Thomas John Barnardo
Thomas John „Tom“ Barnardo (* 4. Juli 1845 in Dublin; † 19. September 1905 in London) war ein irischer Philanthrop und Gründer und Direktor von Heimen für arme Kinder. Von der Gründung des ersten Barnardo’s-Heims 1867 bis zu seinem Tod half er mit, annähernd 60.000 Kinder aus dem Elend zu retten, zu erziehen und ihnen zu einem besseren Leben zu verhelfen.
Obwohl Barnardo sein Studium am Londoner Krankenhaus niemals abgeschlossen hatte, benutzte er den Doktortitel. Später erwarb er ein Diplom.[1]
Leben und Werk
Frühe Jahre
Barnardo war das erste von fünf Kindern (eines starb bei der Geburt) des Kürschners John Michaelis Barnardo und dessen zweiter Frau Abigail,[1] einer Engländerin, die Mitglied der Plymouth Brethren war. John Michaelis Barnardo war in den frühen 1840er-Jahren von Hamburg nach Dublin emigriert, wo er ein Geschäft eröffnete hatte. Er heiratete zweimal und wurde Vater von sieben Kindern. Die Herkunft der Familie Barnardo ist unklar; die Familie „konnte ihre Wurzeln nach Venedig zurückverfolgen, später, im 16. Jahrhundert, folgte die Konversion zur Lutherischen Kirche“, während andere von deutsch-jüdischen Wurzeln berichteten.[2]
„Dr.“ Barnardos Heime
Barnardo schrieb, dass er als kleines Kind selbstsüchtig gewesen sei, und die Meinung vertreten habe, dass alles, was nicht sein war, ihm gehören solle. Aber als er älter wurde, überwand er diese Einstellung, um stattdessen den Armen zu helfen. Barnardo zog 1866 nach London. Mit der Absicht, sich für eine medizinische Missionarstätigkeit in China zu qualifizieren, studierte Barnardo Medizin am dortigen Krankenhaus, danach schlossen sich Universitätsbesuche in Paris und Edinburgh an, wo er Mitglied des Königlichen Chirurgenkollegs von Edinburgh wurde.
Durch die evangelistische Arbeit, vor allem der Unterrichtung von Kindern in ragged schools, die von Kindern besucht wurden, denen die „Eltern abhanden gekommen waren“, erfuhr er von verlassenen Kindern. Mit einem solchen Kind hatte er eine Art Schlüsselerlebnis, weil er bis dahin nicht wusste oder glaubte, dass jemand ohne Mutter oder Vater und ohne Unterkunft existieren könne. Er adoptierte den Jungen.[3] So wurde er bald auf die große Zahl wohnungsloser und notleidender Kinder aufmerksam, die sich in den Städten Englands herumtrieben. Ermutigt durch die Unterstützung von Anthony Ashley-Cooper, 7. Earl of Shaftesbury, und Hugh Cairns, 1. Earl Cairns, gab er seine ursprüngliche Absicht, als Missionar nach China zu gehen, auf und begann das, was später sein Lebenswerk darstellen sollte: Barnardo gründete 1868 die Armenschule „Hope Place“ im Londoner East End, sein erster Ansatz, die ungefähr 30.000 mittellosen Kinder im viktorianischen London zu unterstützen.[4] Viele der Kinder waren nicht nur verarmt, sondern auch verwaist, aufgrund eines aktuellen Cholera-Ausbruchs.[5] Für diejenigen, die sich keinen Privatunterricht leisten konnten, bot die Schule eine Ausbildung an, die zwar von der Natur her ein christliches Fundament hatte, aber nicht ausschließlich auf die Religion fokussiert war,[6] und bot Unterweisung in verschiedenen üblichen Gewerben der damaligen Zeit an (beispielsweise Zeitungsbote oder Schuhputzer).[7]
1870 fühlte sich Barnardo veranlasst, ein Jungen-Waisenhaus in 18 Stepney Causeway, London zu gründen, nachdem er erfahren hatte, unter welchen Bedingungen Londons verwaiste Bevölkerung schlafen musste.[8] Dies war die erste von 122 derartigen Einrichtungen, die vor seinem Tod im Jahre 1905 gegründet wurden, und für über 8.500 Kinder sorgten.[9] Den Bewohnern wurde eine wesentliche Versorgung garantiert; Kleinkinder und jüngere Kinder wurden in ländliche Gegenden geschickt, um sie vor der industriellen Verschmutzung zu schützen, Jugendliche wurden in Fähigkeiten wie Holzhandwerk und Metallbearbeitung ausgebildet, um ihnen eine finanzielle Grundsicherung zu ermöglichen.[10]
Barnardos Heime versorgten nicht nur Jungen; 1876 wurde das „Girl's village home“ gegründet, das 1905 1.300 Mädchen betreute, die für Heimarbeit ausgebildet wurden. Eine andere Einrichtung, das Rettungsheim für Mädchen in ernster Gefahr, zielte darauf ab, Mädchen vor der zunehmenden Flut der Kinderprostitution zu bewahren.[11]
Neben den verschiedenen Heimen und Schulen gründeten Barnardo und seine Frau, Sarah Louise Elmslie, ein Strandgenesungsheim und ein Krankenhaus für Schwerkranke.
Es gab eine frühe Kontroverse um Barnardos Arbeit. Im Einzelnen wurde er beschuldigt, Kinder ohne Einverständnis ihrer Eltern entführt zu haben oder Fotografien von Kindern gefälscht zu haben, um den Unterschied zwischen der Zeit vor und nach ihrer Rettung durch Barnardos dramatischer aussehen zu lassen. Er bekannte sich offen zu ersterer dieser Anschuldigungen, indem er es als „philanthropische Entführung“ beschrieb, wobei er seine Verteidigung auf dem Gedanken aufbaute, dass der Ausgang die Mittel rechtfertige. Insgesamt wurde er in 88 Fällen angeklagt, für gewöhnlich wegen Entführung. Aber als charismatischer Redner und beliebte Persönlichkeit ging er unversehrt aus diesen Skandalen hervor. Andere Anschuldigungen, die gegen ihn vorgebracht wurden, beinhalteten das Präsentieren von gestellten Bildern von Kindern für Barnardos „Vorher und Nachher“-Karten und die Vernachlässigung der grundlegenden Hygiene der Kinder unter seiner Obhut.[12]
Barnardo und seine Frau Syrie erhielten als Hochzeitsgeschenk ein Haus in Barkingside. Dort schuf er einen 24 Hektar großen ländlichen Rückzugsbereich als Lebensmöglichkeit für verarmte Kinder, die in einer dörflichen Umgebung aufgewachsen waren.[13] Am 9. Juli 1876 eröffnete Lord Cairns das dörfliche Mädchenheim mit 12 Landhäusern offiziell. Im selben Jahr wurde eine moderne Dampfwäscherei in Betrieb genommen. Bis 1906 wuchs die Zahl der Landhäuser auf 66, die 1300 Mädchen ein Heim boten. Die Landhäuser waren auf drei Dorfanger nahe Mossford Lodge bei Barkingside, Ilford, Essex, das 1873 eröffnet wurde, verteilt. 1894 wurde eine multikonfessionelle Kinderkirche eingerichtet und aus dem dörflichen Mädchenheim war eine wirkliche „Gartenstadt“ geworden.
Im Jahr 1899 wurden die verschiedenen Institutionen und Organisationen unter dem Namen The National Association for the Reclamation of Destitute Waif Children zusammengefasst, aber die Einrichtung war stets unter ihrem landläufigen Namen Dr. Barnardo’s Homes bekannt. Barnardo legte großen Wert auf die religiöse Erziehung der Kinder unter seiner Obhut. (Schon für 1911 wird berichtet, dass dabei jedes Kind in der Konfession seiner Eltern erzogen wird. Für die religiöse Erziehung sind die Heime in zwei Abteilungen aufgeteilt, nämlich für die Kirche von England und für die Nonkonformisten; Kinder mit jüdischer oder römisch-katholischer Elternschaft werden heute, soweit möglich, der Obhut des Jewish Board of Guardians in London bzw. römisch-katholischen Institutionen übergeben.)
1877 war Barnardo Hausarzt am Smedley-Hydro-Hotel in Southport. Er eröffnete außerdem eine Kinderschule in Birkdale, während er in Southport lebte.[14]
Ab November 1889 war Barnardo Mitglied der Freimaurerloge Shadwell Clerke Lodge No. 1910[15][16] und außerdem Mitglied des Orange Order in Dublin.[17]
Ehe und Familie
Im Juni 1873 heiratete Barnardo Sarah Louise Elmslie (1842–1944), bekannt unter dem Namen Syrie, die Tochter von William Elmslie, einem Versicherungsagenten für Lloyd’s of London, der sich auch karitativ betätigte. Syrie teilte das Interesse ihres Mannes an evangelistischer und sozialer Arbeit. Das Paar ließ sich bei Mossford Lodge, Essex, nieder, wo sie sieben Kinder bekamen; drei davon starben früh.
Das Familienleben mit seinem einerseits sehr religiösen und philanthropischen, andererseits wohlhabenden Hintergrund wies einige Besonderheiten auf. So lasen sie gemeinsam die Bibel, und es war den Kindern u. a. verboten, ins Theater zu gehen.
Ihr drittes Kind, die älteste Tochter Gwendolyn Maud Syrie (1879–1955), ebenso wie ihre Mutter unter dem Namen Syrie bekannt, entzog sich 1901 ihrer religiösen Familie und heiratete den wohlhabenden Geschäftsmann Henry Wellcome, später den Autor William Somerset Maugham und wurde eine prominente Londoner Innenausstatterin der 1920er and 1930er Jahre.[18][19]
Ein anderes Kind, Marjorie, war anscheinend geistig behindert; möglicherweise handelte es sich bei der Behinderung um das Down-Syndrom, Einzelheiten sind aber unbekannt.[20]
Als „Jack the Ripper“ verdächtigt
Während der Whitechapel-Morde wurden wegen der angenommenen medizinischen Kenntnisse Jack the Rippers verschiedene Ärzte in der Gegend verdächtigt. Auch Barnardo wurde ab 1970 als möglicher Verdächtiger genannt. Der „Ripperologe“ Gary Rowlands theoretisierte später, dass Barnardo aufgrund seiner einsamen Kindheit Wut empfunden hätte, die ihn dazu verleitet hätte, Prostituierte zu ermorden. Allerdings gibt es nicht den geringsten Beweis, dass er die Morde begangen hat.[21] Kritiker wiesen überdies darauf hin, dass sein Alter und Erscheinungsbild zu keiner der Beschreibungen des Ripper passten.[22]
Tod
Thomas John Barnardo starb im Alter von 60 Jahren an Angina Pectoris[23] und wurde vor dem Cairns House, Barkingside, in Essex beigesetzt. Das Haus wurde später zum Hauptquartier der Kinderfürsorge Barnardo’s, die er gegründet hatte.[13][24]
Vermächtnis
Nach Barnardos Tod wurde eine nationale Gedenkstiftung im Wert von £250.000 ins Leben gerufen, um die verschiedenen Einrichtungen liquide zu halten und das Gesamtwerk auf eine finanziell dauerhaft gesicherte Basis stellen zu können. William Baker, der frühere Vorsitzende des Rates, wurde als Ehrenvorsitzender zum Nachfolger des Heimgründers gewählt. Barnardo war Autor von 192 Büchern, die sich mit der karitativen Arbeit befassten, der er sein Leben gewidmet hatte.
Von der Gründung der Heime 1870 bis zu Barnardos Tod wurden annähernd 60.000 Kinder aufgenommen, die meisten ausgebildet und danach entlassen. Zum Zeitpunkt seines Todes sorgte Barnardos Hilfsorganisation für über 8.500 Kinder in 96 Heimen. Seine Arbeit wurde von seinen vielen Anhängern unter dem Namen „Dr Barnardo's Homes“ weitergeführt.[25] Gesellschaftlichen Veränderungen in der Mitte des 20. Jahrhunderts folgend, verlegte die Wohltätigkeitsorganisation ihren Schwerpunkt von der direkten Fürsorge für Kinder auf Pflegeunterbringung und Adoption, wobei sie sich in „Dr Barnardo's“ umbenannte. Nach der Schließung ihres letzten traditionellen Waisenhauses im Jahre 1989 nahm sie den einfacheren Namen „Barnardo's“ an. Das offizielle Maskottchen von Barnardo's ist ein Bär namens Barney. Königin Elisabeth II. war von 1983 bis 2016 Schirmherrin von Barnardo's, bis sie die Aufgabe der Herzogin von Cornwall übertrug.
Hauptgeschäftsführer ist Javet Khan.[26] Barnardos war in den Skandal um erzwungene Kindermigration verwickelt, in dem Kinder mit schlechtem sozialen Hintergrund von Kirchen und Wohltätigkeitsorganisationen in die früheren Kolonien (Australien, Neuseeland, Kanada, Südafrika) verbracht wurden, ohne Zustimmung ihrer Eltern und sogar mit falschen Todeserklärungen. Obwohl es sich um eine legale Vorgehensweise handelte, unterstützt von Regierung und Gesellschaft, litten die Kinder in vielen Fällen unter harten Lebensbedingungen und viele wurden Opfer von körperlichem und, in manchen Fällen, sexuellem Missbrauch. Diese Vorgehensweise setzte sich bis in die 1970er Jahre fort. Dies führte zu einer öffentlichen Entschuldigung von Premierminister Gordon Brown im Jahre 2010.[27]
Gedenktag
Siehe auch
Literatur
- Hugh Chisholm (Hrsg.): Barnardo, Thomas John in: Encyclopædia Britannica 3 (11th ed.), Cambridge University Press, 1911, S. 411
Weblinks
Einzelnachweise
- Oxford Dictionary of National Biography
- Samuel J. Rogal: Barnardo, John Michaelis. In: A William Somerset Maugham encyclopedia. Greenwood Publishing Group, 1997, ISBN 978-0-313-29916-2 (Abgerufen am 23. Oktober 2011).
- Der Vater der Niemands-Kinder. Dr. Barnardo (Fortsetzung nächste Seite unten), in: Berliner Tageblatt, 23. September 1905.
- Cook, R. 'Tom, Jim, & Harry… and the law', Triple Helix, Sommer 1998, S. 6–7
- The life of Thomas Barnardo. In: Barnardo's.
- Simkin, J.: Thomas Barnardo, Spartacus Educational, 1997, abgerufen 28. Februar 2015, Link: spartacus-educational.com.
- Ramsland, J.: "Neil J. Smelser. Social Parlalysis and Social Change: British Working-Class Education in the Nineteenth Century", History of Education Quarterly, Band 34, Nr. 1, 1994, S. 89, abgerufen 17. März 2015, JSTOR database.
- G. Wagner: Barnardo, Thomas John (1845-1905), Oxford Dictionary of National Biography, Oxford, 2004; online-Ausgabe, 2010, abgerufen 3. März 2015, Link: oxforddnb.com.
- Rogal, S.: A William Somerset Maugham encyclopedia, S.V Maugham, Gwendolyn Maude Syrie Barnardo
- A. Alford & J. Brock: Bearded Gospel Men: The Epic Quest for Manliness and Godliness, W Publishing Group, Nashville, TN, 2017, S. 210
- R. Praszkier & A. Nowak: Social Entrepreneurship: Theory and Practice, Cambridge University Press, New York, 2012, S. 171.
- Mark Oliver: The echoes of Barnardo's altered imagery. In: The Guardian, 3. Oktober 2002.
- Sara Wrightman: The birthplace of Barnardo’s. In: Essex Life, Archant, Juni 2008, S. 88–89. Archiviert vom Original am 25. Juli 2011. Abgerufen am 3. Februar 2009.
- Danielle Manning: Heritage Open Days offer an insight into the history of Smedley Hydro. In: Southport Visiter, 8. Oktober 2010. Abgerufen am 24. Oktober 2011.
- Yasha Beresiner: Thomas Barnardo - "The Doctor" and Freemason (Memento vom 29. Juli 2014 im Internet Archive)
- Dr T. J. Barnardo (unter „Charity“) (Memento vom 21. August 2013 im Internet Archive), Homepage: United Grand Lodge of England (Abgerufen am 23. Februar 2017)
- F.A.Q.’s. Dublin and Wicklow Loyal Orange Lodge 1313. 2010. Archiviert vom Original am September 2010. Abgerufen am 26. Oktober 2011.
- Samuel J. Rogal: Maugham, Gwendolyn Maude Syrie Barnardo. In: A William Somerset Maugham encyclopedia. Greenwood Publishing Group, 1997, ISBN 978-0-313-29916-2, S. 160–163 (Abgerufen am 23. Oktober 2011).
- Philip Hoare: Syrie Maugham auf oxforddnb.com, Abruf am 16. September 2013.
- Samuel J. Rogal: Barnardo, Sara Louise (Syrie) Elmslie. In: A William Somerset Maugham encyclopedia. Greenwood Publishing Group, 1997, ISBN 978-0-313-29916-2, S. 5 (Abgerufen am 23. Oktober 2011).
- Dr. Thomas Barnardo. Casebook. Abgerufen am 17. Dezember 2014.
- John J. Eddleston: Jack the Ripper: An Encyclopedia, ABC-CLIO 2001, S. 197, ISBN 1-57607-414-5.
- The Public Funeral. In: The Goldonian Web. Goldings The William Baker Memorial Technical School for Boys. 2003. Abgerufen am 26. Oktober 2011.
- Sara Wrightman: The birthplace of Barnardo's. In: Essex Life, Archant, Juni 2008, S. 88–89. Abgerufen am 3. Februar 2009.
- The history of Barnardo’s. Barnardo’s. 2011. Abgerufen am 27. Oktober 2011.
- Clare Jerrom: Martin Narey interview, Communitycare.co.uk, Januar 2006. Communitycare.co.uk. Archiviert vom Original am 8. September 2012. Abgerufen am 11. Juni 2010.
- The Guardian, 27. Februar 2017