Aktionsanalytische Organisation
Die Aktionsanalytische Organisation (AAO), auch als AA-Kommune, Muehl-Kommune oder Friedrichshof-Gruppen bezeichnet, war eine etwa 1970 aus einer Wohngemeinschaft entstandene Kommune, die von dem Aktionskünstler Otto Muehl gegründet wurde. Sie umfasste in ihrer Blütezeit bis zu 600 Mitglieder. Die AAO verstand sich als Gesellschaftsexperiment, als Modell einer zukünftigen Form des Zusammenlebens[1] und bezeichnete ihre Prinzipien als „neuen Humanismus“.
Ziele
Die AAO postulierte eine Rückkehr zur Natur und freie Liebe. Als theoretische Grundlagen diente eine Mischung aus Thesen von Jean-Jacques Rousseau, Karl Marx, Wilhelm Reich („Charakteranalyse“), Psychodrama, Arthur Janov („Urschrei“) und Parolen der 1968er linken Studentenbewegung zur Befreiung der Sexualität.
Die gesellschaftlichen Zustände wurden von der AAO auf die schädlichen Auswirkungen des Lebens in Kleinfamilien zurückgeführt. Die so entstandene Charakterpanzerung sollte aufgebrochen werden, indem in einer Art Schauspiel, innerhalb der Kommune „Selbstdarstellung“ genannt, alle Angst-, Scham- und Ekelgefühle sowie Tabus radikal zu durchbrechen waren. Das sollte zu einer Art „Wiedergeburt“ und zu einem höheren Bewusstsein („AA-Bewusstsein“) führen. Ziel war ein neues Gesellschaftsmodell, das weltweit eingeführt werden sollte. Die Mitglieder der Kommune wurden eine Zeit lang nach ihrer „Bewusstseinsstufe“ im Sinne einer Hackordnung durchnummeriert.
Entwicklung
1970er Jahre
Muehls Wiener Kommune war zunächst eine unter vielen. Im Sommer 1972 begann Muehl, Sprechstunden für die Mitglieder einzurichten, und nannte diese Behandlung alsbald „Aktionsanalyse“.
AAO-Teams traten in den 1970er Jahren an verschiedenen deutschen Universitäten auf, um Werbung für ihre Sache zu machen. Man erkannte die Mitglieder sofort an ihrer Einheitskleidung, der Latzhose, und an ihren kurz geschnittenen Haaren, was zu dieser Zeit bei jungen Menschen sehr ungewöhnlich war.
Wesentliche Grundlage der AAO war neben der freien, gemeinsamen Sexualität auch die Abschaffung des Privateigentums. Es sollte nur noch gemeinsamen Besitz geben. Deshalb hatten die Mitglieder ihr gesamtes Vermögen der Gemeinschaft zuzuführen. Ab 1974 wurde die Zentrale in Friedrichshof in der Marktgemeinde Zurndorf im Burgenland eingerichtet. Hier wurden in den folgenden Jahren mehrere Kinder geboren, die als gemeinsame Kinder galten. In vielen anderen Städten kam es zu Niederlassungen, deren wirtschaftliche Grundlage Handwerksbetriebe waren; der Erlös wurde gemeinsam verwaltet. Für jedes Mitglied bestand Arbeitspflicht in den eigenen Wirtschaftsbetrieben. Die AAO betrieb Landwirtschaft, führte Entrümpelungen durch und unterhielt Läden und Cafés. Es gab auch ein eigenes Unternehmen für die Literaturproduktion.
Mit der Wiedereinführung des Privateigentums zeigten sich nach und nach Tendenzen zur Verbürgerlichung der AAO. Bereits 1978 wurde Privateigentum in beschränktem Maße wieder zugelassen, indem jedem Mitglied ein eigener Verfügungsbetrag zugestanden wurde. 1979 wurde das Prinzip des Gemeinschaftseigentums für beendet erklärt. Auch die Einheitskleidung verschwand. Die Bewegung verlor an Elan, und viele Mitglieder kehrten ihr den Rücken.[2]
La Gomera
Otto Muehl, der immer mehr in den Hintergrund zu treten schien, wagte schließlich 1986 den totalen Neuanfang: Mit etwa 200 Getreuen wanderte er auf die Kanareninsel La Gomera aus. Er brach mit dem bisherigen Prinzip der gemeinsamen Sexualität und erklärte Claudia Weissensteiner zu seiner „ersten“ Frau und ihren Sohn zu seinem künftigen Nachfolger. In der Art eines Patriarchen regierte er sein zerbröckelndes „Reich“, bis er vor einem österreichischen Gericht angeklagt wurde.
Auflösung
Otto Muehl, Gründer und Oberhaupt der Gruppe, wurde am 13. November 1991 in Eisenstadt im österreichischen Burgenland zu 7 Jahren Haft verurteilt. Anklagepunkte waren die Praktiken in seiner Organisation, Unzucht und Beischlaf mit Unmündigen, Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses und diverse Drogendelikte. Muehl gab die Beschuldigungen größtenteils zu. Nach späteren Aussagen von Muehl, die im Bayerischen Fernsehen ausgestrahlt wurden, waren viele Mitglieder der AAO an sexuellem Missbrauch beteiligt,[3] wozu unterschiedliche Berichte existieren.[4][5][6][7] Im Anschluss an die Verurteilung löste die Gruppe sich auf.
Die AAO hat spätere Kommune-Experimente mitgeprägt. Dieter Duhm entnahm nach eigener Aussage hieraus „erste Inspirationen“. Andreas Schlothauer (Aussteiger und Buchautor) zufolge wurde das erste Konzept des ZEGG innerhalb der AAO entwickelt.[8]
Muehl wurde 1997 aus der Haft entlassen. Elemente der AAO lebten in verschiedenen Neugründungen weiter, auch in einer kleinen Gruppe um Muehl selbst. Im Mai 2013 starb Otto Muehl in seinem Domizil in Portugal.
Kritik
Nach Ansicht von Kritikern war die AAO eine autoritäre und hierarchische Organisation mit uneinlösbaren Heilsversprechen, verkürzten Antworten auf komplexe Probleme, welche immer wieder auf einen zu repressiven Umgang mit Sexualität zurückgeführt werden, einer extremen Abgeschlossenheit gegen Kritik und Zweifel, elitären und teilweise endzeitlichen Vorstellungen und einer sehr starken Konzentration auf Otto Muehl als Führer und Vordenker, was zu kontroversen und teils sehr kritischen Bewertungen führte.[9]
Zitat
„Wer den Krieg abschaffen will, muß zuerst die Kleinfamilie beseitigen.“
Dokumentarfilm
- Paul-Julien Robert: Meine keine Familie, Österreich 2012, 93 min.
- teilweise: Paul Poet: My Talk With Florence (F. Bernier-Bauer, Interviewfilm), Österreich 2015, 129 min.
Literatur
- Das AA-Modell Band 1, AAO, Aktions-Analytische Organisation bewusster Lebenspraxis, AA-Verlag, Neusiedl/See 1976, ISBN 3-85386-003-6. (Enthält das Kommunemanifest 1973 und weitere Kurztexte von Otto Muehl und anderen Autoren; der angekündigte Band 2 ist nicht erschienen.)
- AAO - Pro und Contra. Kritische Stellungnahmen zur AAO. AA-Verlag, Nürnberg 1977, ISBN 3-85386-004-4. (Stellungnahmen von Volker Elis Pilgrim, Dieter Duhm, Aike Blechschmidt, Rudolf Mraz u. a.)
- Bernd Laska: Die Aktions-Analytische Organisation Wien. In: wilhelm-reich-blätter, Heft 3, 1976, S. 42–43
- Die Falle. AAO = Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Parallel-Verlag, (West-)Berlin 1977 (Autoren: Jürgen Fischer, Peter Eedy, John Joachim Trettin, Friedel Kremer, Willi Trienen)
- Handbuch Religiöse Gemeinschaften, Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, Gütersloh 2. Aufl. 1979, ISBN 3-579-03585-1.
- Hermann Klinger: AAO : KO oder Wie wir uns die Befreiung nicht vorstellen. (Diplomarbeit), Selbstverlag, [ca. 1980]
- Andreas Schlothauer: Die Diktatur der freien Sexualität. AAO, Mühl-Kommune, Friedrichshof. Verlag für Gesellschaftskritik, Wien 1992, ISBN 3-85115-157-7.
- Peter Stoeckl: Kommune und Ritual. Das Scheitern einer utopischen Gemeinschaft. Campus-Verlag, Frankfurt a. M. / New York 1994.
- Frank Nordhausen, Liane von Billerbeck: Psycho-Sekten - die Praktiken der Seelenfänger. Verlag Ch. Links, Berlin 1997, ISBN 3-86153-135-6 (Abschnitt zur AAO)
- Toni Elisabeth Altenberg: Mein Leben in der Mühlkommune. Freie Sexualität und kollektiver Gehorsam. Verlag Böhlau, Wien 1998, ISBN 3-205-98953-8.
- Theo Altenberg: Das Paradies Experiment. Die Utopie der freien Sexualität. Kommune Friedrichshof 1973-1978. The Paradise Experiment. The Utopia of Free Sexuality. Friedrichshof Commune 1973-1978. Triton Verlag, Wien 2001, ISBN 3-85486-091-9.
- Robert Fleck: Die Mühl Kommune. Freie Sexualität und Aktionismus. Geschichte eines Experimentes. Walter König, Köln 2003, ISBN 3-88375-453-6
- Friedrich-Wilhelm Haack, Bernd Dürholt, Jutta Künzel-Böhmer, Willi Röder: „Therapie“ als Religionsersatz - Die Otto-Muehl-Bewegung. Arbeitsgemeinschaft für Religions- und Weltanschauungsfragen, München 1990.
Siehe auch
Weblinks
- Interview (Memento vom 27. Dezember 2005 im Internet Archive) mit Theo Altenberg über die Friedrichshof-Kommune im Online-Magazin Telepolis.
- Friedrichshof heute
- Die evangelische Informationsstelle Kirchen, Sekten, Religionen zur AAO
- "Otto Mühl: from the happening to the commune"
Einzelnachweise
- Toni Elisabeth Altenberg, S. 12
- Andreas Schlothauer: Die Diktatur der freien Sexualität. AAO, Mühl-Kommune, Friedrichshof. Verlag für Gesellschaftskritik, Wien 1992, S. 126.
- Bericht des Bayerischen Fernsehens am 6. März 2004 in der Kultursendung Capriccio
- Aus Schlothauer: Die Diktatur der Freien Sexualität: „Ein weiterer Schock war für die pubertierenden Jungen und Mädchen ab 12, 13, 14 Jahren, daß kein sanfter, liebevoller, selbst bestimmter Einstieg in die Welt der Sexualität erfolgte, sondern daß Mühl und seine Frau die Jugendlichen persönlich in die freie Sexualität einführten.“ Die starke Gegenwehr - vor allem von einigen Mädchen - versuchte Mühl durch Druck zu brechen.
- vgl. Andreas Schlothauer: Die Diktatur der freien Sexualität. AAO, Mühl-Kommune, Friedrichshof. Verlag für Gesellschaftskritik, Wien 1992, S. 111, 126.
- Rüdiger Paulsen, Hans und Susan Schroeder-Rozelle, Elke und Ulf von Sparre: „Otto Muehl hat nach neustem Wissensstand bereits in den 70er Jahren begonnen, Kleinkinder ab dem 4.–5. Lebensjahr über viele Jahre hinweg regelmäßig sexuell zu missbrauchen. Dieser Missbrauch fand sogar teilweise im Beisein seiner kleinen Führungsgruppe statt und wurde im Prozess 1991 nicht thematisiert.“
- Siehe auch Bericht im Spiegel 10/2004 vom 1. März 2004.
- Andreas Schlothauer: Die Diktatur der freien Sexualität. AAO, Mühl-Kommune, Friedrichshof: „Die linken Intellektuellen in der AAO erhielten mehr Freiraum, um ihre Ideen zu entwickeln. Dieter Duhm und Aike Blechschmidt entwarfen gemeinsam das Konzept eines ‚Zentrums für experimentelle Gesellschafts-Gestaltung‘ (ZEGG).“
- Siehe z. B. Frank Nordhausen, Liane von Billerbeck: Psycho-Sekten. Die Praktiken der Seelenfänger. CH. Links Verlag, Berlin 1997, ISBN 3-86153-135-6, auszugsweise online.