Betreuung in häuslicher Gemeinschaft
Die Betreuung in häuslicher Gemeinschaft (BihG), auch 24-Stunden-Betreuung oder 24-Stunden-Pflege, ist eine Mischform aus hauswirtschaftlicher und pflegerischer Versorgung, die sich in erster Linie an Senioren und pflegebedürftige Menschen richtet. Diese Form der Betreuung wird überwiegend von Frauen aus Osteuropa erbracht
Bekannt ist dieses Modell seit den frühen 1990ern und hat inzwischen einen erheblichen Anteil an der informellen Pflege in Deutschland.[1]
Entstehung
Das Modell der Betreuung in häuslicher Gemeinschaft entstand nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zunächst vorwiegend in Regionen West- und Mitteleuropas, die direkt an die Länder des ehemaligen Ostblocks grenzen.
Ursachen für die Etablierung der Betreuungskräfte aus Osteuropa waren zum einen das Wohlstandsgefälle, hohe Arbeitslosigkeit in Herkunftsländern und die demographische Entwicklung der westeuropäischen Gesellschaften unter gleichzeitigem Abbau tradierter Familienstrukturen. Hinzu kam in Deutschland die Einführung der Pflegeversicherung, wodurch vielen unterstützungsbedürftigen Senioren zusätzlich finanzielle Mittel zur Verfügung standen.
Allgemeines
Bei der Betreuung in häuslicher Gemeinschaft können verschiedene Betreuungsbereiche abgedeckt werden. Dabei ist eine klare Abgrenzung aufgrund der Integration in den Alltag oft nur schwer möglich.
Das Personal lebt bei einer Betreuung in häuslicher Gemeinschaft vorübergehend im Haushalt des Kunden bzw. in einer gestellten Unterkunft. Dadurch ist die Person nahezu dauerhaft in Rufnähe, was arbeitsrechtlich nicht immer unproblematisch ist.
Hauswirtschaft
- Kochen
- Reinigung des Haushaltes
- Säubern der Wäsche
- Pflege von Zimmerpflanzen
- Versorgung von Haustieren
Informelle Pflege
- Begleitung beim Toilettengang
- Unterstützung beim Waschen des Körpers
- Hilfe bei Haar- und Fußpflege
- Erinnerung an die Einnahme von Medikamenten
Alltagsbegleitung
- Begleitung bei Arztbesuchen
- Gemeinsame Freizeitaktivitäten
- Erledigung von Botengängen oder Besorgungen
Grundsätzlich ist bei Betreuung in häuslicher Gemeinschaft großer Spielraum für die möglichen Tätigkeiten. Dabei besteht jedoch immer wieder Gefahr gesetzliche Grenzen zu überschreiten bspw. wenn fachpflegerische Aufgaben an die Betreuungskraft delegiert werden.
Kosten
Eine der zentralen Gründe für das Engagement osteuropäischer Betreuungskräfte sind die geringeren Gesamtkosten. Die Preise für eine 24-Stunden-Pflege beginnen im legalen Bereich bei ungefähr 1500 Euro und reichen bis zu 3400 Euro monatlich.[2]
Die meisten Anbieter unterscheiden bei der Preisgestaltung in erster Linie nach den Sprachkenntnissen und dem Betreuungsaufwand.[3]
Darüber hinaus richten sich die Kosten für eine private 24-Stunden-Pflege auch nach den unterschiedlichen Beschäftigungsmodellen der meist osteuropäischen Betreuungskräfte und Haushaltshilfen.[4]
Personal
Schätzungen gehen aktuell von 200.000 bis zu 700.000, vorwiegend Frauen aus Osteuropa aus, die für eine Betreuung in häuslicher Gemeinschaft in Deutschland arbeiten. Die große Spanne resultiert aus der lückenhaften Datenlage, da Experten von einem großen Teil illegaler Beschäftigungen ausgehen.[5]
Die Mehrheit der osteuropäische Betreuungskräfte ist über 40 und verfügt über einen guten Bildungsstand, wie eine Studie der Berufsakademie für Gesundheits- und Sozialwesen Saarland (BAGSS) ergab.[6]
In der Regel arbeitet eine 24-Stunden-Pflegekraft für mehrere Wochen beim gleichen Kunden und verbringt dann wieder Zeit im entsprechenden Heimatland.
Motivation sind oftmals die deutlich besseren Verdienstmöglichkeiten als Betreuungsperson.[7] Da besonders in Polen das Wohlstandsniveau steigt, ist damit zu rechnen, dass diese Motivation bei gleichbleibenden Kosten für die Kunden sinken wird.
Bedeutung für die Pflege in Deutschland
Durch die zunehmende Alterung der Gesellschaften in Mittel- und Westeuropa kommt der häuslichen Pflege eine immer größere Bedeutung zu. Bislang fehlen aber Konzepte, um eine zeitintensive häusliche Pflege zu organisieren. Können sich Familien nicht selbst um die Versorgung kümmern, bleibt ihnen oft nur die Möglichkeit, ihre pflegebedürftigen Angehörigen in ein Pflegeheim zu geben.[8] Die Betreuungskräfte aus dem Ausland schließen die Lücke und ermöglichen eine ambulante Versorgung zu Hause. Da die Zahl der Pflegebedürftigen konstant steigt, ist auch mit einer größeren Bedeutung von Betreuungskräften aus Osteuropa zu rechnen. Schätzungen gehen von 200.000 bis zu 700.000 osteuropäischen Betreuungskräften aus, die in der BihG in Deutschland tätig sind.
Die Bedeutung für die deutsche Gesellschaft wurde besonders deutlich, als im Frühjahr 2020 im Zuge der COVID-19-Pandemie der Bedarf an bezahlbarer häuslicher Betreuung anstieg und zugleich wegen Reiseeinschränkungen weniger Kräfte aus Polen und der Ukraine für die Betreuung in Deutschland zur Verfügung standen.[9]
Rechtliche Situation
Deutschland
Die rechtliche Situation der Betreuung in häuslicher Gemeinschaft ist, im Gegensatz zur Lage in Österreich, bislang umstritten. Es haben sich drei Modelle etabliert, auf deren Basis sich eine Betreuung in häuslicher Gemeinschaft umsetzen lässt:
Entsendeverfahren nach AEntG
Unter den legalen Modellen ist die Entsendung von Arbeitnehmern die verbreitetste Variante.
Dabei ist die Betreuungskraft im Heimatland angestellt und wird zum Betreuungshaushalt entsandt. In diesem Fall ist der Kunde dem Arbeitnehmer vor Ort nicht weisungsbefugt.
Direktanstellung
Daneben gibt es auch die Möglichkeit selbst als Arbeitgeber eine Betreuungskraft einzustellen. Die Bundesagentur für Arbeit[10] und einige Sozialträger wie die Caritas[11] bieten einen Vermittlungsservice für Haushaltshilfen aus Osteuropa.
Diese Variante bietet die größte Rechtssicherheit und wird von den Verbraucherzentralen empfohlen.[12] Mit der Beschäftigung im Betreuungshaushalt gehen Arbeitgeberpflichten für den Kunden einher, weshalb dieses Modell nur geringe Verbreitung findet.
Selbständige Betreuungskräfte
Neben der unmittelbaren Anstellung und der Entsendung gibt es auch selbständige 24-Stunden-Pflegekräfte, die Ihre Dienstleistungen in Deutschland anbieten. Einige Vermittlungsagenturen haben sich auf diesen Bereich spezialisiert.
Dabei besteht das Problem, dass die Leistungen einer 24-Stunden-Pflegekraft nur schwer mit selbstständiger Tätigkeit vereinbar sind.[13] Selbstständige dürfen nicht weisungsgebunden sein und müssen Ort, Zeit und Ausführung der Arbeit selbst bestimmen, andernfalls handelt es sich um eine Scheinselbstständigkeit.
Österreich
In Österreich stellt sich die Lage analog zu Deutschland dar. Im Gegensatz zum Nachbarland ist in Österreich die 24-Stunden-Pflege über das „Hausbetreuungsgesetz“ geregelt.
Verschiedene Verbände fordern eine ähnliche formelle Anerkennung dieser Betreuungs- und Pflegeform auch in Deutschland.[14]
Anerkennung durch Pflegeversicherungen
In Deutschland wird eine Betreuung in häuslicher Gemeinschaft in der Regel nicht von der Pflegeversicherung gefördert, da die Anbieter bzw. Betreuungskräfte über keinen Versorgungsvertrag mit den Pflegeversicherungen verfügen.[15]
Allerdings können trotzdem direkte Geldleistungen der Versicherer genutzt werden, wie das Pflegegeld oder die Verhinderungspflege.
Begriffsproblematik „24-Stunden-Pflege“
Die Betreuung in häuslicher Gemeinschaft wird häufig als 24-Stunden-Pflege bezeichnet. Diese Bezeichnung wird vielfach kritisiert, da dadurch impliziert wird, dass die Betreuung 24 Stunden täglich stattfindet, was mit deutschem Arbeitsrecht nicht vereinbar ist.[16] Auch aufgrund des Begriffs „Pflege“ ist die Bezeichnung 24-Stunden-Pflege problematisch, da es sich bei der Betreuung in häuslicher Gemeinschaft nicht um Pflegeleistungen nach SGB XI handelt. Dennoch wird die Bezeichnung 24-Stunden-Pflege vor allem von Vermittlungsagenturen zu Marketingzwecken verwendet.[17]
Die Branchenverbände VHBP und BHSB machen sich für die Verwendung des Begriffs „Betreuung in häuslicher Gemeinschafft“ stark.[18]
Kritik
Die arbeitsrechtlichen und moralischen Aspekte von Betreuung in häuslicher Gemeinschaft stehen teilweise in der Kritik. Hauptaugenmerk sind dabei die Arbeitsbedingungen für die vorwiegend weiblichen Betreuungskräfte. Problematisch sind vor allem die Arbeitszeiten und die unklare Trennung zwischen Freizeit und Rufbereitschaft. Die in den Verträgen festgeschriebenen Arbeitszeiten werden in der Praxis oftmals nicht eingehalten.[19]
Im August 2020 gelang es einer Betreuungskraft aus Bulgarien vor dem Landesarbeitsgericht Berlin ein Urteil zu erwirken, nachdem die Bereitschaftszeit in diesem Fall voll ausbezahlt werden musste.[20] Die nächste Instanz, das Bundesarbeitsgericht in Erfurt, bestätigte im Juni 2021, dass nach Deutschland vermittelte ausländische Pflege- und Haushaltshilfen Anspruch auf Mindestlohn haben, und dies auch für Bereitschaftszeiten.[21]
Entwicklungen
Seit dem Aufkommen von Betreuung in häuslicher Gemeinschaft hat eine zunehmende Professionalisierung eingesetzt. Während zunächst beinahe ausschließlich über Kleinanzeigen und private Netzwerke nach Betreuungspersonal gesucht wurde, ist der Markt inzwischen von professionellen Vermittlungsagenturen gekennzeichnet.[22]
Diese Anbieter vermitteln zwischen Kunden in Deutschland und den Entsendeunternehmen im osteuropäischen Ausland. In der Regel übernehmen die Vermittlungsagenturen dann auch während dem laufenden Vertrag die Kommunikation zwischen den Parteien.[23]
Durch den zunehmenden Wohlstand in Osteuropa und besonders im wichtigsten Entsende-Land Polen, sinkt die Verfügbarkeit von Personal. Dadurch ist langfristig mit steigenden Personalkosten zu rechnen.[24]
Weblinks
- Rechtskonforme Betreuung in den eigenen vier Wänden. Regelungen für die Betreuung in häuslicher Gemeinschaft (24-Stunden-Betreuung) de lege lata und de lege ferenda. Gutachten von Gregor Thüsing auf Anfrage des Bundesministerium für Gesundheit, 2019.
Siehe auch
Einzelnachweise
- Anika von Greve-Dierfeld: Wer pflegt die Alten in Deutschland? In: KN-online.de (Kieler Nachrichten). 11. Februar 2019, abgerufen am 24. September 2020.
- Pflege – Betreuungskraft aus Osteuropa – die besten Vermittler. Stiftung Warentest, abgerufen am 24. September 2020.
- 24-Stunden-Pflege Kosten. In: 24-Stunden Pflege zu Hause. Abgerufen am 24. September 2020.
- 24 Stunden Pflege und Kosten. In: 24 Stunden Pflegekräfte Preise nach Beschäftigungsmodellen. Abgerufen am 3. März 2021 (deutsch).
- Unsere Ziele als Verband für häusliche Betreuung und Pflege. In: vhbp.de. Abgerufen am 24. September 2020.
- Arne Petermann, Tobias Ebbing, Michael Paul: Das Tätigkeitsprofil von Betreuungspersonen in häuslicher Gemeinschaft. Berufsakademie für Gesundheits- und Sozialwesen Saarland, abgerufen am 24. September 2020.
- Arne Petermann, Jürgen Stenger, Marek Benio, Agnieszka Smrokowska-Reichmann, Städtler-Mach, Tobias Ebbing: Fairness und Autonomie in Beschäftigungsverhältnissen der häuslichen Betreuung und Pflege alter und kranker Menschen. Berufsakademie für Gesundheits- und Sozialwesen Saarland, 1. Januar 2020, abgerufen am 24. September 2020.
- Pflegefall – was tun? Verbraucherzentrale, abgerufen am 18. April 2021.
- Pandemie erschwert die Arbeitssituation polnischer Betreuungskräfte. In: caritas.de. 16. November 2020, abgerufen am 25. Juni 2021.
- Vermittlung nach Maß - Bundesagentur für Arbeit. Abgerufen am 24. September 2020.
- Haushaltshilfen legal beschäftigen. 25. Juli 2017, abgerufen am 24. September 2020.
- "24-Stunden-Betreuung" im eigenen Haushalt. Abgerufen am 24. September 2020.
- Bernd Kastner: Tausende Pflegehilfen arbeiten illegal. Abgerufen am 24. September 2020.
- Unsere Ziele als Verband für häusliche Betreuung und Pflege – vhbp. Abgerufen am 24. September 2020.
- Kann die Pflegesachleistung für eine polnische Pflegekraft genutzt werden? In: 24-Stunden Pflege zu Hause. 4. November 2019, abgerufen am 24. September 2020.
- Das Arbeitszeitgesetz. BMAS, April 2018, abgerufen am 24. September 2020.
- Carina Frey: 24-Stunden-Pflege. Ein Urteil entlarvt das Mogelpaket. Riff Reporter, 27. August 2020; abgerufen am 23. Januar 2022.
- Alles über den Verband für häusliche Betreuung und Pflege e.V. – vhbp. Abgerufen am 24. September 2020.
- „24-Stunden-Pflege“ – Ein Urteil entlarvt das Mogelpaket. 27. August 2020, abgerufen am 18. April 2021.
- 24-Stunden-Pflege: Hohe Nachzahlung für bulgarische Pflegerin. In: MDR.de. Abgerufen am 24. September 2020.
- Susanne Knütter: 24-Stundenpflege: Frau Alekseva. In: jungewelt.de, Freitag, 25. Juni 2021, Nr. 144. Abgerufen am 24. Juni 2021.
- Fabienne Bürmann, Marco Berndt, Marvin Held, Christian Holsing: Branchenreport 2020 – Häusliche 24-Stunden-Pflege und -Betreuung. Hrsg.: Christian Holsing und Sebastian Leitner. S. 31 (24h-pflege-check.de [PDF]).
- Polnische Pflegeagentur und deutsche Vermittler – So funktioniert die Zusammenarbeit. In: 24-Stunden Pflege zu Hause. 20. Juni 2019, abgerufen am 24. September 2020.
- Alejandro Rada: Pflegekräftemigration aus den neuen EU-Mitgliedstaaten nach Deutschland – Entwicklungslinien, Zukunftsperspektive und verantwortliche Faktoren. Hrsg.: Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e. V. Oktober 2016.