Alina Gromova
Alina Gromova (geboren 1980 in Dnipropetrowsk, Ukraine) ist eine deutsche Europäische Ethnologin und Autorin. Sie forschte über junges Judentum in Berlin und arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Jüdischen Museum Berlin.
Leben
Alina Gromova gehört zur zweiten Generation russischsprachiger jüdischer Einwanderer in Deutschland.[1] Sie wuchs nach dem Tod ihrer Mutter ab dem Alter von fünf Jahren in der jüdischen Familie ihres Vaters und dem großen jüdischen Freundeskreis ihrer Großeltern in der Stadt Dnipropetrowsk auf. Durch ihre Großmutter mütterlicherseits lernte sie auch den russisch-orthodoxen Glauben kennen. Jüdische Religion konnte in der Sowjetunion nur im Geheimen gelebt werden. Nach ihrer Erzählung habe die Familie jüdische Feste gefeiert, doch nie ausdrücklich darüber gesprochen, dass sie Juden sind. Mit dem Zerfall der Sowjetunion seien jüdische Organisationen aus dem Ausland in die Stadt gekommen und sie nahm in einem jüdischen Zentrum hebräischen Sprachunterricht. Mit 16 Jahren kam sie durch ein Programm der Jewish Agency for Israel in ein Internat in Israel. Sie wollte in Israel bleiben, doch ihre Familie beschloss 1997 als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland auszuwandern, was nur möglich war, wenn alle minderjährigen Kindern mitausreisen. Sie lebten zunächst zu fünft in einem Zimmer in einer ehemaligen Kaserne in Köln. Trotz schlechter Deutschkenntnisse wurde sie in ein Gymnasium aufgenommen und schaffte das Abitur. Anschließend begann sie in Berlin Englisch und Rechtswissenschaft zu studieren, wechselte dann zu dem Fach Jüdische Studien und wurde bald Teil jüdischer Netzwerke in Berlin. Ein paar Monate studierte sie in Melbourne, lernte Jiddisch und arbeitete in einem Museum, das die jüdische Community gegründet hatte.[2]
Sie schloss 2012 ihre Promotion an der Humboldt-Universität im Fach Europäische Ethnologie ab mit einer Feldstudie zu Lebensstil und Identität junger russischsprachiger Juden und Jüdinnen, die in Berlin leben. Ihre Gutachter waren Wolfgang Kaschuba und Y. Michal Bodemann.[3] Während sie ihre Doktorarbeit schrieb, war sie ab 2008 Referentin für Führungen im Jüdischen Museum Berlin. Von 2013 bis 2014 arbeitete sie ebendort als freie Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Lebenswirklicheiten. Jüdische Gegenwart in Deutschland“.[4] Sie ist heute Wissenschaftliche Mitarbeiterin der 2012 eröffneten W. Michael Blumenthal-Akademie des Jüdischen Museums Berlin.[5]
Seit 2005 veröffentlicht sie regelmäßig Artikel in der Jüdischen Zeitung (Berlin), der Jüdischen Allgemeine und der russischsprachigen Jewreiskaja Gaseta.
Von 2010 bis 2012 war sie im Vorstand der Stiftung Zurückgeben zur Förderung jüdischer Frauen in Kunst und Wissenschaft.[6] Sie ist Vorstandsmitglied im Internationalen Museumsrat (ICOM) Deutschland.[7]
Sie war 2018 eine Erstunterzeichnerin des Positionspapiers zu “Juden in der AfD”.[8]
Zitat
„Für mich ist das Jüdischsein durch Elemente sowohl aus Religion, als auch aus Kultur, Familiengeschichte bestimmt. Es ist das, was ich tagtäglich in meiner Familie lebe. Ich zünde am Freitag Kerzen an und es gibt ein Essen, man hält nicht zwanghaft an allen Regeln fest, es ist eher ein symbolischer Teil meines Lebens, der aber ganz fest ist. Man weiß, letzten Endes wo man hingehört. Es schließt aber gar nicht aus, dass ich andere Traditionen lebe und auch andere Feste feiere.“ (Alina Gromova, zitiert in: Deutschlandfunk, 2018)[9]
Forschung und Rezensionen
Für ihre Studie, die als Buch unter dem Titel Generation »koscher light« erschien, begleitete sie ein Jahr lang 15 russischsprachige Jüdinnen und Juden im Alter von 18 bis 35 Jahre in ihrem Alltag in Berlin. Geboren in der Sowjetunion und aufgewachsen in einer religionsfeindlichen Gesellschaft mit oftmals nur einem jüdischen Elternteil, waren sie nicht in eine jüdische Umwelt hineinsozialisiert worden. Gromova ging der Frage nach, welche Rolle räumliche Aspekte für ihre Identitäts- und Gemeinschaftsbildung spielen. Als „koscher light“ bezeichnet sie den kreativen, selbstbewussten Umgang mit jüdischen Traditionen.[10] Sie nennt die aus der Sowjetunion gekommenen jüdischen Zuwanderer „Experten für die Postmoderne“. Im Gegensatz zu den zugewanderten Israelis, würden sie noch immer als Neuankömmlinge betrachtet, sich selbst jedoch als selbstverständlichen Teil des deutschen Judentums begreifen.[9]
Das „Jüdische“ werde in ihrer Studie „nicht als essentialistisches Substrat, sondern als dynamischer Suchprozess nach einer eigenen jüdischen Selbstwahrnehmung“ beschrieben, so der Ethnologe Oleg Pronitschew von der Universität Kiel. Gromova überzeuge „durch genaue und gut dokumentierte ethnographische Beobachtungen, die sie mit raumtheoretischen Konzepten von Martina Löw, Henri Lefebvre, Pierre Bourdieu oder Kevin Lynch verbindet.“[11]
Als Europäische Ethnologin kombiniere Alina Gromova „kunstgerecht jüdische Studien, Migrationsforschung, Stadtraum-, Minderheiten- und Jugendperspektiven“, befand die Kulturwissenschaftlerin Julia Itin in dem Magazin Medaon. Gromova komme zu dem Ergebnis, dass urbane Räume zur Identitäts- und nicht traditioneller Gemeinschaftsbildung beitragen und dadurch das Jüdische als urbaner Lebensstil geformt werde. Laut der Rezensentin ist Gromovas Arbeit eine der Zukunft gewidmete interdisziplinäre Bereicherung in der Menge eher historisch geprägter Studien über das jüdische Leben in Deutschland.[12]
Auszeichnungen
- Humboldt-Preis 2013 der Humboldt-Universität, Sonderpreis „Judentum und Antisemitismus“ für ihre Dissertation[13]
Veröffentlichungen
- Monografien
- Generation »koscher light«. Urbane Räume und Praxen junger russischsprachiger Juden in Berlin. Transcript Verlag, Bielefeld 2013, ISBN 978-3-8376-2545-5.
- Als Herausgeberin
- mit Felix Heinert und Sebastian Voigt: Jewish and Non-Jewish Spaces in the Urban Context (=Jüdische Kulturgeschichte in der Moderne, Bd. 4), Neofelis Verlag, Berin 2015, ISBN 978-3-943414-44-8[14]
- Buchbeiträge
- Spezifika der jungen Generation jüdischer Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion in Berlin. Vorteile des raumpraxeologischen und ethnographischen Zugangs. In: Miriam Gillis-Carlebach, Barbara Vogel (Hrsg.): Becoming Visible. Jüdisches Leben in Deutschland seit 1990. Die achte Joseph Carlebach-Konferenz. Dölling und Galitz Verlag, München/Hamburg 2011, ISBN 978-3-86218-015-8, S. 153–168
- A City of Mind. Berlin in the Perception of Young Russian-Speaking Jewish Migrants. In: Claudia Simone Dorchain, Felice Naomi Wonnenberg (Hrsg.): Contemporary Jewish Reality in Germany and Its Reflection in Film (=Band 2 der Reihe Europäisch-jüdische Studien – Beiträge), De Gruyter, Berlin 2012, ISBN 978-3-11-026512-5, S. 71–84.
- Jüdische Vergemeinschaftung als Praxis der Distinktionen. In: Karen Körber (Hrsg.): Russisch-jüdische Gegenwart in Deutschland. interdisziplinäre Perspektiven auf eine Diaspora im Wandel (=Schriften des Jüdischen Museums, Band 3), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2015, ISBN 978-3-525-30075-6, S. 60–81.
- „Wir haben Juden erwartet und es kamen Russen“ Umgang junger Juden mit Fremdbildern. In: Doron Kiesel/Zentralrat der Juden in Deutschland (Hrsg.): Perspektiven jüdischer Bildung. Diskurse – Erkenntnisse – Positionen, Band 1, Hentrich und Hentrich, Leipzig 2017, ISBN 978-3-95565-244-9, S. 20–33
- «Körper (ver)Stimmen Räume», im Gespräch mit Saboura Naqshband und Layla Zami (Interview: Ismahan Wayah). In: Ozan Zakariya Keskinkılıç, Ármin Langer (Hrsg.): Fremdgemacht & Reorientiert – jüdisch-muslimische Verflechtungen, Verlag Yilmaz-Günay, Berlin 2018, ISBN 978-3-9817227-7-2, Seiten 71–90.
- Artikel
- Jüdische Berliner und ihre mentalen Stadtraum-Konstruktionen. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde, 108/2012, S. 81–95
- Jewish Dating or Niche-making? A Topographical Representation of Youth Culture In: Anthropological Journal of European Cultures, September 2014, ISSN 1755-2923, DOI: https://doi.org/10.3167/ajec.2014.230202
- Mit Serpil Polat: „Future Memories“ – neue Visionen des Erinnerns in Museen und Archiven der Migrationsgesellschaft, Jüdisches Museum Berlin, 2019 (pdf)
- Von Vaterjuden und anderen Bezeichnungen, auf die wir gut verzichten können. Bedeutung, Herausforderungen und Kritik In: Politik & Kultur 4/2021. Online auf Kulturrat.de
- En-Gendering jüdische Migration: Narrative jüdischer Frauen mit sowjetischer Erfahrung in Deutschland nach 1990. Bundeszentrale für politische Bildung, 5. Februar 2021
Weblinks
- Literatur von und über Alina Gromova im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Literatur von und über Alina Gromova in der bibliografischen Datenbank WorldCat
Einzelnachweise
- Sharon Adler: Jüdinnen in Deutschland nach 1945. Erinnerungen, Brüche, Perspektiven Teil II. Bundeszentrale für politische Bildung, 22. September 2020
- Lea de Gregorio: Sie beschreibt sich als Chamäleon, Taz, 4. Juli 2021
- Humboldt-Preis 2013
- Jüdische Vergemeinschaftung als Praxis der Distinktionen. In: Karen Körber (Hrsg.): Russisch-jüdische Gegenwart in Deutschland. interdisziplinäre Perspektiven auf eine Diaspora im Wandel (=Schriften des Jüdischen Museums, Band 3), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2015, ISBN 978-3-525-30075-6, Fußnote S. 81.
- Alina Gromova: Räume für Erfahrungen. Jüdische Allgemeine, 26. Februar 2018 (Fußnote zur Autorin)
- Alina Gromova Autorin. Bundeszentrale für politische Bildung, 5. Februar 2021
- ICOM, Vorstand (abgerufen am 17. September 2021)
- "Juden in der AfD". Die AfD vertritt menschenfeindliche und antisemitische Positionen. Ein Gastbeitrag von Micha Brumlik, Marina Chernivsky, Max Czollek, Hannah Peaceman, Anna Schapiro und Lea Wohl von Haselberg, Zeit Online, 26. September 2018, S. 2/2
- Carsten Dippel Generationenkonflikt bei deutschen Juden. „Der jüdische Kalender bestimmt nicht mein Leben“. Deutschlandfunk, 17. Oktober 2018
- Carsten Dippel: Junges Judentum in Berlin. Freies Spiel mit der Religion. Deutschlandfunk Kultur, 9. Januar 2015
- Oleg Pronitschew: Rezension in: H-Soz-Kult, 4. Dezember 2014
- Julia Itin: Rezension in Medaon. Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung 9/2015, 17 (pdf zum Herunterladen)
- Alina Gromova. Humboldt-Preis 2013 für ihre Dissertation - Sonderpreis "Judentum und Antisemitismus", Humboldt-Universität
- Besprechung von Anna Wrona, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung, 1. Februar 2018, S. 603–604 (pdf)