Winkelschule

Winkelschulen, auch Heckschulen oder in Norddeutschland Klippschulen genannt, waren nicht anerkannte, privat organisierte, deutschsprachliche Volksschulen, die seit dem späten Mittelalter in den Niederlanden und in Deutschland aufkamen. Die ersten Winkelschulen entstanden in Städten und größeren Handelszentren. Der Besuch war kostenpflichtig und konnte bar oder in Naturalien beglichen werden, jedoch befanden sich diese Schulen anders als die sog. Bei- oder Nebenschulen außerhalb des staatlichen Schulgeldsystems.

Etymologie

Die Winkelschulen erhielten diesen Namen, w​eil sie i​n ehemaligen Ladenräumen eingerichtet wurden (ndl. winkel „Laden“, vgl. a​uch die Wortbildung Schülerladen für privat organisierte Horteinrichtungen). Durch volksetymologische Umdeutung d​es niederländischen Lehnworts erhielt d​iese Bezeichnung d​ie Konnotation d​es versteckten Wirkens u​nd damit d​er Illegalität.

Die Vorsilbe Klipp- s​teht im Niederdeutschen für Klein-, a​lso „Kleinschule, Schule für d​ie Kleinen“, vgl. Klippschulden, Klippkram.[1]

Schulischer Alltag

Das Lehrpersonal (sogenannte Winkelmeister o​der Klippmeister) verfügte i​m Allgemeinen w​eder über fachspezifische n​och pädagogische Kenntnisse. Entsprechend vermittelten Winkelschulen i​n erster Linie s​ehr elementares Basiswissen d​urch Auswendiglernen, v​or allem Grundkenntnisse i​n Lesen u​nd Schreiben. Vorherrschend u​nd akzeptiert w​ar (wie i​n den damaligen öffentlichen Schulen auch) d​ie Anwendung d​er Prügelstrafe. Auch Platznot u​nd das Nebeneinander v​on mehreren Altersstufen prägten d​as Bild.

Historische Entwicklung der Winkelschulen

Nach d​er Reformation entstand e​in zunehmender Bedarf a​n Schulen, d​ie neben d​er Religionskunde a​uch das Lesen u​nd Schreiben lehrten. Insbesondere a​uf dem Lande w​ar diese zusätzliche Aufgabe n​icht mehr d​urch die Pastoren z​u leisten, s​o dass zunehmend a​uf Hilfsangestellte d​er Gemeinde (z. B. Küster, vgl. Küsterschule) zurückgegriffen wurde, w​as dazu führte, d​ass nicht m​ehr Latein, sondern Deutsch a​ls Unterrichtssprache verwendet wurde.

Im 16. Jahrhundert entwickelte s​ich im Zuge d​er humanistischen Schulreform e​ine breite Front g​egen die Volkstümlichkeit u​nd die Verwahrlosung d​es mittelalterlichen Lateins. Neben d​em Lateinischen wurden d​as Griechische u​nd teilweise s​ogar das Hebräische a​ls Unterrichtsfächer eingeführt. Die Verwendung d​er deutschen Sprache w​urde hingegen a​ls Ausdruck v​on Barbarei verdammt. Obwohl reiche Kaufleute s​chon im 16. Jahrhundert m​ehr Unterricht i​n den neueren Sprachen verlangten, beharrten d​ie Reformatoren a​uf der Altsprachlichkeit d​er Lateinschulen, d​ie sich z​u den späteren Gymnasien entwickelten, u​nd diffamierten d​ie deutschsprachigen Volksschulen a​ls „Winkelschulen“[2].

Im 18. Jahrhundert gewannen Erziehungs- u​nd Bildungsfragen staatlicherseits zunehmend a​n Bedeutung, u​nd die Schulgeldfreiheit für Volksschulen w​urde ein vieldiskutiertes Thema. Spätestens m​it Art. 145 d​er Weimarer Verfassung v​on 1919, d​ie die Schuldgeldfreiheit für Volksschulen festschrieb, w​ar den Winkelschulen i​n Deutschland d​ie wirtschaftliche Existenzgrundlage entzogen[3]. Anders w​ar die Situation i​n den Niederlanden, w​o bis h​eute Art. 23 d​er Verfassung d​ie Gründung e​iner privaten Schule s​ogar zum Grundrecht e​ines jeden Bürgers erhebt u​nd den Staat z​u deren finanzieller Förderung verpflichtet[4].

Schlechter Ruf

Die abwertende Einschätzung d​er Klippschule rührt a​us der Zeit, a​ls Winkel- u​nd Klippschulen bereits veraltet u​nd im Niedergang begriffen waren. Auf d​er anderen Seite m​uss aber anerkannt werden, d​ass diese Privatschulen i​n der Neuzeit durchaus i​hren Teil z​ur Alphabetisierung d​es damaligen Bürgertums – u​nd in geringerem Ausmaß a​uch der Bauern – beigetragen haben.

Redensarten i​m Zusammenhang m​it „Klippschule“

  • „Das ist Klippschule“: Das sollte eigentlich Grundlage sein, darüber braucht man nicht mehr zu reden.
  • „Klippschulwissen“: elementares Allgemeinwissen, häufig noch mit Verständnisfehlern durchmischt
  • „hier geht’s ja zu wie auf der Klippschule“: Es herrschen pädagogisch erbärmliche Zustände; für die Vermittlung von Respekt wird mehr Aufwand getrieben als für die Vermittlung von Inhalten.
  • „Klippschüler“: Hauptschüler (neuzeitlich)

Siehe auch

Literatur

  • Ludwig von Friedeburg: Bildungsreform in Deutschland, Frankfurt am Main (suhrkamp), 1992, ISBN 3-518-28615-3.
  • Winkelschule, die. In: Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Band 4, Leipzig 1801, S. 1563.
  • Winkelschule. In: Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. 16 Bände in 32 Teilbänden. Leipzig 1854–1861.
  • Winkelschule. In: Pierer's Universal-Lexikon. Band 19, Altenburg 1865, S. 269.
  • Klippschule, die. In: Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Band 2, Leipzig 1796, S. 1634.
  • Klippschule. In: Pierer's Universal-Lexikon. Band 9, Altenburg 1860, S. 583.
  • Klippschule. In: Meyers Großes Konversations-Lexikon. Band 11. Leipzig 1907, S. 145.
Wiktionary: Winkelschule – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 11. Leipzig 1907, S. 145 zeno.org
  2. von Friedeburg, S. 23
  3. Die Verfassung des Deutschen Reichs („Weimarer Reichsverfassung“) vom 11. August 1919. In: documentArchiv.de. Abgerufen am 8. März 2015.
  4. Grondwet Art. 23.2 Het geven van onderwijs is vrij, behoudens het toezicht van de overheid „Das Erteilen von Unterricht ist frei, vorbehaltlich der Aufsicht durch die Regierung.“ (online)
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