Augenscheinkarte
Als Augenscheinkarte (auch Streitkarte) wird eine handgezeichnete Landkarte bezeichnet, die topographische Sachverhalte nach dem „Augenschein“ (Besichtigung des Geländes) abbildet, ohne vorangegangene Landesvermessung.
Kartendarstellung
Augenscheinkarten geben nicht nur topographische, sondern darüber hinaus thematische Sachverhalte bildlich wieder. Sie gewähren den Blick auf einen Ort und erzählen von seinen Bewohnern: Während zum Beispiel Gebäude und Bauernhöfe, Befestigungsanlagen sowie Werften oder Windmühlen oft relativ groß dargestellt werden, finden sich auch Abbildungen von Kleidung, Werkzeugen oder Waffen und sogar ganzer Handlungen.
Topographische Informationen können zwar dominieren, die Ähnlichkeit zu Landkarten ist unverkennbar. Jedoch wurden die topographischen Sachverhalte nach dem Augenschein (einerseits die Besichtigung des Geländes, andererseits das Abmalen nach Augenmaß[2]) abgebildet. Das heißt, dass die die Abkonterfeiung (zeitgenössisch auch Riß, Mappe, Gemälde, Abmalung, Besehung, Ab- / Aufriß, Tafel, Landtafel oder eben auch abgerissener Augenschein[3]) in der Regel ohne vorangegangene Landesvermessung erfolgte. Augenscheinkarten genügen somit naturgemäß nicht den Ansprüchen einer Landkarte im Sinne der wissenschaftlichen Kartographie.
Geschichte
Der Begriff Augenschein ist im deutschen Sprachgebrauch spätestens seit der Zeit um 1500 nachweisbar, war dabei jedoch keinesfalls für den einen Kartentyp reserviert. Im geschichtswissenschaftlichen Forschungsdiskurs bezeichnen die Termini Augenschein-, vereinzelt auch Streit- oder Prozesskarte zunächst jene handgezeichneten Karten, die seit Ende des Spätmittelalters häufig im Kontext von Grenzstreitigkeiten entstanden und derart als Beilagen zu Gerichtsakten überliefert sind. Augenscheinkarten wurden vom Spätmittelalter bis ins 19. Jahrhundert also meist im Kontext von Gerichtsstreitigkeiten überliefert.
Die genaue Funktion der Karten ist aber zumindest in der Frühphase dieser kartographiehistorischen Entwicklung umstritten. Weithin wird davon ausgegangen, dass die Karten als Beweismaterial vor Gericht gedient haben. Eine kritische Überprüfung der archivalischen Überlieferung hält diese Annahme jedoch nicht immer stand. Vereinzelt lässt sich im Gegenteil nachweisen, dass die Karten auch jenseits des Gerichtssaals genutzt wurden. In der juristischen Fachliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts wird die Funktion der Karte ebenfalls kontrovers diskutiert. Die Gerichtsordnungen der Zeit erwähnen den Kartentyp zwar vereinzelt, binden ihn aber juristisch an den Maler. Im Auftrag von Landesherren entstanden in Anlehnung an die gerichtlichen Augenscheinkarten dann auch sogenannten Landesaufnahmen für administrative Zwecke.
Lagen Augenscheinkarten Gerichtsakten bei, dienten sie als Illustration zu einem vor Gericht verhandelten Streitfall. Dazu wurden im betroffenen Gelände Ortsbegehungen durchgeführt und der räumliche Sachverhalt des Prozessgegenstandes von einem Zeichner durch eine Handzeichnung festgehalten. Die als Augenscheinkarten bezeichneten Werke unterscheiden sich erheblich in Bezug auf Genauigkeit, Perspektive und Qualität – je nach Fähigkeit und Sorgfalt des Zeichners. Einige Exemplare stellen einen Blick auf die Landschaft dar, wie er von einem bestimmten Ort aus wahrgenommen wurde, oder zeigen aufwändig kolorierte Panoramaansichten mit dekorativer, malerischer Wirkung. Andere Werke sind stark vereinfachte Karten in schematisierter und skizzenhafter Darstellung. Oft wurde die Zeichnung durch umfangreiche Texte ergänzt.[4]
Mit der Verbreitung flächendeckender, großmaßstäbiger, gedruckter Kartenwerke im 19. Jahrhundert verloren Augenscheinkarten an Bedeutung.
Siehe auch
Literatur
- Anette Baumann: Augenscheinkarten des Reichskammergerichts im Generallandesarchiv Karlsruhe (1496–1806). In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, Jg. 167, 2019, S. 141–153.
- Thomas Horst: Die älteren Manuskriptkarten Altbayerns. Eine kartographiehistorische Studie zum Augenscheinplan unter besonderer Berücksichtigung der Kultur- und Klimageschichte. 2 Bände, München 2008, ISBN 978-3-406-10776-4.
- Daniel Kaune, Text und Bild vor Gericht. Die Beweiskraft von Augenscheinkarten, in: Katrin Marx-Jaskulski / Annegret Wenz-Haubfleisch (Hrsg.), Pragmatische Visualisierung. Herrschaft, Recht und Alltag in Verwaltungskarten (Schriften des Hessischen Staatsarchivs Marburg 38), Marburg 2020, S. 105–130, weiter auch S. 287–291 (= Abb. 42.1 und 42.2).
- Daniel Kaune, Augenzeugen und Augenschein im Prozess. Ein Zeugenverhör-Rotulus des Reichskammergerichts im Spiegel seiner Augenschein-Karte, in: Stephan Laux, Maike Schmidt (Hrsg.), Grenzraum und Repräsentation. Perspektiven auf Raumvorstellungen und Grenzkonzepte in der Vormoderne (Trierer historische Forschungen Bd. 74), Trier 2019, S. 85–98.
- Uwe Ohainski, Arnd Reitemeier (Hrsg.): Das Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel im Jahr 1574. Der Atlas des Gottfried Mascop. Verlag für Regionalgeschichte, Gütersloh 2012, ISBN 978-3-89534-987-4.
Weblinks
- Thomas Horst: Augenscheinkarten – eine Quelle für die Kulturgeschichte. In: Akademie Aktuell. 1/2010, S. 38–51, PDF des ersten Heftes, abgerufen am 6. Juni 2017
- Johannes-Georg Schülein, Jan Wöpking: Der indirekte Augenschein – Annäherungen an das Problem kartographischer Evidenz
- Daniel Kaune: Der Blick auf die kleine Welt – Frühe, handgezeichnete regionale Landkarten zwischen Mimesis und Metrik. In: Archivnachrichten aus Hessen Nr. 16/2 (2016), S. 58–60, PDF, abgerufen am 10. Oktober 2018
- Streitkarte von 1581 (Memento vom 5. März 2014 im Webarchiv archive.today), zeigt Clausthal und Zellerfeld. Es ging in dem Streitfall zwischen den Landesherren von Braunschweig-Wolfenbüttel (Zellerfeld) (orange unterlegt) und Fürstentum Grubenhagen (Clausthal) (blaugrün unterlegt) um die Nutzung des Wassers des Zellbachs.[5] Der Zellbach wurde schon damals aus dem Zellbachtal – in der Bildmitte – an den Berghang verlegt und vielfältig genutzt, z. B. für den Bergbau. Siehe auch Oberharzer Wasserregal.
Einzelnachweise
- Der Ämteratlas des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel auf der Website der Georg-August-Universität Göttingen, abgerufen am 16. Mai 2013
- Wolfgang Scharfe: Der „wissenschaftliche“ Stand der Kartographie um 1600. In: Dagmar Unverhau, Kurt Schietzel (Hrsg.): Das Danewerk in der Kartographiegeschichte Nordeuropas. Neumünster 1993, S. 189–210.
- Fritz Hellwig, Tyberiade und Augenschein. Zur forensischen Kartographie im 16. Jahrhundert, in: Jürgen Baur / Peter-Christian Müller-Graff / Manfred Zuleeg (Hg.), Europarecht, Energierecht, Wirtschaftsrecht – Festschrift für Bodo Börner zum 70. Geburtstag, Köln [u. a.] 1992, S. 805-834: Tyberiade und Augenschein. Zur forensischen Kartographie im 16. Jahrhundert. In: Jürgen Baur, Peter-Christian Müller-Graff, Manfred Zuleeg (Hrsg.): Europarecht, Energierecht, Wirtschaftsrecht – Festschrift für Bodo Börner zum 70. Geburtstag. Köln 1992, S. 805–834.
- Thomas Horst: Augenscheinkarten – eine Quelle für die Kulturgeschichte. In: Akademie Aktuell, 1/2010, S. 38–41
- Friedrich Balck: Bilder, Fotos und Modelle – wichtige Schlüssel zur Technikgeschichte im Oberharz. Fingerhut, Clausthal-Zellerfeld, S. 22, ISBN 3-935833-06-7 (Digitalisat, PDF)