Tritonus
Der Tritonus, gelegentlich auch Halboktave genannt, ist ein musikalisches Intervall, das drei Ganztöne umspannt.
Das Frequenzverhältnis des Tritonus ist 45/32 ≙ 590 Cent (in gleichstufiger Stimmung 600 Cent).
Beispiel 1: Tritonus f’–h′ aufwärts und abwärts:
Beispiel 2: Hier ist im ersten Akkord, dem Dominantseptakkord G H D F, das Intervall f' h' ein Tritonus.
Beispiel 3 Schluss von „Wer nur den lieben Gott lässt walten“. Hier wird dem Subdominantenakkord F-As-C noch die Sexte D (Sixte ajoutée) hinzugefügt. Der erste Akkord enthält den Tritonus as' d''.
Das Wort Tritonus setzt sich aus den altgriechischen Wörtern tri- („drei“) und tónos („Spannung“, sc. der Saite, daraus metonymisch „Ton“) zusammen. Im Lateinischen wird daraus tritonus, woraus sich der Plural Tritoni ergibt.[Anm. 1]
Obwohl der Tritonus in diatonischen Tonleitern enthalten ist, wird er als übermäßige Quarte, also als chromatische Variante der reinen Quarte aufgefasst und somit nicht zu den diatonischen Intervallen gerechnet. Streng genommen gilt die Bezeichnung Tritonus nur für die übermäßige Quarte (zum Beispiel F–H), da nur sie durch drei diatonische Ganztonschritte (F–G, G–A und A–H) darstellbar ist. Es ist jedoch üblich, auch die verminderte Quinte – das Komplementärintervall zur übermäßigen Quarte, zum Beispiel H-C-D-E-F (Halbton + Ganzton + Ganzton + Halbton) – als Tritonus zu bezeichnen, da sie in der Summe ebenfalls drei Ganztöne umfasst.[Anm. 2]
Der Tritonus wurde früher wegen der mit ihm verbundenen gesangstechnischen und harmonischen Probleme[Anm. 3] auch der Teufel in der Musik (lateinisch diabolus in musica) oder Teufelsintervall genannt.[Anm. 4]
Auflösung des Tritonus
In der europäischen Musik galt der Tritonus seit jeher als sehr instabiles Intervall, das anfangs völlig gemieden und später zumindest als unbedingt auflösungsbedürftig empfunden wurde. Diese Auflösungsbedürftigkeit sorgt dafür, dass der Tritonus einen stark dominantischen Charakter hat und seine Bestandteile als Leittöne fungieren. Die Art der Auflösung hängt davon ab, ob man den Tritonus als übermäßige Quarte oder verminderte Quinte deutet. Letztere löst sich standardmäßig „nach innen“, erstere „nach außen“ auf.
verminderte Quinte mit Auflösung
übermäßige Quarte mit Auflösung
Dabei ist die Richtung der Leittonwirkung wie beim verminderten Septakkord oft mehrdeutig bzw. leicht umkehrbar, was zur Bewerkstelligung raffinierter Modulationen ausgenutzt wurde.
Das folgende Beispiel deutet die übermäßige Quarte f′–h′ von C-Dur in die verminderte Quinte eis′–h′ von Fis-Dur um. Dabei wird f′ enharmonisch mit eis′ (in der gleichstufigen Stimmung: gleiche Frequenz) verwechselt.
übermäßige Quarte umgedeutet in eine verminderte Quinte (mit Auflösung nach Fis-Dur)
Wissenswertes
- Innerhalb der gleichstufigen Stimmung halbiert der Tritonus (= 6 Halbtöne) genau eine Oktave (= 12 Halbtöne).
- Im Quintenzirkel bilden die Grundtöne sich diametral gegenüberliegender Tonarten stets einen Tritonus (größtmögliche harmonische Distanz).
- Harmonisch gesehen kommt in jedem Dominantseptakkord ein Tritonus zwischen dem Terz- und dem Septimton vor, z. B. H–F bei G7.
- Im Jazz wird der Tritonus sehr häufig verwendet und spielt auch bei der Reharmonisierung von Musikstücken als sogenannte Tritonussubstitution eine wichtige Rolle.
- Im Blues gilt ein „schwebender“ Ton (siehe Blue Notes) zwischen Tritonus und reiner Quint als stilbildendes Intervall.
- In der Barockzeit ist der (unnatürliche) Gang einer Stimme in einen Tritonus eine Form des passus duriusculus (harter Gang). Analog dazu wird der Sprung in ein meist vermindertes Intervall (z. B. Tritonus) saltus duriusculus (harter Sprung) genannt. Solche durezze (= Härten) erklären sich oft durch die Thematik. Ein passus duriusculus steht oft für das Übertreten einer Grenze oder das Erreichen von Unmöglichem, sowie bei unerträglichen und schmerzlichen Dingen.
- In der Zigeunertonleiter, einer Variante des harmonischen Moll, ist die erhöhte vierte Stufe (Tritonus) das charakteristische Intervall.
Unterschiedliche Formen des Tritonus
In der folgenden Tabelle werden neben dem gleichstufigen Tritonus einige in der Obertonreihe natürlich vorkommende Tritonusintervalle aufgelistet:
Bezeichnung | Frequenzverhältnis | Größe in Cent |
---|---|---|
gleichstufiger Tritonus | 600,00 | |
übermäßige Quarte, diatonischer Tritonus (f–h) | 45:32 | 590,22 |
verminderte Quinte (h–f) | 64:45 | 609,78 |
verminderte Quinte (g–des) | 17:12 | 603,00 |
pythagorëische übermäßige Quarte, pythagorëischer Tritonus | 729:512 | 611,73 |
pythagorëische verminderte Quinte | 1024:729 | 588,27 |
Huygens’ Tritonus (auch BP Quarte[Anm. 5] genannt)[1] | 7:5 | 582,51 |
Eulers Tritonus[1] | 10:7 | 617,49 |
Anwendungsbeispiele
Der Tritonus kann in jeglicher Musik eingesetzt werden, die viel mit tonalen Spannungen arbeitet, da dieses Intervall stärker als viele andere nach Auflösung verlangt. Tritonushaltige Akkorde eignen sich auch besonders gut für chromatische oder enharmonische Modulationen. Oft ist der Tritonus aber auch in einer über diese alltägliche satztechnische Funktion hinausgehenden Bedeutung verwendet worden. Sein Ruf als „Teufelsintervall“ (diabolus in musica) wurde häufig genutzt, um tonsymbolisch Düsteres, Schmerzliches, Unheimliches oder Dämonisches darzustellen. Bei den meisten der folgenden charakteristischen Beispiele aus der Musikgeschichte ist dies der Fall:
- Oft bei Johann Sebastian Bach, z. B.:
- in einem Rezitativ der Matthäuspassion, das Jesu Begegnung mit einem Aussätzigen thematisiert
- Arie aus der Kantate Nr. 170 „Mir ekelt mehr zu leben“
- Das Thema der gis-Moll-Fuge aus dem Wohltemperierten Klavier Band 1
- In Vivaldis Credo RV 591, 4. Satz, auf „resurrectionem“
- In Beethovens Oper Fidelio: Paukenmotiv in der Einleitung zur Kerkerszene des 2. Aktes
- In Mendelssohn Bartholdys Elias als Fluchmotiv
- Chromatische Tritonusketten in beiden Händen in Chopins Klavieretüde op. 10,3 zur Vorbereitung des Höhepunktes. Hierbei wird die Tonalität praktisch aufgelöst.
- Als Einleitung in Liszts Après une lecture du Dante
- Beim markanten Einsatz der Solo-Violine in Saint-Saëns’ Danse Macabre op. 40; die Bedeutung im Werk ergibt sich aus dessen Titel und dem Kontext.
- Für die unheimlichen „Lockrufe“ der Hexe im Mittelteil der Hütte der Baba Jaga in Mussorgskis Bilder einer Ausstellung
- mehrmals im War Requiem von Benjamin Britten
- In Richard Wagners Oper Der fliegende Holländer im Holländer-Monolog des Vorspiels
- In Richard Wagners Musikdrama Siegfried im Vorspiel und bei Gesangspassagen des Drachen Fafner (wird nicht aufgelöst)
- Als zentrales thematisches und strukturbildendes Element in der 4. Symphonie von Jean Sibelius
- West Side Story: Maria (aufsteigender Tritonus vom 1. auf den 2. Ton des Themas)[Anm. 6]
- Im „Raptoren-Motiv“ von John Williams’ Filmmusik zu Jurassic Park
- An mehreren Stellen in der Filmmusik zu Star Trek II: Der Zorn des Khan und Star Trek III: Auf der Suche nach Mr. Spock von James Horner
- Im Abspann der Muppet Show (absteigender Tritonus vom vorletzten auf den letzten Ton)
- In der Titelmusik der Simpsons (wird dann in die Quinte aufgelöst)
- Als Einleitung in Jimi Hendrix’ Purple Haze
- Als Ostinatobegleitung des Lieds Black Sabbath von Black Sabbath
- Am Anfang des Liedes YYZ der Band Rush wird der IATA-Flughafencode des Flughafens von Toronto in Morsecode als Tritonusriff im 5/4-Takt aufgegriffen.
- Die typischen „Piggy-Chords“ der Band Voivod
- Im Lied Rockin’ All over the World von Status Quo
- Wird exzessiv von der Band Primus benutzt, wobei keine Auflösungen stattfinden, sondern ein möglichst disharmonischer Klang gesucht wird (bekanntestes Beispiel dürfte die Titelmelodie von South Park sein)
- Der experimentelle Gitarrist Buckethead macht ebenfalls häufig Gebrauch, um manche Passagen „unnatürlich“ oder „roboterhaft“ erscheinen zu lassen. Ein Teil des Solos seines Liedes Jordan besteht fast ausschließlich aus diesem Intervall.
- Im Intro des Liedes Blind von Korn.
- Die Bands Mägo de Oz (Diabolus in musica) und Linea 77 widmeten diesem Intervall sogar ganze Lieder.
- Das Album Diabolus in Musica der Thrash-Metal-Band Slayer ist nach dem Intervall benannt.
- Der Anfang der Sonate op. 1 für Klavier von Alban Berg beginnt mit einer reinen Quarte, gefolgt von einem Tritonus (g-c-fis)
- Im Intro des Stückes Liar von Emilie Autumn
- Im Hauptriff des Lieds Enter Sandman von Metallica.
- Im Hauptriff des Lieds Broken Mirrors von Rise Against
- Am Ende des Stücks Into the Fire von Deep Purple.
- Als Titelmelodie des Antagonisten G-Cis Harmonia (dessen Namen selbst ein Tritonus ist) aus Pokémon Schwarz/Weiß und Schwarz 2/Weiß 2.
- Am Anfang des Liedes Bastard von Tyler, The Creator, wo dieser ein Wortspiel, welches den Teufel betrifft, wegen der Bezeichnung als Teufelsintervall an der Stelle eines Tritonus anwendet.
- In der Filmmusik zu „Ben Hur“: Marsch durch die Wüste (Jesus reicht eine Schale Wasser)
Siehe auch
Weblinks
Anmerkungen
- In einigen Wörterbüchern wird behauptet, Tritonus existiere nur als Singular. Dem steht das zahlreiche Vorkommen der Pluralform Tritoni in der Fachliteratur entgegen, wie eine entsprechende Google-Buchsuche belegt.
- Bei gleichstufiger Stimmung sind übermäßige Quarte und verminderte Quinte mit 600 Cent gleich groß.
Anders verhält es sich in der reinen Stimmung:
Den Tritonus, die übermäßige Quarte C–Fis kann man folgendermaßen intonieren:
- Zuerst die Quinte C–G, dann einen Halbton tiefer zu C–Fis.
- Das Frequenzverhältnis ist
- Zuerst die Quarte C–F, dann einen Halbton höher zu C–Ges.
- Das Frequenzverhältnis ist
- Die Intonation der übermäßigen Quarte C–Fis erfolgt zum Beispiel über die (sich vorzustellende) Quinte (3/2) C–G und dann einen Halbton (16/15) G–Fis zurück. Die verminderte Quinte C–Ges erfolgt hingegen über die (sich vorzustellende) Quarte (4/3) C–F und dann einen Halbton (16/15) F–Ges danach.
- Übrigens hat man gelegentlich mit demselben Ausdruck auch den chromatischen Halbton h–b bezeichnet, wie z. B. Andreas Werckmeister, am Anfang des 18. Jhs.:
„Es scheinet auch, daß die Italiäner […] heutiges Tages noch mehr Zeichen wolten einführen, welche doch nirgend zu nütze seynd, insonderheit, da sie das ♮ quadratum hinsetzen, wo es seinen Locum nicht hat [… (S. 76) …] Und weil dieser Clavis ♮ dem lateinischen h nicht gar zu ungleich aussiehet, so haben die Organisten, denselben gar den Namen H zum Unterscheide des b rotundi gegeben […] da doch hierinnen ein großer Unterscheid ist, denn Mi contra fa, est diabolus in Musica: ♮-dur und B-moll ist ein großer Unterscheid.“
– Andreas Werckmeister: Musicalische Paradoxal-Discourse. Theodor Philipp Calvisius, Quedlinburg 1707, OCLC 21261004, S. 75–76 (in Fraktur, Transkription orthographisch leicht angeglichen, lateinische Buchstaben in der Transkription kursiv; Scan in der Google-Buchsuche)„Bey allen Griffen nun müssen, wie schon gesagt, die Tertiae majores und minores wohl unterschieden werden. Dann wann der Sänger oder Violist zum d das fis (so der Componist gesetzet hat) anschlägt, und der Organist wolte f nehmen, so würde eine garstige Constellation („Zusammenstimmung“ wolte ich sagen) entstehen; und dies ist eigentlich das mi contra fa, wovon die Alten gesaget, est diabolus in musica. Es haben auch etliche hiermit die Tritonos verstanden und die relationes nonharmonicas, wie solches bey den alten Autoribus kann nachgeschlagen werden.“
- Der Ausdruck BP Quarte bezieht sich auf die vierte Stufe einer diatonischen Bohlen-Pierce-Skala in reiner Stimmung (Lambda-Skala), siehe englische Wikipedia
- Darüber hinaus kommt der Tritonus an vielen anderen Stellen der West Side Story vor. Er ist sogar Bestandteil des aus Quarte und Tritonus bestehenden Leitmotivs, das oft in gepfiffener Form zu hören ist und den Konflikt der beiden rivalisierenden Jugendbanden Jets und Sharks symbolisiert. Die Quarte steht hierbei für die Sharks (vgl. z. B. den Song America), der Tritonus für die Jets (vgl. z. B. den Song Cool).
Einzelnachweise
- Liste der deutschen Intervallnamen. In: huygens-fokker.org, abgerufen am 3. November 2017.