Technisches Fachwerk
Technisches Fachwerk (auch Technizistisches Fachwerk) ist eine weit verbreitete Variante der Holzfachwerk-Architektur im 19. Jahrhundert, die sich durch Rasterfachwerk, gefaste Hölzer und zurückliegende Sichtziegelgefache auszeichnet.
Merkmale
Technisches Fachwerk weist folgende strukturelle, konstruktive und gestalterische Besonderheiten auf:
- Verwendung von Rasterfachwerk, das durch fenster- oder geschoßhohe Andreaskreuze in Reihung gegliedert ist. Alle Hölzer sind relativ dünn und in gleicher Breite zugeschnitten wie bei industriell vorfertigten Produkten. Es gibt keine geschweiften Streben und fast nie gebogene Hölzer.
- Die Kanten aller Hölzer sind an den sichtbaren Seiten abgefast. Jede Fase läuft einige Zentimeter vor den Verbindungsstellen aus, so dass die konstruktiv besonders belasteten Knotenpunkte des Fachwerks breiter wirken und also optisch betont werden. Die Art und Ausbildung der Fasen ist bei allen Hölzern gleich.
- Die Gefache treten gegenüber der Holzkonstruktion um ein bis zwei Zentimeter zurück, sie liegen also nicht wie beim traditionellen Fachwerkbau bündig mit den Hölzern.
- Durch das Zusammenspiel von Abfasungen und vertieften Gefachen entsteht eine Reliefwirkung und gestaltwirksame Differenzierung des Fachwerks zwischen tragenden Bauteilen (Hölzern) und Füllmaterial (Gefachen).
- Die Gefache sind üblicherweise mit Sichtziegelmauerwerk ausgemauert und sind nicht verputzt, oftmals aber nachträglich geschlämmt. Teilweise wurde eine Dekoration mit farbigen Zierziegelverbänden ausgeführt.
Begriff und Geschichte
Technisches Fachwerk kennt keine historischen Vorbilder, sein Aussehen wird durch eine gewollt neuartige „technizistische Wirkung“[1] bestimmt. Dabei „erfuhr die Holzkonstruktion eine ästhetische Aufwertung, die sich zur reinen Dekoration verselbständigen“[1] konnte. Es ist nicht bekannt, dass bereits die zeitgenössischen Architekten und Zimmerleute des 19. Jahrhunderts eine Bezeichnung für diese auffällige Gestaltungs- und Konstruktionsweise des Fachwerks verwendeten. Den Begriff Technisches Fachwerk führte erst 1981 die Marburger Arbeitsgruppe für Dokumentation in die Disziplinen der Baugeschichte und Hausforschung ein.[1] Gelegentlich ist seitdem auch der Begriff Technizistisches Fachwerk verwendet worden.[1][2]
Das älteste bekannte Gebäude in Technischem Fachwerk ist die von Architekt Hugo Ritgen entworfene und 1833–34 erbaute Leichenhalle auf dem Gießener Friedhof.[3] Weitere frühe Bauten entstanden ab den 1830er Jahren als Villen und Nebengebäude in Darmstadt und Berlin, teilweise auch im Schweizerhausstil.[4] Die Bauweise ist ab den 1840er Jahren auch durch musterhafte Entwurfsveröffentlichungen[5] verbreitet worden.
Den zahlenmäßigen Höhepunkt erfuhr die Verwendung des Technischen Fachwerks in den 1880er und 1890er Jahren für Bauaufgaben der verschiedensten Art – von der repräsentativen Villa bis zum Gartenhaus, von der Kirche bis zum Bahnhofs-Empfangsgebäude. Die Verwendung endete bald nach der Jahrhundertwende um 1900, gleichzeitig mit dem allgemeinen Rückgang des Fachwerkbaus.
- Kapelle auf dem Alten Friedhof Gießen, Fachwerk-Obergeschoß in Technischem Fachwerk von Architekt Hugo Ritgen, 1840
- Berlin, Wirtschaftsgebäude der Villa von der Heydt, Architekt Hermann Ende (Architektonisches Skizzenbuch, 1863, Heft V, Blatt 1)
- Bahnhof Immelborn, Architekt Hermann Weise (Architektonisches Skizzenbuch, 1865, Heft 50, Tafel 5)
- Alter Bahnhof in Germersheim, erbaut 1864 (Aufnahme 2015)
- Osterode am Harz, Wohnhaus Martin-Luther-Platz 6, erbaut 1882 (Aufnahme 2017)
- Osterode am Harz, Wohnhaus Dörgestraße 8, erbaut um 1885 (Aufnahme 2020)
Denkmalpflege
Das feine gestalterische Zusammenspiel des Fassadenreliefs von Technischem Fachwerk wird bei Fassadensanierungen oft beeinträchtigt. Verbreitet ist ein Weglassen der charakteristischen Fasen bei Ersatzhölzern, ein Überstreichen, Schlämmen oder Überputzen der Sichtziegelgefache oder bei Neuausfachungen ein bündiges Einbauen der Ersatzgefache.
Literatur
- Michael Imhof: Historistisches Fachwerk. Zur Architekturgeschichte im 19. Jahrhundert in Deutschland, Großbritannien (Old English Style), Frankreich, Österreich, der Schweiz und den USA. Bayerische Verlagsanstalt, Bamberg 1996, ISBN 3-87052-796-X, S. 210–212. (Kapitel „Technisches“ Fachwerk)
Einzelnachweise
- Marburger Arbeitsgruppe für Dokumentation (Eckehard Deichsel, Gabi Dolff, Dieter Mayr-Gürr, Ulla Merle, Loeto Moritz, Angela Schumacher, Christiane Spengler): Stadt Marburg, Gesamtdokumentatuon, II. Bürgerhäuser der Altstadt: Katalog. Studien zur baulichen Entwicklung Marburgs im 19. Jahrhundert. Jonas Verlag, Marburg 1981, S. 52 f.
- Jochen Georg Güntzel: Zur Wiederbelebung des Holzbaus um 1900 in Lippe. In: Historismus in Lippe. Jonas Verlag, Marburg 1994 (= Materialien zur Kunst- und Kulturgeschichte in Nord- und Westdeutschland, Bd. 9), ISBN 3-89445-165-3, S. 185–210, hier S. 189 ff.
- Imhof: Historistisches Fachwerk, 1996, S. 211.
- Imhof: Historistisches Fachwerk, 1996, S. 211 f.
- Vgl. die Beispiele bei Imhof: Historistisches Fachwerk, 1996, S. 210–214.