Sonnensprachtheorie
Die Sonnensprachtheorie (Türkisch: Güneş Dil Teorisi) war ein pseudowissenschaftliches sprachpsychologisches Konstrukt, dem zufolge der „Urmensch“ der „türkischen Rasse“ angehörte. Aus dessen Urlauten soll sich das Prototürkische als Ursprung aller Sprachen entwickelt haben. Die Sonnensprachtheorie wurde seit 1935 in der Türkei propagiert und galt in den Jahren 1936 bis 1938 als Staatsdoktrin. Sie bildete den Anfang und das Ende der extremen Phase der türkischen Sprachreformen.[1]
Ursprung der Sonnensprachtheorie
Die Sonnensprachtheorie geht auf den serbischen Gelehrten Hermann Feodor Kvergić (1895–1948/49) zurück, der 1927 in Wien promoviert wurde.[2] Dieser hatte in einer unveröffentlichten Schrift Die Psychologie einiger Elemente der türkischen Sprache die Behauptung aufgestellt, Türkisch sei die Mutter aller Sprachen. Das Erstaunen des frühzeitlichen Menschen über die Sonne habe zu bestimmten Urlauten geführt. Im Türkischen meinte Kvergić diese Laute lokalisieren zu können. Nach dieser Theorie gingen alle Sprachen der Welt auf das „Prototürkische“ des „Urmenschen“ zurück.[2][1]
Politik Atatürks
Umstritten ist, ob Mustafa Kemal Atatürk an die Sonnensprachtheorie glaubte oder sie als Maßnahme zum Beenden des von der Türk Dil Kurumu geführten Sprachpurismus einsetzte.[2]
Vermutlich wurde die Sonnensprachtheorie angenommen, weil Atatürk mit den Sprachreformen und den von der Türk Dil Kurumu gemachten Bestrebungen zum Sprachpurismus nicht ganz zufrieden war. Nahm man Türkisch als Mutter aller Sprachen an, mussten arabische und persische Wörter nicht länger durch türkische Wörter ersetzt werden, da der Theorie nach die Wurzel dieser Sprachen ohnehin Türkisch war.[2]
Auf Initiative von Atatürk wurde die Sonnensprachtheorie von 1936 bis 1938 als Pflichtfach an der Sprachwissenschaftlichen Fakultät der Universität Ankara gelehrt. In der Folge entwickelte man groteske Etymologien,[3] die diese Theorie untermauern sollten. Ferner diente die Sonnensprachtheorie zur linguistischen Absicherung der Türkischen Geschichtsthese (Türk Tarih Tezi), der zufolge die Hochkulturen der Hethiter und Sumerer auf die Einwanderung turkstämmiger Volksgruppen zurückzuführen seien. Die Geschichtsthese wurde nach Atatürks Tod 1938 allmählich aufgegeben, die Sonnensprachtheorie sehr plötzlich fallengelassen.[1]
Literatur
- Uriel Heyd: Language Reform in Modern Turkey. Jerusalem 1954.
- Klaus Kreiser: Kleines Türkei-Lexikon. München 1992, S. 134
- Jens Peter Laut: Das Türkische als Ursprache? Sprachwissenschaftliche Theorien in der Zeit des erwachenden türkischen Nationalismus. Wiesbaden 2000.
- Jens Peter Laut: Chronologie wichtiger Ereignisse im Verlauf der türkischen Sprachreform. Von den Anfängen bis 1983. In: Materialia Turcica 24 (2003), S. 69–102.
- Geoffrey L. Lewis: Turkish Language Reform: The Episode of the Sun-Language Theory. In: Turkic Languages 1 (1997), S. 25–40.
- Geoffrey L. Lewis: The Turkish Language Reform. A Catastrophic Success. Oxford 1999.
- Karl Steuerwald: Untersuchungen zur türkischen Sprache der Gegenwart. Teil I. Die Türkische Sprachpolitik seit 1928. Berlin-Schöneberg 1963.
- Ayşe Tetik: Der sowjetische Linguist N. Ja. Marr und die türkische Sonnensprachtheorie. In: Archivum Ottomanicum 20 (2002), S. 231–267.
- Türk Dil Kurumu [Türkische Sprachgesellschaft]: Ücüncü Türk Dil Kurultayi 1936 [Der 3. Türk. Sprachkongreß 1936]. Istanbul 1937.
Weblinks
- Jens Peter Laut: Noch einmal zu Dr. Kvergić (PDF-Datei; 604 kB)
- Türkischer Originaltext mit den Ergebnissen des III. Türkischen Sprachkongresses 1936 mit beiliegender französischer Übersetzung (PDF-Datei; 158 kB)
- Historischer Schriftwechsel zur Sonnensprachtheorie in türkischer Sprache
- Geoffrey L. Lewis zur Sonnensprachtheorie (englisch)
- Arkadiusz Christoph Blaszczyk: Von Duchińszczyzna bis Sonnensprachtheorie. Über die Verflechtungen zwischen polnischem Anti-Russismus und türkischem Nationalismus
Referenzen
- Klaus Kreiser, Christoph K. Neumann Kleine Geschichte der Türkei, S. 28–29, S. 418.
- Lars Johanson The Turkic Languages, S. 244.
- Klaus Kreiser: Kleines Türkei-Lexikon. München 1992, S. 134.