Telefunkenwerk Hannover
Das Telefunkenwerk Hannover war Mitte der 1970er Jahre in Hannover der zweitgrößte Betrieb der Metallindustrie mit fast 5000 Beschäftigten. Das Werk war Hauptsitz der Telefunken Fernseh und Rundfunk GmbH, Hannover, einer Tochtergesellschaft des Konzerns AEG Telefunken AG. Nach der Erfindung von PAL für das Farbfernsehen und der anschließenden Einführung in Deutschland im Jahr 1967 war Telefunken Marktführer bei Farbfernsehgeräten. Ab 1979 wurden die Arbeitsplätze in Hannover schrittweise abgebaut; die letzte Produktionshalle wurde 1993 geschlossen.
Entstehungsgeschichte
Die Geschichte des Telefunkenwerks Hannover geht auf die Firma Erich F. Huth Apparatebau GmbH zurück, die 1940 ein neues Produktionsgebäude an der Göttinger Chaussee 76 errichtete. Der Betrieb war eine Gesellschaft, die zu gleichen Teilen den Firmen Telefunken und C. Lorenz gehörte. Die ca. 600 Beschäftigten produzierten Sende-, Empfangs- und Ortungsanlagen für Flugzeuge und Panzer. Bei Firma Huth wurden ausschließlich Rüstungsgüter produziert. In den 1940er Jahre wurden zahlreiche Zwangsarbeiter aus Polen und der Sowjetunion eingesetzt. Huth war bekannt für seine fachlich herausragende Lehrlingsausbildung. Das Werk wurde im Krieg nicht zerstört, nach 1945 als Rüstungsbetrieb entflochten und die Produktion umgestellt. Am 22. Juli 1946 bekamen die Firmen Telefunken und C. Lorenz (ein Rundfunkunternehmen, das später in der Standard Elektrik Lorenz aufging) je eine Hälfte der Produktionsstätten an der Göttinger Chaussee zugesprochen.[1] Während die Firma Lorenz ihre Produktion 1952 nach Pforzheim verlagerte, baute Telefunken das Werk in Hannover systematisch aus. Schwerpunkte der Produktion waren Rundfunkgeräte und ab 1951 Fernsehgeräte. 1967 erfolge die Fusion der Firmen AEG und Telefunken zur AEG-Telefunken AG. 1976 wurde die Produktion von Fernseh- und Rundfunkgeräten in der Telefunken Fernseh und Rundfunk GmbH zusammengefasst, die eine 100-prozentige Tochtergesellschaft der AEG-Telefunken AG war.
Hochphase der Farbfernsehproduktion in Hannover
Neben der Produktion von Rundfunk- und Fernsehgeräten war in Hannover das Forschungs- und Entwicklungslabor von Telefunken angesiedelt. Leiter war Walter Bruch. Unter seiner Leitung wurde mit der Fernsehnorm PAL ein System für das Farbfernsehen entwickelt und 1962 zum Patent angemeldet. 1967 wurde das PAL-System in Deutschland eingeführt und Telefunken begann in den Werken Hannover und Celle mit der Massenproduktion von Farbfernsehgeräten. Telefunken war zusammen mit Grundig Marktführer in diesem Segment. Mitte der 1960er Jahre wurde das Werk 2 in Hannover-Bornum erbaut. Die Belegschaft nahm ständig zu und erreichte 1978 mit 4.803 Beschäftigten den Höchststand.[2] Damit war Telefunken nach dem Volkswagenwerk in Hannover-Stöcken der zweitgrößte Metallbetrieb in Hannover. Von 1972 bis 1989 war Lucie Hupe[3][4] Betriebsratsvorsitzende, eine der ganz wenigen Frauen, die in den 1970er Jahren Betriebsratsvorsitzende eines Großbetriebes der Metallindustrie waren.
Die Telefunken Fernseh und Rundfunk GmbH hatte neben dem Werk in Hannover Produktionsstandorte in Braunschweig, Berlin, Celle und in Mexiko. In Hannover war die Firmenzentrale, das Forschungs- und Entwicklungslabor und die Fertigung von Rundfunk- und Fernsehgeräten, einschließlich der Komponenten angesiedelt. In Hannover wurden Endgeräte, aber auch Komponenten wie Leiterplatten, Ablenkspulen für Bildröhren, Kabel, Steckverbindungen und Kunststoffteile gefertigt. Der Frauenanteil im Betrieb betrug ca. 60 %. An Fließbändern wurden ausschließlich von Frauen die Leiterplatten in händischer Arbeit mit elektronischen Bauelementen wie Transistoren, Dioden, Kondensatoren und Widerständen bestückt, bevor sie am Ende des Fließbandes über eine Lötwelle liefen. Diese Arbeit war monoton und belastend, da unter anderem bleihaltiges Lötzinn eingesetzt wurde. Die Fließbänder wurden auf der Basis von Vorgabezeiten ausgetaktet und die Entlohnung erfolgte im Akkord.[5] Die Kolleginnen waren in den unteren Lohngruppen eingruppiert. Im Jahr 1978 verdienten sie beispielsweise in der Lohngruppe 2 bei einem Akkordverdienst von 125 % 8,60 DM pro Stunde, was bei einer 40-Stunden-Woche etwa 1.500 D-Mark pro Monat entsprach. Ende der 1970 er Jahre wurden die ersten Bestückungsautomaten eingesetzt.
Pro Jahr wurden mehrere Hunderttausende von Farbfernsehgeräte und HiFi-Anlagen in zahlreichen Varianten und Länderversionen produziert. Die Fertigungsplanung erfolgte durch eine Arbeitsvorbereitung mit mehr als 100 Beschäftigten. Die Planung lief sowohl manuell als auch offline über eine zentrale EDV-Anlage.
Niedergang von Telefunken in Hannover (1979 bis 1993)
Das Ende von Telefunken in Hannover ist im Zusammenhang mit dem Niedergang der deutschen Unterhaltungsindustrie in der Zeit von ca. 1979 bis in die Mitte der 1990er Jahre zu sehen. Diesen Prozess überlebten auch zahlreiche andere deutsche Firmen, wie Grundig, Blaupunkt, Nordmende und SABA, nicht. Insbesondere ostasiatische und japanische Firmen setzen zu einer Offensive gegen die deutsche und europäische Unterhaltungsindustrie an. Mit Innovationen und niedrigen Produktionskosten gelang es ihnen ständig Marktanteile zu gewinnen. Dem hatte die deutsche und europäische Unterhaltungselektronik keine Strategie entgegenzusetzen.[3]
Der Innovationsvorsprung von Telefunken durch die Erfindung und Vermarktung des PAL-Farbfernsehsystems war innerhalb weniger Jahre dahin geschmolzen. 1979 begann der Niedergang von Telefunken in Hannover. Zunächst wurde 1979 das Werk 2 in Hannover-Bornum geschlossen. Der Betriebsrat wurde nur wenige Stunden vor der Öffentlichkeit informiert. Die Betriebsratsvorsitzende Lucie Hupe erklärte: „Uns blieb keine Zeit mehr, die Belegschaft zu informieren. .... Für den Betriebsrat haben die Verhandlungen erst begonnen. Für uns ist noch nichts entschieden.“ [6] Gegen die Schließung des Werkes 2 protestierten Betriebsrat, IG Metall und die Belegschaft. Es kam zu mehreren Protestaktionen im Anschluss an Betriebsversammlungen. Höhepunkt war eine Demonstration um den Ricklinger-Kreisel in Hannover, den sogenannten Telefunken-Kreisel. Das Transparent der Belegschaft „Telefunken darf nicht sterben“ wurde legendär. Letztlich konnte die Schließung des Werkes 2 und der Arbeitsplatzabbau nicht verhindert werden, sondern lediglich durch einen Sozialplan „abgefedert“ werden.
In den folgenden Jahren wurde durch Rationalisierungsmaßnahmen und Produktionsverlagerungen die Zahl der Arbeitsplätze systematisch reduziert: Von 4803 Beschäftigten im Jahr 1978 auf 2733 Beschäftigte im Jahr 1981. Die Muttergesellschaft von Telefunken, die AEG-Telefunken AG, meldete 1982 Insolvenz an. In diesem Zusammenhang ist der Verkauf der Telefunken Fernseh und Rundfunk GmbH an den französischen Thomson-Brandt-Konzern im Jahr 1983 zu sehen. Dieser Verkauf erfolgte für die Arbeitnehmerseite plötzlich und unerwartet. Die Betriebsräte, die IG Metall und die Belegschaft wurden vor vollendete Tatsachen gestellt. Aus Protest gegen diese Unternehmenspolitik von Thomson-Brandt traten im Oktober 1984 der Vorstandsvorsitzende von Telefunken, Josef Stoffels und alle Vorstandsmitglieder zurück – ein in der deutschen Industriegeschichte einmaliger Vorgang. Stoffels erklärte in einem Interview in der Neuen Presse: „Das Werk in Hannover wird zu einer Geisterfabrik. Schon vor vier Jahren war mir klar, dass die Franzosen planen, deutsche Standorte zu schließen. Ich sehe mich nicht gern bestätigt, denn es geht um das Schicksal hunderter Arbeitnehmer. Ich habe damals gesagt, dass ich Telefunken nicht beerdigen will“[7].
Nachfolger von Josef Stoffels wurde der französische Manager Bernard Gilliot, der den Arbeitsplatzabbau weiter forcierte, wogegen es 1986 zu mehreren Protestaktionen der Belegschaft kam, so z. B. im Juni 1986. Der Thomson-Brandt-Konzern kaufte neben Telefunken mehrere deutsche Unternehmen der Unterhaltungselektronik auf, wie z. B. Nordmende, Dual und SABA. Die Produktionswerke wurden 1987 zur EWD GmbH (EWD= Elektronikwerke Nord) zusammengefasst und gehörten zur neu gegründeten Tochtergesellschaft NEWEK GmbH. Im Laufe der Jahre schloss Thomson-Brandt mehrere Standorte in Deutschland, während die französischen Standorte zunächst erhalten blieben. Die letzte Demonstration gegen den Arbeitsplatzabbau fand im Januar 1988 statt, da von den verbliebenen 782 Arbeitsplätzen weitere 300 abgebaut werden sollten. Zunächst blieb lediglich die Kunststofffertigung in Hannover mit ca. 250 Beschäftigten bestehen, die 1993 auch geschlossen wurde. Innerhalb von 15 Jahren wurde die Belegschaft von Telefunken von fast 5000 Beschäftigten auf Null reduziert.
Literatur
- Elke Oberheide und Arbeitskreis Telefunken: Kalender von Kollegen für Kollegen, Telefunken – Stationen eines Industriestandortes, hrsg. von der Landeshauptstadt Hannover, Freizeitheim Ricklingen, Hannover, 1991
- IG Metall Hannover: Streiten und gestalten – Die IG Metall Hannover von 1945 bis 2010, Hamburg 2021, ISBN 978-3-96488-107-6, S. 166–171, 206–207
Weblinks
Einzelnachweise
- Elke Oberheide und Arbeitskreis Telefunken: Kalender von Kollegen für Kollegen. Telefunken - Stationen eines Industriestandortes. Hrsg.: Landeshauptstadt Hannover, Freizeitheim Ricklingen. Hannover 1991.
- Elke Obereide nd Arbeitskreis Telefunken: Kalender von Kollegen für Kollegen. Telefunken - Stationen eines Industriestandortes. Hrsg.: Landeshauptstadt Hannover, Freizeitheim Ricklingen. Hannover 1991.
- IG Metall Hannover: Streiten und gestalten - Die IG Metall von 1945 bis 2010. VSA Verlag, Hamburg 2021, ISBN 978-3-96488-107-6, S. 169 bis 170.
- Gundolf Algermissen: Gesprächsprotokolle mit Lucie Hupe. Deutscher Gewerkschaftsbund, 2008, abgerufen am 17. Januar 2022.
- IG Metall Hannover: Streiten und gestalten - Die IG Metall Hannover von 1945 bis 2010. VSA Verlag, Hamburg 2021, ISBN 978-3-96488-107-6, S. 166–171.
- Hannoversche Allgemeine Zeitung: Telefunken will Werk II bis Mitte 1980 schließen - Die Mitarbeiter gingen ahnungslos ins Wochenende. Hannover 10. November 1979.
- Gundolf Algermissen: Gesprächsprotokolle mit Lucie Hupe. Deutscher Gewerkschaftsbund, 2008, abgerufen am 17. Januar 2021.