Fähigkeiten erhalten, die es ihnen ermöglichen mehr Leistung zu erzielen.
- Return on Investment in Form höherer Einkommen.
Investitionskosten
Investitionen in Humankapital sind wie jede Investition mit Investitionskosten verbunden. Typischerweise werden in europäischen Ländern die meisten Bildungsausgaben in Form von Konsumausgaben des Staates getätigt, obwohl einige Kosten auch von Einzelpersonen getragen werden. Diese Investitionen können ziemlich kostspielig sein. Die EU-Regierungen gaben 2005 zwischen 3 % und 8 % des BIP für Bildung aus, der Durchschnitt lag bei 5 %.[2] Jedoch unterschätzt die Messung der Bildungsausgaben auf diese Weise die Kosten erheblich, da eine wesentliche Form von Kosten völlig übersehen wird: die Opportunitätskosten für entgangene Löhne, da Schüler und Studenten während der Schule und des Studiums nicht voll arbeiten können. Es wurde geschätzt, dass die Gesamtkosten einschließlich der Opportunitätskosten für Bildung doppelt so hoch sind wie die direkten Kosten.[3] Einschließlich der Opportunitätskosten wurden Investitionen in Bildung in den EU-Ländern im Jahr 2009 auf rund 10 % des BIP geschätzt. Im Vergleich dazu betrugen die Investitionen in Sachkapital 20 % des BIP.[4]
Produktivität
In der gesamten Wirtschaft wurde die Auswirkung des Humankapitals auf das Einkommen als signifikant eingeschätzt: 65 % der in Industrieländern gezahlten Löhne sind Zahlungen aufgrund von Humankapital und nur 35 % aufgrund von geleisteter Arbeit.[5] Die höhere Produktivität gut ausgebildeter Arbeitskräfte ist einer der Faktoren, die ein höheres BIP und damit ein höheres Einkommen in den Industrieländern erklären. Es besteht eine starke Korrelation zwischen BIP und Bildungsausgaben in den entwickelten Ländern der Welt.[6] Es ist jedoch weniger klar, wie die Kausalität ist, d. h. viel von einem hohen BIP durch Bildung erklärt wird. Es auch möglich, dass sich reiche Länder mehr Bildung leisten können.
Return on Investment
Humankapital in Form von Bildung teilt viele Merkmale mit physischem Kapital.[1] Beide erfordern eine Investition und beide haben nach ihrer Produktion einen wirtschaftlichen Wert. Physisches Kapital verdient eine Rendite, weil die Menschen bereit sind zu zahlen, da es ihnen ermöglicht, mehr Output zu produzieren. Um den produktiven Wert des physischen Kapitals zu messen, muss man lediglich feststellen, wie viel Rendite es auf dem Markt erzielt. Im Fall von Humankapital ist die Berechnung der Rendite komplizierter – schließlich lässt sich Bildung nicht von der Person trennen. Um dieses Problem zu umgehen, werden die Renditen des Humankapitals im Allgemeinen aus Lohnunterschieden zwischen Menschen mit unterschiedlichem Bildungsniveau abgeleitet.[1]
Empirische Ergebnisse
Robert E. Hall und Charles I. Jones haben aus internationalen Daten berechnet, dass die Bildungsrenditen in den ersten vier Schuljahren (Klassen 1–4) durchschnittlich 13,4 % pro Jahr betragen, in den nächsten vier Schuljahren (Klassen 5–8) 10,1 % pro Jahr und 6,8 % für jedes weitere Schuljahr nach Klasse 8.[6]
Von der OECD werden 3 Faktoren hervorgehoben, die einen besonders hohen Return on Investment aufweisen:[7]
- Investitionen in frühkindliche Bildung
- Möglichst späte Bildungsselektion (auf verschiedene Schularten)
- Sehr enge Verzahnung von Schule und Elternhaus
Diese Maßnahmen können über die gesamte Lebensdauer eines Menschen große positive Renditen bringen, insbesondere für die am stärksten benachteiligten Personen.[7][8][9][10][11]
Institutionen, die Forschung im Sinne der Bildungsökonomik betreiben
Literatur
- Elmar Altvater, Freerk Huisken (Hrsg.): Materialien zur politischen Ökonomie des Ausbildungssektors. Politladen, Erlangen 1971, ISBN 3-920531-08-6.
- Egon Becker, Bernd Wagner: Ökonomie der Bildung. Campus, Frankfurt am Main 1977, ISBN 3-593-32188-2.
- Anke Hanft, Hans Pechar: Bildungsökonomie und Bildungspolitik. Waxmann Verlag 2006. ISBN 383096594X.
- Eric Hanushek, Stephen Machin, Ludger Woessmann (Hg.): Handbook of the Economics of Education, Volume 3. North Holland, 2010. ISBN 0444534296.
- Wolf-Dieter Narr: Winterliche Reflexionen. Niemand traut sich im Ernst im Rahmen der Universität noch von Bildung zu sprechen. In: Kalaschnikow. Das Politmagazin. 9, Nr. 3, 1997.
- Erich Ribolits: Bildung als Ware? Wider die Dominanz des ökonomischen Denkens. In: AHAes. Nr. 7, 2003, S. 10–12.
- Erich Ribolits: Bildung als Ware? Über die zunehmende Marktförmigkeit der Bildung und die „Schulautonomie“.
- Reinhold Weiß: Bildungsökonomie und Weiterbildung. In: Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung. VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011. ISBN 978-3-322-99635-0
Weblinks
Einzelnachweise
- Weil, David N.: Economic growth. 3rd ed Auflage. Pearson Addison-Wesley, Boston, MA 2013, ISBN 978-0-321-79573-1, S. 150.
- 5% of EU GDP is spent by governments on education. 27. November 2009, abgerufen am 13. Dezember 2020 (dänisch).
- Lethem, Yvonne,, Rowley, Jennifer,: The formation and stocks of total capital. National Bureau of Economic Research, New York 1976, ISBN 0-87014-271-2.
- European Commission. Statistical Office of the European Communities.: Key figures on Europe :2009 edition. Publications Office, LU 2008, doi:10.2785/23902 (Online [abgerufen am 13. Dezember 2020]).
- Weil, David N.: Economic growth. 3rd ed Auflage. Pearson Addison-Wesley, Boston, MA 2013, ISBN 978-0-321-79573-1, S. 230.
- R. E. Hall, C. I. Jones: Why do Some Countries Produce So Much More Output Per Worker than Others? In: The Quarterly Journal of Economics. Band 114, Nr. 1, 1. Februar 1999, ISSN 0033-5533, S. 83–116, doi:10.1162/003355399555954 (Online [abgerufen am 13. Dezember 2020]).
- OECD: Reducing income inequality while boosting economic growth: Can it be done? In: Economic Policy Reforms 2012. OECD, 2012, ISBN 978-92-64-16825-1, S. 1–24, doi:10.1787/growth-2012-47-en (Online [abgerufen am 13. Dezember 2020]).
- Jose De Gregorio, Jong-Wha Lee: Education and Income Inequality: New Evidence From Cross-Country Data. In: Review of Income and Wealth. Band 48, Nr. 3, September 2002, ISSN 0034-6586, S. 395–416, doi:10.1111/1475-4991.00060 (Online [abgerufen am 13. Dezember 2020]).
- Ofer Malamud, Cristian Pop-Eleches: School tracking and access to higher education among disadvantaged groups. In: Journal of Public Economics. Band 95, Nr. 11-12, Dezember 2011, S. 1538–1549, doi:10.1016/j.jpubeco.2011.03.006 (Online [abgerufen am 13. Dezember 2020]).
- Anne Petriwskyj, Karen Thorpe, Collette Tayler: Trends in construction of transition to school in three western regions, 1990–2004. In: International Journal of Early Years Education. Band 13, Nr. 1, 1. Januar 2005, ISSN 0966-9760, S. 55–69, doi:10.1080/09669760500048360.
- Starting Strong II: Early Childhood Education and Care. Abgerufen am 13. Dezember 2020 (englisch).