Akkord-Skalen-Theorie
Die Akkord-Skalen-Theorie (englisch chord scale theory) ist ein methodisches Konzept aus dem Bereich der Didaktik der Jazz- und Popularmusik, und ist dort ein grundlegender Bestandteil der Harmonielehre und der darauf aufbauenden Improvisationstechnik. In der Akkord-Skalen-Theorie (im Weiteren als AST abgekürzt) bilden Akkorde und Akkordskalen eine funktionale Einheit. Während beim Akkord die Töne gleichzeitig erklingen, gibt die Skala die Töne vor, die zu diesem Akkord gespielt werden können.
Die AST beschreibt das tonale Potenzial, das in einem Akkord bzw. in einer Akkordfolge liegt. Ausgehend von der engen Wechselbeziehung, die zwischen Akkord und Skala besteht, bietet sie dem Musiker eine Systematik, Akkorden die passenden Skalen (Tonleitern) zuzuordnen. Die AST wurde maßgeblich vom Berklee College of Music propagiert und weiterentwickelt.
Einleitung
Musik verändert sich und mit ihr verändern sich die Hörgewohnheiten. In vielen Leadsheets werden nur Akkorde notiert. So wird jeder Akkord als Einzelergebnis betrachtet und vertikal ausgedeutet. Eine Begleitung oder Improvisation lebt aber nicht nur von Akkordtönen. Daher denkt man heutzutage eher horizontal und ordnet jedem Akkord eine eigene Tonleiter bzw. Akkordskala zu.[1]
Beziehung zwischen Akkord und Akkordskala
In der AST bestimmen Septakkorde (Vierklänge) die Harmonie. Die Akkordskala entsteht dadurch, dass zu dem Septakkord drei weitere Terzschichtungen hinzugefügt und diese um eine Oktave nach unten verschoben werden. Diese drei weiteren Terzen, sog. Tension bzw. Spannungs- oder Optionstöne, hängen von der Funktion bzw. der Stufe des Akkordes und damit von der Tonart ab. Auf diese Weise liefert die Akkordskala die Töne, die zu diesem Akkord gespielt werden können.
Dieser Zusammenhang lässt sich am besten anhand eines Beispiels verdeutlichen. In der Stufentheorie werden die Töne einer Tonleiter, die das Tonmaterial eines Stückes bereitstellt, vom Grundton aufsteigend mit römischen Zahlen durchnummeriert. Auf jeder Stufe wird ein Septakkord bzw. Vierklang gebildet. Im folgenden Bild wird dies anhand der C-Dur Tonleiter veranschaulicht.
Die AST schreibt in Kadenzen den einzelnen Akkorden zumeist folgende Funktionen zu:
Stufe | Dur | C-Dur | Funktion |
---|---|---|---|
I | Imaj7 | Cmaj7 | Tonika |
II | II-7 | D-7 | Subdominante |
III | III-7 | E-7 | Tonika |
IV | IVmaj7 | Fmaj7 | Subdominante |
V | V7 | G7 | Dominante |
VI | VI-7 | A-7 | Tonika |
VII | VII-7(b5) | B-7(b5) | tendenziell Dominante |
Die hier gewählte Schreibweise für Akkorde lehnt sich an die in der AST oft anzutreffenden Akkord-Symbole an. "-" steht für Moll, der Ton B für das deutsche H.
Die zum Septakkord gehörige Akkordskala entsteht dadurch, dass über ihn drei Terzschichtungen hinzugefügt werden. Dies wird im folgenden Bild anhand des obigen CMaj7 Akkordes auf Stufe I verdeutlicht. Der nunmehr 7-stimmige Akkord wird danach horizontal in eine Tonleiter überführt (gestrichelt). In einem weiteren Schritt werden die Akkordstufen 9, 11, 13 in den unteren Oktavraum gedrückt (grau).
Es entsteht die ionische Akkordskala. Die sieben Töne der Skala sind leitereigen.
Wenn man dieses Verfahren auf jede Stufe der C-Dur Tonleiter anwendet, erhält man zu den Stufenakkorden folgende Akkordskalen.
Stufe | Dur | C-Dur | Akkordskala |
---|---|---|---|
I | Imaj7 | Cmaj7 | C ionisch |
II | II-7 | D-7 | D dorisch |
III | III-7 | E-7 | E phrygisch |
IV | IVmaj7 | Fmaj7 | F lydisch |
V | V7 | G7 | G mixolydisch |
VI | VI-7 | A-7 | A äolisch |
VII | VII-7(b5) | B-7(b5) | B lokrisch |
Die Akkordskalen liefern 7 Skalentöne, die zu den entsprechenden Akkorden melodisch bzw. nacheinander gespielt werden können. Dagegen sind für das gleichzeitige Anschlagen in Akkorden zumeist nicht alle Skalentöne geeignet. Die ungeeigneten Töne werden als Avoid Töne einer Skala bezeichnet. Sämtliche Spannungstöne der 7 Skalen sind leitereigen.
Wenn man auf diese Weise die Skalen für alle Dur- und Molltonarten aufbaut, ergibt sich eine umfassende Systematik, die in der folgenden Tabelle anhand der Dur Tonleitern dargestellt wird. Man erkennt, dass im Tongeschlecht Dur jede Skala eindeutig ist. C mixolydisch ist gleichbedeutend mit fünfte Stufe in F-Dur.
ionisch | dorisch | phrygisch | lydisch | mixolydisch | äolisch | lokrisch | |
---|---|---|---|---|---|---|---|
I | II | III | IV | V | VI | VII | |
Imaj7 | II-7 | III-7 | IVmaj7 | V7 | VI-7 | VII-7(b5) | |
C Dur | Cmaj7 | D-7 | E-7 | Fmaj7 | G7 | A-7 | B-7(b5) |
G Dur | Gmaj7 | A-7 | B-7 | Cmaj7 | D7 | E-7 | F#-7(b5) |
D Dur | Dmaj7 | E-7 | F#-7 | Gmaj7 | A7 | B-7 | C#-7(b5) |
A Dur | Amaj7 | B-7 | C#-7 | Dmaj7 | E7 | F#-7 | G#-7(b5) |
E Dur | Emaj7 | F#-7 | G#-7 | Amaj7 | B7 | C#-7 | D#-7(b5) |
B Dur | Bmaj7 | C#-7 | D#-7 | Emaj7 | F#7 | G#-7 | A#-7(b5) |
F# Dur | F#maj7 | F#-7 | A#-7 | Bmaj7 | C#7 | D#-7 | F#-7(b5) |
F Dur | Fmaj7 | G-7 | A-7 | Bbmaj7 | C7 | D-7 | E-7(b5) |
Bb Dur | Bbmaj7 | C-7 | D-7 | Ebmaj7 | F7 | G-7 | A-7(b5) |
Eb Dur | Ebmaj7 | F-7 | G-7 | Abmaj7 | Bb7 | C-7 | D-7(b5) |
Ab Dur | Abmaj7 | Bb-7 | C-7 | Dbmaj7 | Eb7 | F-7 | F-7(b5) |
Db Dur | Dbmaj7 | Eb-7 | F-7 | Gbmaj7 | Ab7 | Bb-7 | C-7(b5) |
Tabelle der Skalen über alle Dur-Tonarten
Mit derselben Systematik werden die Skalen für die Stufen der natürlichen Molltonleitern zugeordnet, wobei die Stufe I-7 mit der Stufe VI-7 in Dur gleichgesetzt wird.
Grundqualitäten der Skalentöne
Zusammengefasst ordnet die AST die Töne einer Akkordskala folgenden drei Gruppen zu[2]
- Akkordtöne: Töne des Septakkords, der als Grundakkord die Harmonie repräsentiert.
- Tensions: Zum Grundakkord hinzugefügte Töne, die spezielle Spannungen und Farben erzeugen.
- Avoid-Töne: Töne, die in einem Akkord stark dissonant klingen.
Anwendung der Akkordskalen
Die AST liefert eine Systematik, in der Musik gedacht werden kann. Und so wie gedacht wird, so wird Musik gemacht.
Die Tatsache, dass im obigen Beispiel die sieben Skalen ausschließlich Töne der C-Dur Tonleiter beinhalten, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass jede dieser Skalen ihre eigene Klangfarbe hat. Dies vergegenwärtigt man sich schnell, wenn man bedenkt, dass Dur und Moll ebenfalls Skalen sind (ionisch und äolisch). Entscheidend für den Sound der Skalen ist die Relation ihrer einzelnen Töne zu ihrem Grundton. Die Skalen sind klanglich eigenständig und sollten nicht mit einer Stufe oder Funktion gleichgesetzt werden. So kann mixolydisch auch ohne die Dominantfunktion in Dur existieren, wie z. B. im Blues als Tonika auf der I.Stufe.[3]
Wenn der Musiker mit einer vertikalen Sicht näher an der Harmonik bleibt und die Grundakkorde betont und die Spannungstöne als Durchgangstöne betrachtet, führt das dazu, dass für melodische Linien eher Akkordtöne verwendet werden. Die Musik wirkt eher „brav“. Wenn er dagegen in der horizontalen Perspektive die Akkordtöne und die Tensions der Skalen als gleichberechtigt ansieht, werden flüssige melodische Linien gefördert. Das Ergebnis ist für viele Musiker „cooler“. Bewegt sich der Musiker in der horizontalen Sicht zu sehr in den Skalen, ohne die vertikalen Strukturen zu berücksichtigen, entsteht leicht der Eindruck des „Tonleitergedudel“. Wird zudem der Schwerpunkt auf die Tensions gelegt wird, was im modernen Jazz gern gemacht wird, besteht die Gefahr, dass der Hörer den Bezug zum Grundklang gänzlich verliert.[4]
Die AST beschreibt den möglichen Tonvorrat einer Akkordfolge. Nun kommt es aber nicht nur auf den Tonvorrat an, sondern auch auf die Rollenverteilung der einzelnen Töne innerhalb des Tonvorrates. Wenn man Akkordfolgen als horizontal aneinandergereihte Skalen denkt, hat jeder Skalenton eine Grundqualität. Er kann als Akkordton die Harmonie betonen oder als Tension für noch mehr Spannung sorgen. Ein und derselbe Ton kann bei einem Akkordwechsel eine andere Rolle übernehmen. Die Rollenverteilung der einzelnen Töne bzw. die Schwerpunktbildung der Rollen innerhalb eines Stückes hat einen entscheidenden Einfluss auf dem Gesamteindruck, den die Musik erzeugt.
Die AST beschreibt sehr ausführlich das tonale Potenzial, das in Akkordfolgen bzw. Kadenzen liegt. Letztendlich liefert die AST eine Grundlage für das Improvisieren, Arrangieren und Komponieren. Akkordfolgen in Leadsheets, sog. Changes, lassen sich auf ihrer Basis schnell mit zusätzlichen Tönen ausgestalten. Die Systematik der AST hat sich zu einem weltweiten Standard entwickelt. Sie wird unter Musikern für eine schnelle Abstimmung und Verständigung zu musikalischen Situationen verwendet.
Weitergehendes Material
Die AST wird herangezogen, um zu beschreiben, wie Musik funktioniert. Neben einer umfassenden Literatur gibt es Werkzeuge, die die Anwendung der AST unterstützen. Eine Reihe von Websites liefern für jeden Akkord die möglichen Skalen bzw. für jede Folge von Tönen die möglichen Skalen und Akkorde. Das Spektrum reicht von Gitarren-Grifftabellen für Akkorde und Skalen bis hin zu Software, in der mit Akkordskalen musiziert wird.
Literatur
- Richard Graf, Barrie Nettles: Die Akkord-Skalen-Theorie & Jazz-Harmonik. Advance Music, Mainz 1997, ISBN 3-89221-055-1, ISMN 979-0-2063-0298-5 (Suche im DNB-Portal).
- Frank Haunschild: Die neue Harmonielehre. Ein musikalisches Arbeitsbuch für Klassik, Rock, Pop und Jazz. Band 1. Erweiterte und überarbeitete Auflage. AMA-Verlag, Brühl 1997, ISBN 3-927190-00-4.
- Frank Sikora: Neue Jazz Harmonielehre. Verstehen – hören – spielen. Von der Theorie zur Improvisation 8. Auflage. Schott Music, Mainz 2012, ISBN 978-3-7957-5124-1 (mit 2 CDs).
Einzelnachweise
- Frank Sikora: Neue Jazz Harmonielehre. Verstehen – hören – spielen. Von der Theorie zur Improvisation 8. Auflage. Schott Music, Mainz 2012, ISBN 978-3-7957-5124-1, Seite 89
- Richard Graf, Barrie Nettles: Die Akkord-Skalen-Theorie & Jazz-Harmonik. Advance Music, Mainz 1997, ISBN 3-89221-055-1, ISMN 979-0-2063-0298-5 (Suche im DNB-Portal), Seite 17
- Frank Sikora: Neue Jazz Harmonielehre. Verstehen – hören – spielen. Von der Theorie zur Improvisation 8. Auflage. Schott Music, Mainz 2012, ISBN 978-3-7957-5124-1, Seite 93
- Frank Sikora: Neue Jazz Harmonielehre. Verstehen – hören – spielen. Von der Theorie zur Improvisation 8. Auflage. Schott Music, Mainz 2012, ISBN 978-3-7957-5124-1, Seite 90