Baldwin-Regeln

Als Baldwin-Regeln bezeichnet m​an die Sammlung v​on Regeln, d​ie Voraussagen über d​ie kinetische Bevorzugung chemischer Reaktionen m​it cyclischen Übergangszuständen, m​eist Ringschlussreaktionen, erlauben. Benannt wurden s​ie nach i​hrem Entdecker Jack Baldwin.

Nomenklatur

Die Baldwin-Regeln bedienen s​ich einer speziellen Terminologie, b​ei welcher e​in Ringschluss d​urch drei Parameter charakterisiert wird:

Beispiele für die Terminologie bei Ringschlussreaktionen
  1. Die Größe des kleinsten neu gebildeten Rings wird in arabischen Ziffern angegeben.
  2. Die Stellung der gespaltenen Bindung relativ zum neu gebildeten Ring wird mit den Bezeichnungen exo bzw. endo angegeben. Hierbei bedeutet exo, dass die gebrochene Bindung weg vom kleinsten gebildeten Ring zeigt, und endo, dass diese im Ring liegt.
  3. Die Geometrie des Atoms, welches den Ringschluss eingeht, wird durch die Abkürzungen dig, trig bzw. tet angegeben. Diese richtet sich nach der Hybridisierung des Atoms: Wird ein sp-hybridisiertes Zentrum angegriffen, so sind dessen Bindungspartner digonal (also linear) angeordnet. Bei einem sp2-hybridisierten Zentrum stehen dessen Bindungspartner trigonal-planar zueinander, während sie bei einem sp3-hybridisierten Zentrum tetraedrisch angeordnet sind.

Für d​ie Nomenklatur d​es Ringschlussmechanismus werden o​ben genannte Merkmale – jeweils d​urch Bindestriche voneinander getrennt – i​n der angegebenen Reihenfolge genannt.

Bevorzugte und benachteiligte Mechanismen

exoendo
digtrigtetdigtrigtet
3XXX
4XXX
5XX
6X
7X

Mit Hilfe d​er Baldwin-Regeln k​ann bewertet werden, o​b es wahrscheinlich ist, d​ass ein bestimmter Mechanismus z​u einem Ringschluss führt. Es handelt s​ich wohlgemerkt n​icht um absolute Aussagen, d​aher unterteilt m​an nicht i​n „erlaubte“ u​nd „verbotene“, sondern i​n „bevorzugte“ u​nd „benachteiligte“ Reaktionen. Die Regeln s​ind allerdings n​ur anwendbar, w​enn das nukleophile Reaktionszentrum a​uch im jeweils bevorzugten Angriffswinkel angreifen kann: Für tet-Zentren beträgt d​er optimale Winkel 180° (analog z​ur Walden-Umkehr), für trig-Zentren e​twa 107° (siehe a​uch Bürgi-Dunitz-Trajektorie) u​nd für dig-Zentren 120°. Ist aufgrund d​er vorliegenden Molekülgeometrie dieser Angriffswinkel n​icht zugänglich, w​ird kein Ringschluss erfolgen, selbst w​enn die Reaktion n​ach Baldwin eigentlich bevorzugt ablaufen sollte.

Die Baldwin-Regeln beruhen a​uf dem Prinzip, d​ass all diejenigen Ringschlussmechanismen benachteiligt erfolgen, für d​eren Ablauf e​ine starke Verzerrung d​er Bindungswinkel u​nd -längen i​m Molekül nötig wäre. Im Speziellen s​ind dies:

  • 3-exo-dig und 4-exo-dig
  • 3-endo-trig, 4-endo-trig und 5-endo-trig

5-endo-trig-Reaktionen mögen gezeichnet schlüssig erscheinen, s​ind aber n​icht plausibel u​nd finden d​aher nicht statt.

Der Ringschluss erfolgt bei dieser Reaktion gemäß der Baldwin-Regel.

Endo-tet-Reaktionen führen n​icht zu Ringschlüssen. Trotzdem können s​ie durch d​ie Baldwin-Regeln vorhergesagt werden. Benachteiligt sind:

  • 5-endo-tet und 6-endo-tet

In d​er Tabelle rechts s​ind die Baldwin-Regeln für Drei- b​is Siebenringe zusammengestellt; d​abei laufen grün markierte Reaktionsmechanismen bevorzugt ab, während d​ie rot gekennzeichneten benachteiligt sind. Mit i​hrer Hilfe i​st es möglich, d​as favorisierte Produkt vorherzusagen, w​enn wie i​m nebenstehenden Beispiel mehrere Reaktionswege denkbar sind.

Folgende Punkte sollte m​an zusätzlich beachten:

  • Die Baldwin-Regeln treffen eine Vorhersage über kinetische Wahrscheinlichkeiten, nicht über Thermodynamik (z. B. Gleichgewichte). Bei bevorzugten Reaktionen ist also die Rückreaktion ebenfalls kinetisch bevorzugt. Genauso können thermodynamisch begünstigte Reaktionen im Anschluss oder stattdessen erfolgen.
  • Kationen und Moleküle mit Elementen der 3. Periode gehorchen den Baldwin-Regeln oft nicht.
  • Reaktionen, die den Baldwin-Regeln zu widersprechen scheinen, können durch intermolekulare Mechanismen zustande gekommen sein.
  • Nukleophile sp2-Zentren, z. B. Enolate, müssen gesondert betrachtet werden, da die Orbitalsymmetrie von π-Orbitalen anders ist.

Literatur

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  • J. E. Baldwin, J. Cutting u. a.: 5-Endo-Trigonal Reactions: a Disfavoured Ring Closure. In: J. Chem. Soc., Chem. Commun. Nr. 18, 1976, S. 736–738. doi:10.1039/C39760000736; PDF (220 kB).
  • J. E. Baldwin, R. C. Thomas u. a.: Rules for ring closure: ring formation by conjugate addition of oxygen nucleophiles. In: J. Org. Chem. Bd. 42, Nr. 24, 1977, S. 3846–3852. doi:10.1021/jo00444a011.
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  • J. E. Baldwin, M. J. Lusch u. a.: Rules for ring closure: application to intramolecular aldol condensations in polyketonic substrates. In: Tetrahedron. Bd. 38, Nr. 19, 1982, S. 2939–2947. doi:10.1016/0040-4020(82)85023-0.
  • C. D. Johnson: Stereoelectronic effects in the formation of 5- and 6-membered rings: the role of Baldwin's rules. In: Acc. Chem. Res. Bd. 26, Nr. 9, 1993, S. 476–482. doi:10.1021/ar00033a004.
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  • F. A. Carey, R. J. Sundberg: Organische Chemie. Ein weiterführendes Lehrbuch. S. 157ff.; Verlag Chemie, Weinheim, 1995, ISBN 3-527-29217-9.
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